Kapitel Vierzehn
Zak saß an eine Wand der Halle gelehnt und presste ein steriles Tuch aus einem Erste-Hilfe-Kasten auf seine Wunde, die nach dem Sturz wieder aufgerissen war. Das Blut hatte den Overall und einen Teil der Hose bereits durchnässt, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Seine Gedanken kreisten um seine Schwester und um die Abscheulichkeiten, die Brecher ihr vielleicht antun würde, um sich für Zaks misslungenen Überfall zu revanchieren. Gleichzeitig drängten die Erinnerungen an Tilly nach oben, deren Gesicht in seiner Vorstellung durch Biancas ersetzt wurde.
Sein Kopf dröhnte, seine Rippen schienen geprellt zu sein, und er hatte sich die Hose am Oberschenkel aufgerissen. Er hatte die Splitter mit einer Pinzette entfernt, nachdem Berishas Kämpfer ihn aus dem Graben und all den Trümmern geborgen hatten. Brecher war entkommen. Trotz Shenmis Überwachungsdrohnen und unzähliger Leute des Albaners, die sofort die Verfolgung aufgenommen hatten. Niemand wusste, wohin er sich abgesetzt hatte. Es gab weder Spuren noch sonstige Anhaltspunkte, die auf seinen Verbleib hingedeutet hätten. Claire hatte auf Zaks Kontaktversuche bisher nicht reagiert, und Yara war nicht zu erreichen. Zak war auf sich gestellt und fühlte sich hundeelend. Sein Plan war nicht aufgegangen, Bianca verloren und der Untersuchungsausschuss hatte das Harvest-Programm vor einer halben Stunde offiziell abgesegnet. Die Sender überschlugen sich förmlich deswegen und feierten die Entscheidung als Meilenstein für die zukünftige Entwicklung der Downers. Sie stellten Regierung und Konzern als Friedensstifter dar und erwähnten all die Vorteile, die das Programm für die Stadt und die Menschen in den benachteiligten Sektoren bringen würde. Außerdem wiesen sie auf die Verdrängung des illegalen Organhandels hin, der den Regierenden schon seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge war. Auf Argumente dagegen wurde verzichtet und nur die vermeintlich positiven Aspekte herausgestellt, während sich vor den Zentren der bessergestellten Sektoren die Menschen aus den Downers zusammenrotteten und die Hassprediger dafür sorgten, die ohnehin angespannte Stimmung zusätzlich aufzuheizen. Gleichzeitig entließ Biophol ein Heer von Bioneers in die Straßen Richthofens, das den Schneemassen Einhalt gebieten sollte und vielleicht schon bald auf die tobende Menge treffen würde. Wie diese Konfrontation ausgehen würde, stand in den Sternen, aber selbst das war Zak im Moment egal. Die Tatsache, seine Schwester nach wie vor unter der Kontrolle Brechers zu wissen, ließ ihm keinen Raum, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen – so verstörend diese auch sein mochten.
Berishas Chirurgen hatten bereits damit begonnen, die Körper der Toten auszuschlachten. Sie hatten die Leichen in die Waben geschafft und nutzten Brechers Gerätschaften, um die wertvollen Organe zu extrahieren und in den Cryobehältern zu verstauen. Der Albaner schien ein äußerst praktisch denkendes Individuum zu sein und verschwendete keine Zeit, um seine Verluste auszugleichen. Während ein Teil seiner Gefolgsleute die Körper ausschlachtete, plünderten die anderen die Halle und verluden alles in Transporter, was nicht niet- und nagelfest war. Egal ob die antibakteriellen Planen der Waben, die Gerätschaften oder die Ausrüstungsgegenstände der Toten: Alles landete in den Fahrzeugen, die stetig ankamen und abfuhren und so lange weitermachen würden, bis auch der letzte verwertbare Gegenstand seinen Weg in eines von Berishas Lagern gefunden hatte. Als der Albaner sich eine Pause gönnte, gesellte er sich zu Zak.
»Wie geht es Ihnen?«
Zak sah geknickt auf. »Den Umständen entsprechend.«
Berisha verzog den Mund zu einem wissenden Schmunzeln. »Ich weiß, dass Sie das jetzt nicht hören wollen, aber man sollte an seinen Niederlagen wachsen. Nehmen Sie es hin und stehen Sie wieder auf.«
»Brecher wird meine Schwester verschwinden lassen …«
»Auch daran können Sie nichts ändern«, unterbrach der Albaner ernst. »Sie können nicht alle retten, Mokai. Am besten wäre, Sie würden diese Tatsache akzeptieren und sie als gegeben hinnehmen.«
Zak schnaubte verächtlich und wechselte das Thema. Er katte keine Lust mehr, sich vor Berisha für den Drang, seine Schwester retten zu wollen, rechtfertigen zu müssen.
»Sie schlachten auch Ihre eigenen Leute aus?« Zak deutete auf eine Wabe, in der einem von Berishas Männern die Leber entfernt wurde.
»Natürlich«, antwortete der Albaner und zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Wir sind eine Familie und sobald eines unserer Mitglieder stirbt, veräußern wir seine Organe, um mit dem Erlös unsere Strukturen zu stