Yara schlitterte mit zusammengebissenen Zähnen über die verschneite Straße, während sie Mühe hatte, ihre Wut unter Kontrolle zu halten. Claire hatte herausgefunden, dass es nachgewiesene Handelsbeziehungen zwischen Alcatex International und Tekknotron Ltd. gab, einem panamaischen Unternehmen, dessen Geschäftsführer Beziehungen zur Al Khana-Front pflegte. Yaras Hinweis, den Namen dieser Firma auf der Gala aus dem Mund von Ali Haddad gehört zu haben und die von Claire gefundene Verbindung zur Muslimpartei, hatten die Datenspezialistin motiviert, tiefer zu graben. Bis sie Yaras Vater als einen von zwei stillen Teilhabern des Unternehmens identifizieren konnte. Malik Bukhari hielt fünfzig Prozent der Anteile. Er teilte sich das Eigentum an der Firma mit einem unbekannten Eigner im Hintergrund, den Claire bis jetzt nicht hatte offenlegen können. Aber was Yara so wütend machte, war die Tatsache, dass Tekknotron geschäftliche Beziehungen zu Biophol unterhielt und damit die lange gesuchte Verbindung zwischen dem chinesischen Militärkonzern und dem deutschen Giganten
darstellte. Eine Kausalität, die durch ein fast undurchdringbares Netz aus Tochterunternehmen, Briefkastenfirmen und Karteileichen geschützt wurde. Allerdings war Claire zu brillant, um sich durch dieses Ablenkungsmanöver in die Irre führen zu lassen. Sie hatte die Verbindung gefunden und die Beweise gesichert. Eine Anweisung Yaras würde genügen, um die Daten publik zu machen. Die unabhängigen Medien Richthofens würden sich wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe auf die Informationen stürzen, und Yara hätte sie ihnen auch ohne zu zögern zum Fraß vorgeworfen, wenn sie damit nicht ihrem Vater und dessen Unternehmen massiv geschadet hätte. Yara hasste ihren alten Herrn im Moment wie niemals zuvor in ihrem Leben, aber das würde sich wieder legen, und sie war nicht bereit, ihn und ihre Familie für das Harvest-Programm zu opfern. Und das, obwohl sie immer zu den Guten hatte gehören wollen! Obwohl ihr Vater sie wie Dreck behandelt und sie an ihren Cousin verkaufen wollte und obwohl Biophol eindeutige Beziehungen zu den Freien Patrioten Richthofens unterhielt, die gegen die Araber arbeiteten, seit die Partei gegründet worden war. Aber all das war es ihr nicht wert, ihre Familie zu hintergehen. Stattdessen hatte sie der Datenspezialistin aufgetragen, Tekknotron auf den Kopf zu stellen, bis sie etwas fand, das ihr im Kampf gegen das Harvest-Programm helfen würde, ohne ihren Vater opfern zu müssen. Denn sie würde nicht damit leben können, ihn und sein Unternehmen, von dem unzählige Mitglieder ihrer großen Familie existentiell abhingen, zu vernichten.
Yara hatte Zak nur ungern allein gelassen, aber die Wut auf ihren Vater hatte sie unruhig gemacht, bis sie es nicht mehr ausgehalten und entschieden hatte, etwas tun zu müssen. Deshalb hatte sie kurzerhand beschlossen,
Durchsuchungsbeschlüsse für die deutsche Zentrale Tekknotrons in Richthofen zu beantragen, obwohl sie Claire versprochen hatte, noch damit zu warten. Aber Yara war so in Fahrt, dass sie sich nicht hatte zurückhalten können. Sie war zu diesem Zeitpunkt unglaublich wütend gewesen, und jemand hatte diese Wut abbekommen sollen. Sie hatte die Dokumente vorbereitet und persönlich zum Amtsgericht gefahren, um sie über ihre Anwältin dem zuständigen Richter vorzulegen. Danach war sie in den Range Rover gestiegen und ziellos durch die Stadt gerast, bis Claire sich über das System des Wagens gemeldet hatte.
»Hey. Meine Routinen haben Kontakte aus Regierung, Al Khana-Front und Biophol identifiziert, die über diverse Verträge und Genehmigungsverfahren mit Tekknotron oder deren Töchter zueinander in Verbindung gebracht werden können. Die Fronten scheinen in diesem Fall zu verschwimmen, was mehr als unüblich ist.«
Yara wich fluchend einem Kerl aus, der die Straße an einer unübersichtlichen Stelle überquerte.
»Wo bist du?«, wollte Claire plötzlich wissen. Sie hörte sich skeptisch an. »Hast du etwa den Antrag eingereicht? Obwohl ich dich gebeten hatte, zu warten?«
»Das habe ich …«
»Das war verdammt unvorsichtig!«
»Ich weiß.«
»Der Konzern wird sein Investment beschützen, Yara! Genauso wie alle Beteiligten! Und die sitzen überall! In der Regierung, in den Parteien, im Konzern und wer weiß schon, wo noch!«
»Das weiß ich doch, verdammt!«
»Ich hab dich so gut beschützt, wie ich konnte, aber …«
»Es ist nicht deine Schuld«, unterbrach Yara sie. »Es war meine
Entscheidung. Mir läuft die Zeit davon, Claire.
Vielleicht bringe ich mit den Anträgen jemanden dazu, einen Fehler zu machen.«
»Oder du hast in ein Hornissennest gestochen«, hielt die Datenspezialistin dagegen. »Was ist, wenn du dich damit zur Zielscheibe gemacht hast? Sorokin hat bereits einmal versucht, dich aus dem Spiel zu nehmen!«
Yara zuckte entschuldigend mit den Achseln, obwohl Claire sie nicht sehen konnte. »Besser ich als meine Familie …«
»Oh, wie edel.« Sie schnaubte verächtlich. »Hast du auch daran gedacht, dass deine selbstlose Aktion Zak und mich gefährden könnte?«
»Du bist zu gut, als dass du dich erwischen lassen würdest«, wiegelte Yara ab. »Ich kenne niemanden, der besser wäre.«
»Deine schmeichelhafte Einschätzung meiner Fähigkeiten beruhigt mich nicht wirklich, Yara«, schoss Claire zurück. »Nur weil du
nicht die nötigen Mittel hast, um mich auffliegen zu lassen, heißt das nicht, dass andere diese nicht haben!«
Yara überhörte die Spitze und biss knurrend die Zähne zusammen, während das Heck des Wagens in einer Kurve erneut ausbrach. »Du hast Angst vor dem Konzern?«
»Natürlich«, erwiderte Claire ungläubig. »Und das solltest du auch. Keine Angst zu haben bedeutet, seinen Gegner zu unterschätzen. Und die Geschichte ist voll von erschlagenen, entthronten und überworfenen Anführern, die niemanden fürchteten!«
»Gott, Claire …« Yara hatte keine Lust, weiter zu streiten und wechselte das Thema. »Ist Zak schon ansprechbar?«
»Warte … er hat das Apartment vor einer halben Stunde verlassen.
«
Yara hatte Mühe, ihren Ärger zu unterdrücken. »Warum hast du mich nicht informiert?«
»Ich bin nicht sein Kindermädchen«, erwiderte Claire verärgert. »Außerdem hab ich die letzten Stunden das ein oder andere Sicherheitssystem für dich überwunden und war damit beschäftigt, keine Spuren zu hinterlassen. Hätte ich gewusst, dass du selbst die größte legst, hätte ich mir das allerdings sparen können.«
»Tut mir leid«, gab Yara nach. »Ich musste etwas tun. Ich war so verdammt wütend und …«
»Das ist keine Entschuldigung für dein kopfloses Vorgehen«, unterbrach Claire. »Aber jetzt ist es zu spät. Ich werde versuchen, uns so gut es geht abzusichern. Trotzdem kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie jemanden auf dich ansetzen.«
Yara musste schwer schlucken. Als sie die Anträge stellen ließ, hatte sie sich vor lauter Wut keinen Kopf gemacht, was das für Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Immerhin war sie die
Sonderermittlerin des Untersuchungsausschusses, die durch den Einfluss der Al Khana-Front und all die Sonderberechtigungscodes geschützt war, die ihr im Rahmen der Ermittlung zur Verfügung gestellt worden waren. Sie hatte nicht einen Gedanken daran verschwendet, selbst zum Ziel eines Attentäters werden zu können, weshalb Claires nüchterne Andeutung ihr schwer zu schaffen machte.
»Denkst du wirklich, sie würden mich verschwinden lassen? Mein Vater …«
Claire schnaubte verächtlich. »Ich hätte dich wirklich nicht für so naiv gehalten, Schätzchen. Du magst in dem Untersuchungsausschuss eine bedeutende Rolle einnehmen, aber verglichen mit den Spielern in diesem Spiel bist du ein Nichts.« Sie begann zu lachen. »Ausgehend von den
Verflechtungen, die ich bisher aufdecken konnte, würde ich sagen, dass du an dem eigentlichen Spiel gar nicht beteiligt bist. Egal was du auch anstellst und egal, wie sehr du dich bemühst: Deine Anstrengungen werden am Ende keinerlei Beachtung finden. So traurig das auch ist. Diese Nummer ist eindeutig zu groß für dich, aber ich fürchte, dass du die Letzte bist, die das einsehen wird, richtig?«
Yara hatte genug gehört. Ihre Fingerknöchel hatten sich bereits verfärbt, weil ihre Wut ihr ohnehin feuriges Temperament als Sprungbrett nutzte, um sich zurück in ihre Gedanken zu katapultieren. Sie gehörte verdammt noch mal zu den Guten, und sie würde einen Teufel tun und die Hände in den Schoß legen, denn im Gegensatz zu Claire war sie fest davon überzeugt, etwas verändern zu können. Und zwar zum Positiven! Für alle! Wie konnte Claire es wagen, ihr diese Überzeugung nehmen zu wollen? Yara war so verdammt wütend, und sie wollte jemanden dafür bluten lassen, aber bevor sie ihren Ärger auf die Datenspezialistin lenken konnte, begann ihr Handheld zu vibrieren. Kurz darauf synchronisierte er sich mit dem System des Range Rover und ließ einen roten Punkt auf der virtuellen Karte erscheinen. Yara musste zweimal hinsehen, um sich zu vergewissern, nicht zu träumen. Das Zeichen markierte die Koordinaten ihres verschwundenen Handhelds, auf dem sie Videos, Fotos und Interviews bezüglich des Vorfalls um die getöteten Jugendlichen abgelegt hatte. Beweise, die das Harvest-Programm in Verbindung mit einer angemessenen medialen Aufbereitung schwer beschädigen, wenn nicht sogar zu Fall bringen könnten.
Sie atmete scharf aus, bog ab und schlitterte fluchend über die Kreuzung.
»Was ist passiert? Yara?
«
»Du musst dir keine Sorgen um mich machen, Claire«, erwiderte sie beleidigt.
»Was meinst du damit?«
»Ich will dich nicht länger mit meinen sinnlosen Bemühungen belasten, okay? Kümmer dich lieber um dich selbst …«
Yara trennte die Verbindung, erhöhte die Geschwindigkeit und raste wie eine Besessene durch den Sturm. Sie musste den verdammten Handheld finden, bevor ihr jemand zuvorkommen und ihn zerstören konnte. Denn die darauf gespeicherten Daten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Konzern würden eindeutig belegen, dass ihre Überzeugungen und damit ihre Taten nicht
bedeutungslos waren. Yara Bukhari wollte nicht nutzlos sein, und sie war bereit, jedes Risiko in Kauf zu nehmen, um ihrem Vater – und wenn es sein musste, ganz Richthofen – diese Tatsache zu beweisen.
Zak wankte benommen durch den Sturm zum Hummer. Die Böen peitschten ihm Schneeflocken ins Gesicht, die sich wie kleine Nadelstiche anfühlten und ihn zwangen, den Ärmel vor Mund und Nase zu halten. Den anderen Arm streckte er wie ein Blinder nach vorne, um nicht versehentlich gegen ein Hindernis zu laufen. Es war bitterkalt. Der Blizzard würde eine Menge Opfer fordern und Richthofen unter einem extrem schlechten Omen in das neue Jahrhundert begleiten. Aber das war etwas, was Zak nicht verhindern konnte – so gerne er es auch gewollt hätte. Außerdem hatte er ein eigenes Problem, das unlösbar schien und ihn in seinen Grundfesten erschütterte
.
Nachdem er den Hummer erreicht hatte, öffnete er die Fahrertür und stieg ein, um seine Stirn aufs Lenkrad zu legen und die Augen zu schließen. Die letzte halbe Stunde kam ihm vor wie eine Ewigkeit in der Hölle. Er konnte die Bilder nicht mehr loswerden, die wie in einer Endlosschleife vor seinem geistigen Auge abliefen und ihm seine Schuld an Tillys Tod unmissverständlich vorhielten. Immer und immer wieder. Gleichzeitig hallten Brechers Worte durch Zaks Schädel, die ihm einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken jagten. Seine Wahrnehmung machte dunkle, kaum zu verstehende Laute daraus. Aber Zak wusste, dass es sich bei dieser Verzerrung seiner Erinnerungen nur um einen Schutzmechanismus handelte, den sein Unterbewusstsein kreiert hatte, um ihm etwas Raum zum Atmen zu verschaffen. Die grauenhaften Bilder bohrten sich währenddessen ins Zentrum seines schlechten Gewissens, das felsenfest davon überzeugt war, dass Tilly noch am Leben wäre, wenn er sie nicht in die Sache mit hineingezogen hätte. Und es gab kein einziges Argument, das von ihm gegen diese Tatsache in Stellung gebracht werden konnte. Die Gewissheit lastete schwer auf seinen Schultern, aber die Angst, Bianca ebenfalls zu verlieren, hielt seine Gedanken einigermaßen auf Linie. Andernfalls hätte er sich am liebsten verkrochen und gehofft, dass diese unlösbare Situation einfach an ihm vorüberziehen würde, wenn er sich nur lange genug still verhielt. Aber das konnte er nicht.
Nachdem der Chirurg von Tilly abgelassen und den kläglichen Rest für den Transport verpackt hatte, hatte Levi Brecher Biancas Daten auf das Display der mit Tillys Blut besudelten Wabe gelegt. Und damit Zak klargemacht, dass er bereits potentielle Interessenten für die Organe seiner Schwester an der Hand hatte. Kapitalstarke Käufer,
die bereit waren, hohe Summen zu bezahlen. Zak verfluchte den Tag, an dem die Menschheit Gott spielen und aus ideologischen Gründen das CO2 aus der Atmosphäre hatte ziehen wollen. Dieser fehlgeschlagene Versuch hatte alles aus dem Gleichgewicht gebracht und dafür gesorgt, dass die Nachfrage nach Organen kaum noch zu stillen war. Organhandel war auch vor diesem Super-GAU ein Thema gewesen, aber jetzt war es nicht mehr zu beherrschen. Die Armen hielten die Reichen am Leben, während sie selber Stück für Stück vergingen. Zak fluchte und schlug knurrend gegen die Konsole des Hummers, bis seine Knöchel blutig waren.
»Zak?« Claires Stimme hinderte ihn daran, weiter auf den robusten Kunststoff einzuschlagen. Sie klang besorgt. »Yara steckt in Schwierigkeiten!«
»Ich weiß«, knurrte er abwesend.
»Wo bist du?«
»Ich hab einen Fehler gemacht, Claire. Einen schlimmen, unverzeihlichen Fehler.«
»Was meinst du damit?«, Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen, um ihm die Dringlichkeit der Lage klarzumachen. »Yara hat sich in ernste Schwierigkeiten gebracht. Sie steckt wirklich in der Klemme, okay? Sie reagiert nicht auf meine Kontaktversuche, und sie ist sauer, weil ich etwas zu ihr gesagt hab, das ich zutiefst bereue. Ich will nicht, dass sie wegen mir verletzt wird! Du musst ihr helfen, Zak, okay?«
Er verzichtete auf eine Antwort und startete abwesend den Motor des Hummers.
»Ich transferiere die Koordinaten ihres derzeitigen Aufenthaltsorts in das System deines Wagens. Bring sie ins Apartment, weg von der Straße! Beeil dich bitte, ja?«
Die wuchtigen Reifen des Hummers gruben sich mit
Leichtigkeit durch die Schneeverwehungen, die die meisten Straßen für normale Fahrzeuge unpassierbar machten. Zak zählte jeden zurückgelegten Kilometer auf dem Display des Wagens, während er sich wünschte, niemals am Ziel anzukommen. Mittlerweile hatte sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Stirn gebildet, der seinen inneren Zwiespalt nach außen trug. Er fühlte sich so zerrissen wie nie, war aber realistisch genug, um zu wissen, dass er schon bald eine schwerwiegende Entscheidung treffen musste.
Nach einer halben Stunde hielt er vor einer außerordentlich gut gepflegten Wohnanlage, die vermutlich einer entsprechend finanzstarken Klientel vorbehalten war. Die Security am geschützten Eingangstor hatte ihn, ohne Probleme zu machen, durchgelassen. Anschließend hatte er drei Wohnblöcke im Schritttempo passiert, bis er vor dem vierten gehalten hatte. Die Gebäude waren u-förmig um eine Parkanlage angeordnet worden, die während der wärmeren Jahreszeiten wirklich einladend sein musste. Die mehrstöckigen Bauwerke boten dem kleinen Park genug Schutz vor den Sturmböen, um die Flocken wie Federn vom Himmel schweben zu lassen. Die hohen Tannen waren von einer dicken Schicht Schnee bedeckt, ebenso die Hecken und die Abschnitte, die im Sommer ein Meer aus farbenfrohen Blumen enthalten mussten. Im Zentrum befand sich ein zugefrorenes Wasserbecken. Die friedliche Stimmung lud Zak ein, sich auf eine der verschneiten Bänke zu setzen und einfach aufzugeben. Ein verlockendes Angebot, das ihn schmerzfrei aus dem Spiel nehmen würde. Er brauchte sich nur zu setzen, die Augen zu schließen und zu warten. Zu kapitulieren würde ihm nicht viel abverlangen, aber es würde die Frauen, die er liebte, vermutlich das Leben kosten. Und das war ein Preis, den
er nicht bereit war, zu bezahlen. Jedenfalls nicht für beide. Auch wenn er mit den Konsequenzen seiner nächsten Handlung vielleicht für den Rest seines Lebens zurechtkommen musste.
Yara schlich fast lautlos durch die Korridore des Wohnblocks, ohne den blinkenden Punkt auf dem Display ihres Handhelds aus den Augen zu lassen. Die Pistole fühlte sich kalt an. Sie hielt die Glock hinter ihrem Körper versteckt, während sie einen Schritt vor den anderen setzte und sich ihrem Ziel vorsichtig näherte. Das Apartment befand sich eine Etage unter ihr.
Yara war, nachdem sie sich mit ihrem Status als Sonderermittlerin Zugang zu der luxuriös ausgestatteten Wohnanlage verschafft hatte, in das Gebäude neben ihrem eigentlichen Ziel gegangen. Sie erinnerte sich an den angelegten Park, der von den Blöcken umrahmt wurde und trotz des Schnees eine fast schon unnatürlich anmutende friedliche Stimmung ausstrahlte, die sie völlig eingenommen hatte.
Die Anlage machte auch von innen einen hervorragenden Eindruck. Alles war sauber, gepflegt und frei von Dreck oder Abnutzungserscheinungen. Die indirekten Beleuchtungen wurden über Bewegungssensoren gesteuert, die Yaras Weg begleiteten und die düsteren Korridore der Anlage erhellten. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn eine der Lichtbahnen aktiviert wurde, setzte ihren Weg aber unbeirrt fort.
Die Bewohner schienen sich in die teuren Apartments zurückgezogen zu haben, denn Yara lief niemandem über den Weg, als sie sich durch die Gänge arbeitete. Sie konnte
sich nicht daran erinnern, von außen Lampen in den Wohnungen gesehen zu haben. Den Gedanken verdrängte sie aber, als ihr acht Frauen und Männer, die sich kurz darauf aufteilten und in den Apartments verschwanden, in einheitlichen Overalls über den Weg liefen. Vermutlich Betreuer, die dafür sorgten, dass es den gut situierten Bewohnern an nichts fehlte.
Yara ignorierte das Service-Team und fuhr mit dem Aufzug ins dreißigste Stockwerk. Anschließend ging sie durch eine Verbindungstür aus Glas in den angrenzenden Block und sah sich unauffällig um. Nichts war zu sehen. Auch in diesem Teil des Komplexes hielt sich niemand auf den Korridoren auf. Die Stille war erdrückend und verstärkte das Rauschen in Yaras Ohren, das nur vom Fauchen der Sturmböen unterbrochen wurde, die die Fensterscheiben zum Vibrieren brachten. Sie hatte vor, sich dem Apartment von oben zu nähern, um einem etwaigen Hinterhalt schon im Vorfeld ausweichen zu können, konnte aber auf ihrem Weg nichts Auffälliges entdecken. Das Treppenhaus war leer, die Aufzugskabinen sauber, weshalb sie ihren Weg unbehelligt fortsetzte.
Yara hatte keine Ahnung, wie ihr Handheld in ein Apartment dieses Wohnblocks gekommen sein könnte. Aber Fakt war nun mal, dass jeden Tag tausende von Zufällen geschahen, die oft nicht erklärbar und nur durch Konstellationen zustande kamen, mit denen niemand rechnen konnte. Vermutlich hatte jemand seine Chance gesehen, an Geld zu kommen, und das Gerät weiterverkauft, anstatt es zu vernichten. Vielleicht ein Mitarbeiter der Konzernsicherheit oder ein Techniker, der es zerstören sollte, aber – aus welchen Gründen auch immer – darauf verzichtet hatte. Vielleicht Männer der Abfallentsorgung, die bekannt dafür waren, technologischen Müll nach
werthaltigen Gegenständen zu durchsuchen, bevor sie den Rest in die Presse schickten. Oder es gab eine ganz andere Begründung, was keinen Unterschied machte. Yara war das Warum
egal. Sie hoffte, die Videos und Bilder im Speicher des Geräts zu finden oder rekonstruieren zu können, um das Harvest-Programm zu torpedieren und ihrem Leben einen Sinn zu geben. Claires Andeutung, sie sei nutzlos hatte sie an Äußerungen ihres Vaters aus ihrer Kindheit erinnert, die in die gleiche Kerbe geschlagen hatten. Sein kürzlicher Versuch, sie aus materiellen Gründen zu verheiraten, bestärkte diesen Eindruck nur und machte sie furchtbar wütend. Sie brauchte
diesen Handheld und die darauf gespeicherten Daten, um sich wieder im Spiegel ansehen zu können. Nur deshalb war sie hier. Und sie würde erst gehen, wenn sie das Gerät in ihren Besitz gebracht hatte.
Nach einigen Minuten betrat sie einen Korridor, in dessen Wand zehn Wohnungstüren eingelassen worden waren. Die Türen waren massiv, gut gesichert und passten zum Rest des gehobenen Standards der Anlage. Yara ging bis zum Ende des Gangs und blieb vor einer Tür stehen. Das Display des Codeschlosses begann in einem bläulichen Ton zu leuchten, als sie den entsprechenden Sensor durch ihre Anwesenheit auslöste. Danach stutzte sie. Die Tür schien nicht verschlossen zu sein. Sie sah sich um, steckte ihren Handheld in die Tasche und betrat das Apartment mit vorgehaltener Waffe. Dieses Mal folgten ihr die sensorgesteuerten Lichter nicht durch die Räume. Es war düster. Yaras Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Danach fielen ihr merkwürdige Geräusche auf, die sich nach Beatmungsmaschinen anhörten. Yara versuchte, diese Erkenntnis einzuordnen und verzog den Mund, nachdem sich ein Verdacht
in ihr breitgemacht hatte, der bereits im ersten Zimmer bestätigt wurde. Anstatt einer luxuriösen Einrichtung befanden sich vier medizinische Betten in dem abgedunkelten Raum, in denen dunkle Silhouetten lagen. Die Menschen reagierten nicht auf sie. Einer schien an einem Beatmungsgerät zu hängen. Aus dem Körper eines anderen ragten Schläuche, die in teuren Überwachungseinheiten endeten. Yara musste sich in einem Koma-Block befinden! Deshalb all der Luxus und die gehobene Ausstattung der Anlage. Komapatienten brachten viel Geld und wurden von den Betreibern der Wohnblöcke so lange am Leben gehalten, wie nur irgend möglich. Einige Patienten wurden auch gegen den Willen ihrer Angehörigen betreut,
weil bestechliche Anwälte mit den Schmarotzern zusammenarbeiteten und für die nötige rechtliche Relevanz sorgten, um den Familienmitgliedern die Vormundschaft zu entziehen. Bis diesen die finanziellen Mittel ausgingen oder die Krankenkasse die Zahlungen einstellte. Danach wurden die Organe verwertet und die Patienten
eingeäschert. Nutznießer waren wie so oft Konzerne, Politiker oder Kriminelle, die ihre schwarzen Gelder wuschen und sich an den Hirntoten dumm und dämlich verdienten.
Yara holte den Handheld aus der Tasche und aktivierte dessen Display. Die exakten Koordinaten des Signals waren nur wenige Meter von ihrer aktuellen Position entfernt. Sie passierte vier Zimmer, bis sie einen großen Raum erreichte, in dem sich zehn Betten befanden. Eines davon schien nicht belegt zu sein. Yara ging zu dem medizinischen Pflegebett und entdeckte ihren alten Handheld. Das Gerät lag mittig auf der dünnen Bettdecke. Sie beugte sich über den stabilen Rahmen und streckte die Hand danach aus, als sich mehrere Silhouetten in den umliegenden Betten aufrichteten. Yara wankte erschrocken
zurück und wollte die Waffe hochreißen, als ihr jemand den Lauf einer Pistole in den Rücken presste.
»Ms. Bukhari«, erklang Sorokins amüsiert klingende Stimme, während Yara die Waffe von einem vermummten Kerl abgenommen wurde. »Ich hatte schon befürchtet, Sie würden meiner Einladung nicht folgen.«
»Mein Status als Sonderermittlerin …«
»Ist nichts mehr wert«, unterbrach Sorokin. »Sie haben sich zu weit aus dem Fenster gelehnt, und es wird mir eine Freude sein, Ihnen den letzten Schubs zu verpassen.«
Zak ging zum Aufzug, aktivierte das Display und betätigte die Schaltfläche für den achtundzwanzigsten Stock. Die Kabine fuhr lautlos nach oben, bis die Türen zur Seite glitten und Zak den Korridor betrat. Danach ging er zum Apartment. Bevor er eintrat, sah er sich ein letztes Mal um. Anschließend passierte er vier Zimmer, bis er einen großen Raum erreichte. Yara saß auf einem Stuhl und starrte ihn verwirrt an. Sie hatten ihr die Hände auf den Rücken gefesselt und ihren Nacken an einer Vorrichtung fixiert, die sie zwang, aufrecht sitzen zu bleiben und die Bewegungsfreiheit ihres Kopfes einschränkte. Hinter ihr stand eine Frau mit dunkelvioletten Haaren, die er schon einmal gesehen hatte. Sie wurde von drei Grunts begleitet, die die Läufe ihrer Maschinenpistolen auf Zak gerichtet hielten, während er sich vorsichtig näherte.
»Zak?« Yaras Augen begannen zu glänzen, als sie ihn erkannte.
»Ihr weißer Ritter ist gekommen, um Sie in den Schlaf zu wiegen, Prinzessin«, erwiderte die Frau lächelnd, während sie einen Gegenstand mit dem Stiefel zu ihm
schob. »Es wird schnell gehen, keine Sorge. Ein kleiner Stich, und Sie können sich für den Rest Ihres Lebens schlafenlegen.«
Zak brachte kein Wort heraus. Brechers Befehl hallte nach wie vor durch seinen Schädel und machte es ihm unmöglich, klar denken zu können. Bei dem Gegenstand handelte es sich um einen handlichen Bolzenschussapparat. Das Ding war so groß wie eine Pistole. Anstelle des Laufs besaß es allerdings einen Bolzen, der durch eine Gaskartusche im Griff ein paar Zentimeter nach vorne geschnellt werden konnte.
»Worauf warten Sie, Mokai?«, sagte die Frau und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle an Yaras Schläfe. »Denken Sie an Ihre Schwester. Wenn Sie jetzt schlappmachen, wird Brecher sie ausschlachten, in einen Overall stecken und für immer verschwinden lassen. Genau wie Tilly.« Sie begann zu grinsen. »So war doch ihr Name, richtig?«
»Wie zur Hölle wollen Sie das erklären, Sorokin?«, mischte sich Yara ein. »Sie können mich nicht einfach verschwinden lassen!«
»Aber ich mache es doch gerade Ms. … ähm …«, sie aktivierte das Display der Überwachungseinheit am Bett und rief einige Daten auf, »… Mrs. Bonnet. Sie hatten vor drei Jahren einen Autounfall und liegen seitdem im Koma. Ihre Rechnungen werden von einer Stiftung bezahlt, die Ihr Mann ins Leben gerufen hat. Leider ist er damals seinen Verletzungen erlegen und Sie haben keine Familienangehörigen, die sich um Sie kümmern könnten.« Sorokin begann zu lachen. »Nun, die echte Mrs. Bonnet ist gestern verstorben und wurde dem Harvest-Programm zugeführt, aber es wäre doch schade, wenn diese kuschelige Einrichtung«, sie machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm, »
auf all das Geld verzichten müsste, nicht wahr?« Sie legte Yara beide Hände auf die Schultern. »Deshalb wurde mit dem Betreiber dieses Ruhesitzes eine Abmachung getroffen. Sie übernehmen Mrs. Bonnets Platz und die Gelder fließen weiter. Yara Bukhari dagegen …« Sie zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Würden Sie Ihrer Ex nun endlich ihr letztes Schlaflied singen, Mister Mokai?« Sie tippte erneut gegen Yaras Schläfe.
»Warum Zak?« Yara hielt ihren Blick stur auf ihn gerichtet, während Tränen über ihre Wangen liefen.
»Ihr Ex-Freund hat sich schlecht benommen und muss nun die Konsequenzen für sein Verhalten tragen. Das ist alles.« Sie nickte einem ihrer Grunts zu, der einen Handheld hochhielt und dessen Kamera aktivierte. »Mit dieser Aufnahme versichern wir uns Ihrer Loyalität, Mister Mokai.« Sie zeigte auf den Mann mit dem Handheld. »Zeit zu schlafen …«
»Das macht doch keinen Sinn!«, hakte Zak wütend nach. »Yara hat nichts in der Hand, was dem Harvest-Programm gefährlich werden könnte! Die Überwachungsdrohne ist nach wie vor verschwunden! Ich verstehe nicht …«
»Die Überwachungsdrohne hat die Unfallstelle nie verlassen!«, unterbrach Sorokin ihn grob. »Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Ms. Bukhari hat ihre Nase in Dinge gesteckt, die sie nichts angehen, und ihren Bonus als Sonderermittlerin verspielt. Denken Sie wirklich, Sie könnten ein milliardenschweres Projekt dieser Größenordnung sabotieren und ohne Konsequenzen davonkommen? So dumm können sie nicht sein.« Sie schnaubte verächtlich. »Sie hätten die letzten Stunden besser zusammen im Bett verbringen und den Dingen ihren Lauf lassen sollen, aber jetzt ist es zu spät, um ohne Kratzer aus
der Sache herauszukommen.« Sie funkelte Zak wütend an. »Und jetzt jagen Sie ihr endlich den verdammten Bolzen in den Schädel!«
»Zak …« Yaras Blick bohrte sich förmlich in seinen Kopf, während seine Hand zu zittern begann. »Es … es tut mir leid. Ich hab dich damals auffliegen lassen, verstehst du? Es ist meine Schuld, dass du suspendiert wurdest. Allein der Gedanke, dass du in illegale Aktivitäten verstrickt sein könntest, hat mich … erdrückt. Ich … Ich war schwach und … es tut mir unendlich leid, hörst du?« Sie begann zu schluchzen. »Bitte vergib mir …«
Sorokin verdrehte demonstrativ die Augen und tippte energisch gegen Yaras Schläfe, während Zak den Apparat aufhob und langsam zu ihr ging. Seine Gedanken rotierten wie der deformierte Rotor einer Drohne, der demnächst aus der Verankerung fliegen und immensen Schaden anrichten würde. Bianca oder Yara, Yara oder Bianca, Bianca oder Yara …
Als er vor ihr stand, führte er das Gerät zitternd nach oben und presste das Ende des Bolzenapparats gegen ihre Schläfe. Er konnte die Hand kaum ruhighalten, während sein Gehirn nach einer Lösung suchte, die allen gerecht werden würde – aber so eine existierte nicht!
»Machen Sie schon!«
Zak spürte, wie seine Augen feucht wurden und seine Lippen zu beben begannen. Er konnte kaum noch atmen. Gott, wenn er Yaras Gehirn jetzt zerstörte, konnte er sich genauso gut selbst erledigen. Aber wenn er es nicht tat, würde Sorokin sie beide verschwinden lassen – und Bianca würde trotzdem sterben! Verfluchter Dreck!
»Drücken Sie endlich ab!«
Zak spürte, wie eine Träne seine Wange entlanglief. Sein Kopf begann zu pochen, und er wollte sich übergeben.
Stattdessen verstärkte er den Druck auf Yaras Haut, beugte sich zu ihr und traf eine Entscheidung.
»Hab keine Angst, Amira …«
Als Sorokin den Kopf schief legte und ihn fragend ansah, riss er den Apparat hoch und jagte ihr den Bolzen durchs Auge. Der Schlag ließ sie rückwärts wanken, aber Zak packte sie am Kragen und hielt sie wie einen Schild vor sich und Yara, während ihre Begleiter das Feuer eröffneten und die Projektile Sorokins Körper tanzen ließen. Zak schleuderte sie auf die beiden Männer links von ihm und stürzte sich auf den Kerl, der die Exekution hatte aufnehmen wollen. Er rammte ihm die Stirn ins Gesicht und zertrümmerte seinen Kehlkopf mit einem gezielten Ellbogenschlag, um ihn einen Augenblick später herumzureißen und in die nächste Salve zu werfen. Zak spürte ein Brennen an der Seite und seinem Oberschenkel, ignorierte den Schmerz und trat einem der Männer die MP aus der Hand, die noch feuernd zu Boden fiel und das Knie des bewaffneten Kerls in ein blutiges Puzzle verwandelte. Der Mann knickte brüllend zur Seite weg, während Zak seinen Angriff mit einem Kniestoß zum Körper abschloss, dessen Wucht seinen Gegner gegen die Wand schleuderte. Anschließend nahm er dem Verletzten die Maschinenpistole ab und schoss ihm in den Kopf, um die Waffe eine Sekunde später auf den Bewusstlosen zu richten und sein Werk zu vollenden. Es war erstaunlich, zu was Menschen fähig waren, wenn die Situation nur ausweglos genug war. Diese Erkenntnis schoss ihm wie ein Blitz durch den Kopf, während er versuchte, seine Tat zu rechtfertigen. Immerhin war er ein Cop und dem Gesetz verpflichtet. Er hatte noch nie jemanden hingerichtet und begann laut zu fluchen. Als er sich schwer atmend umwandte, blickte er in den Lauf einer schallgedämpften Pistole. Yara starrte
Zak fassungslos an. Sie hatte sich befreit und stand unentschlossen vor ihm, während ihr entsetzter Blick über die Toten schweifte. Ihre Waffenhand zitterte, und sie wirkte wie jemand, der nach einem traumatischen Erlebnis noch nicht ganz in der Wirklichkeit angekommen war. Wie das Opfer eines Raubüberfalls, das über den Leichen der Kriminellen stand und überlegte, ob es auf das Leben des letzten Verbrechers noch ankam oder nicht.
Zak hob vorsichtshalber beschwichtigend die Hände. »Ich wollte dich nicht verletzen, Yara, okay? Das musst du mir glauben …«
Sie starrte ihn verwirrt an, während der Lauf der Waffe nach wie vor auf seine Brust gerichtet war.
»… ich würde dir niemals wehtun. Und das weißt du auch … denn du bist und bleibst meine Prinzessin.«
Yara ließ die Waffe fallen, stürmte zu ihm und schlang ihre Arme um seinen Hals. Anschließend presste sie sich an ihn und hielt ihn fest, als ob es kein Morgen mehr geben würde. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust und begann erleichtert zu schluchzen, als die Anspannung endlich von ihr abfiel und sie zu begreifen schien, dass sie tatsächlich überlebt hatten.
Yara saß am Steuer des Range Rover und folgte der Serpentine hinauf zu der Stelle, an der alles angefangen hatte. Der Blizzard machte ihr schwer zu schaffen, aber der Geländewagen trotzte den Böen und kämpfte sich über die verschneite Straße den Hügel hinauf, auf dessen Plateau das Testgelände des Konzerns errichtet worden war. Es war 16 Uhr. Ihr blieben noch zwei Stunden, um die verschwundene Drohne zu finden. Zwei Stunden, um das
Harvest-Programm zu stoppen. Yara war durch den Wind, aber sie hatte nicht vor, aufzugeben. Nicht heute. Sie würde kämpfen und erst aufhören, wenn die letzte Minute verstrichen und der Untersuchungsausschuss zu einem Urteil gekommen war.
Yara erinnerte sich nur allzu gern an die vergangene Stunde und hatte Mühe, sich nicht von ihren Gefühlen übermannen zu lassen. Zaks Geruch klebte überall an ihr. Sie spürte seine Berührungen noch immer und sehnte sich nach ihm, obwohl sie nur wenig Zeit hatten, um sich näherzukommen und sich dabei auszusprechen.
Nachdem sie den Koma-Komplex verlassen hatten, hatten sie auf einem abgelegenen Parkplatz gehalten, um einen Weg aus dem verdammten Schlamassel zu finden. Sie hatten sich reinen Wein eingeschenkt, sich vergeben und wieder zueinandergefunden, nur um sich ein paar Minuten später erneut voneinander trennen zu müssen. Die Zeit war zu knapp, als dass sie hätten zusammenarbeiten können, weshalb jeder seiner Wege ging. Yara hasste, wie sich die Dinge entwickelt hatten, aber sie wollte nicht aufgeben und verfolgte eine letzte Spur. Sorokin hatte beiläufig erwähnt, dass sich die verschwundene Drohne noch immer dort befand, wo Yara sie gestartet hatte – und das war am Ort des Unfalls gewesen. Auf der Serpentine, wo alles begonnen hatte, weshalb sie beschloss, die verbliebenen Stunden in einen letzten Versuch zu investieren, um die verdammte Drohne zu finden. Der Datenspeicher ihres Handhelds war wie angenommen unwiderruflich gelöscht worden, was diese Möglichkeit so außerordentlich wertvoll machte.
Nach einer weiteren halben Stunde bremste sie ab und blieb stehen. Laut dem Navigationssystem des Wagens befand sie sich exakt an der Stelle, an der Sorokins
Drohnen den Audi vor wenigen Tagen über die Böschung stürzen ließen. Yara synchronisierte ihren Handheld mit dem System des Range Rover und benutzte seine Antennen als Verstärker, während Claire die Kontrolle übernahm und die Leistung des Systems über einen von ihr gekaperten Regierungssatelliten vervielfachte.
»Wie sieht es aus?«
»Es dauert nicht mehr lange«, erwiderte die Datenspezialistin verhalten. »Der Satellit wird in wenigen Sekunden in Position sein, dann können wir den kompletten Sektor auf einmal scannen. Wenn die Drohne hier ist, werden wir sie auch finden.«
Yara verzichtete auf einen Kommentar und konzentrierte sich darauf, die Erinnerungen an Zak lebendig zu halten, als sich Claire erneut meldete.
»Yara?«
»Ja?«
»Da ist noch etwas. Ich … Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Bitte verzeih mir.«
»Schon gut«, erwiderte sie niedergeschlagen. »Wir machen alle Fehler.«
»Wie meinst du das?«
»Ich hab den Behörden damals den entscheidenden Hinweis gegeben, um Zak suspendieren zu lassen. Ich hab ihm mein Vertrauen entzogen, weil ich mich von meinem Vater manipulieren ließ. Er hat mich gedrängt, die Cops auf diesen entscheidenden Hinweis aufmerksam zu machen, den er
mir untergejubelt hat. Er wollte uns auseinanderbringen, und ich bin darauf reingefallen, obwohl ich es hätte besser wissen müssen.«
»Das tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Wir haben uns ausgesprochen. Und das ist mehr, als ich mir jemals erhofft habe.« Sie
atmete seufzend aus. »Du hattest übrigens recht. Ich hätte die Anträge nicht einreichen dürfen. Aber ich war so wütend, und es erschien mir die einzige Möglichkeit zu sein, um unsere Gegner aus der Reserve zu locken. Bei Allah, ich hätte niemals gedacht, dass sie so weit gehen würden.«
»Das ist schon in Ordnung.«
»Ist es nicht. Ich möchte mich dafür entschuldigen. Ohne dich würde ich noch immer auf der Stelle treten, und zum Dank hab ich dich gefährdet.«
»Entschuldigung angenommen.«
Yara atmete erleichtert auf. »Konntest du etwas wegen Tekknotron herausfinden?«
»Noch nicht. Der zweite Anteilseigner hat seine Spuren gut verwischt. Aber ich werde ihn finden und enttarnen. Das verspreche ich dir.«
»Hm …« Yara ließ ihren Blick verloren über die weiße Landschaft gleiten. »Denkst du, mein Vater hat angeordnet, mich verschwinden zu lassen?«
»Dafür gibt es keinen Beweis. Und solange das so ist, solltest du diesen Gedanken nicht mal in Erwägung ziehen, okay? Mach dich nicht verrückt.«
»Danke.« Die Vorstellung, ihr alter Herr könnte für den Hinterhalt im Koma-Komplex verantwortlich sein, verfolgte sie, seit sie diesen mit Zak verlassen hatte. Und sosehr sie sich auch bemühte, ihn zu verdrängen, musste sie sich wohl oder übel eingestehen, dass diese Möglichkeit im Raum stand. Trotzdem beruhigte sie der Einwand der Datenspezialistin, auch wenn es bisher keine Beweise für die Unschuld ihres alten Herrn gab.
»Gern geschehen.« Claire klang ebenfalls erleichtert. »Ich hab eine aggressivere Routine programmiert, um die Strukturen unter dem Bunker in Sektor-33 ein weiteres
Mal zu infiltrieren. Das erste Mal wurde ich aus dem System geworfen, aber dieses Mal wird mir das nicht passieren. Vielleicht kann ich Daten finden, die dir weiterhelfen.«
»Denkst du, das ist eine gute Idee?«, entgegnete Yara. »Der Untersuchungsausschuss ist fast vorbei und du bist dort unten auf ernsten Widerstand gestoßen, soweit ich mich erinnern kann, richtig?«
»Ich gebe zu, dass dieser kleine Ausrutscher nach wie vor an meinem Stolz nagt«, erwiderte sie zerknirscht. »Außerdem schadet er meinem Ruf, den ich mir hart erarbeitet habe. An einem weiteren Versuch führt also kein Weg vorbei.«
»Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt, okay?«
»Das ist lieb von dir«, stellte Claire fest. »Aber du hast selbst gesagt, dass ich einen Ruf zu verlieren habe, auch wenn du dich anders ausgedrückt hast.«
»So hatte ich das nicht gemeint …«
»Ich weiß. Aber … Oh, warte. Der Satellit ist in Position. Die Routine läuft, der Sektor wird gescannt … und Bingo!«
Yara atmete erleichtert auf. »Wo ist sie?«
»Nicht weit von dir entfernt. Ich werde dich zu ihr führen.« Sie schnaubte verächtlich. »Die Drecksäcke haben die Position der Drohne mit drei Störsendern verschleiert. Aber die Aufmerksamkeit der Cops und die Folgen des Blizzards haben es ihnen vermutlich unmöglich gemacht, sie zu bergen und verschwinden zu lassen.«
»Danke, Claire. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich im Moment bin, dich auf meiner Seite zu haben. Danke für alles …«
Anschließend riss Yara die Tür auf und machte sich auf
den Weg in den Sturm, um die Beweise zu sichern, die das Harvest-Programm zu Fall bringen würden.
Zak folgte dem Audi in einigem Abstand. Der Wind verfing sich in der hohen Karosserie des Hummers und brachte diesen deutlich zum Wanken. Aber das machte ihm nichts aus, denn er musste dank Tillys Sender keine waghalsigen Manöver fahren, um an seinem Ziel dranzubleiben. Als er an die Konzernbrigadistin dachte, presste er knurrend die Zähne zusammen und verdrängte die grausamen Bilder, die nach wie vor unter der Oberfläche seines Bewusstseins lauerten und jede Chance nutzten, um diese zu durchbrechen. Aber das durfte er nicht zulassen, weil die damit einhergehende Wut seine Sinne beeinträchtigte. Stattdessen hatte er vor, sich all den aufgestauten Hass für den richtigen Moment und den richtigen Mann aufzuheben.
Das Brennen in seiner Seite ließ langsam nach. Er hatte Glück und sich nur einen Durchschuss eingefangen, den Dadjic relativ gut behandeln konnte. Trotzdem hatte er Zak empfohlen, sich zu erholen und ruckartige Bewegungen zu vermeiden. Da er wusste, dass das nicht funktionieren würde, hatte er ihm genug Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel mitgegeben, um einen Elefanten steril zu halten. Da Zak eine offene Wunde allerdings zu sehr beeinträchtigen würde, wollte er zumindest versuchen, sich an den Empfehlungen des Arztes zu orientieren.
Die gelbe Raute fuhr nach wie vor in Richtung Zentrum. Es war mittlerweile 16 Uhr und Zak blieben noch zwei Stunden, um Bianca zu befreien. Er war sich sicher, dass Brecher seine Schwester spätestens nach dem
Abschluss des Untersuchungsausschusses verschwinden lassen würde. Aber allein die Vorstellung, sie könnte so enden wie Tilly, lähmte ihn wie nichts zuvor in seinem Leben, weshalb er den Gedanken verdrängte und sich wieder auf die Aufgabe konzentrierte, die vor ihm lag.
Die schallgedämpfte Pistole im Holster am Oberschenkel war geladen, die Panzerplatten aus Kevlar, die er dem Söldner im Bunker abgenommen hatte, fest mit dem Einsatzanzug verzurrt. Der Helm mit dem abgedunkelten Visier lag auf dem Beifahrersitz. Mehr hatte Zak nicht zur Verfügung, um in die Schlacht zu ziehen. Aber auch das machte keinen Unterschied, denn er hatte vor, diesen Nachteil mit einer entsprechenden Dosis Kaltblütigkeit wettzumachen. Die Situation war nach wie vor ausweglos, und Zak war bereit, alles für die Sicherheit seiner Schwester zu tun – auch wenn sich das mit seinen Prinzipien als Cop nicht vereinbaren ließ.
Als die Bilder von Tillys Tod erneut nach oben drängten, lenkte er seinen Fokus auf die letzten Minuten mit Yara, die er auf einem abgelegenen Parkplatz verbracht hatte. Sie hatte seine Wunden provisorisch mit dem Inhalt des Erste-Hilfe-Kastens versorgt und Dadjic sowie Claire über das System des Range Rover kontaktiert. Danach hatten sie sich ausgesprochen. Zak hatte nichts mehr zurückgehalten, ihr von der Entführung seiner Schwester und Federikas Beweisen gegen Yaras Vater erzählt, während sie ihm die Verstrickung in seine Suspendierung gebeichtet hatte. Sie hatten sich gegenseitig in den Armen gehalten und jede Sekunde genossen, bis Claire und Dadjic auf ihre Kontaktversuche reagiert hatten. Zak hatte den Range Rover nur schweren Herzens verlassen, aber es stand zu viel auf dem Spiel, als dass er den Kopf in den Sand hätte stecken können. Außerdem hatte er noch die
ein oder andere Rechnung zu begleichen, und er wollte das erledigen, solange die Erinnerungen an Tillys Tod frisch waren. Er war zu Dadjic gefahren, um sich notdürftig verarzten zu lassen und hatte anschließend Tillys Ford aufgesucht, um den Sender zu aktivieren, den sie Gruber unterjubelte, nachdem Zak sie um Hilfe gebeten hatte. Danach hatte die Jagd begonnen.
Als Zak sich dem Zentrum des Sektors näherte, wurde der Verkehr trotz des Blizzards und der Tumulte dichter. Er setzte sich hinter den Audi und folgte ihm, bis sie auf eine Überführung zuhielten, an der rechts eine enge Gasse abzweigte, die zu zwanzig Wohnblöcken führte. Zak wartete auf den richtigen Augenblick, täuschte ein Überholmanöver an und drängte den Audi kurz vor der Auffahrt in die Gasse. Anschließend gab er Gas und schob den Wagen vor sich her, bis er gegen einen verschneiten Müllcontainer prallte, sich überschlug und eingekeilt zwischen dem Hummer und einer aufgerissenen Wand liegenblieb. Zak stieg aus und wurde von einer Böe gegen den Wagen geschleudert. Er fing sein Gleichgewicht, zog die Waffe und stapfte entschlossen zum Audi, dessen demolierte Fahrertüre geöffnet wurde. Kurz darauf stolperte Gruber aus dem Wagen. Er hatte eine Platzwunde auf der Stirn und sein Nasenbein schien gebrochen zu sein. Der Kerl musste sich an der Tür abstützen und funkelte Zak wütend an. Als er die Pistole sah, veränderte sich sein Blick, und er präsentierte beschwichtigend die Handflächen.
»Warten Sie, Chief. Ich …«
Zak schoss ihm durch die Hand in die Schulter. Die Wucht des Treffers schleuderte Gruber herum und ließ ihn gegen die offene Fahrertüre stolpern. Zak musste sich zurückhalten, um ihm keine Kugel in den Schädel zu jagen.
Stattdessen trat er ihm in die Niere, packte seinen Kopf und schlug sein Gesicht gegen die Fensterscheibe, die daraufhin zersplitterte. Anschließend riss er ihn herum und drückte ihm den Lauf der Waffe ins Auge, bis sich sein Augapfel deutlich verformte.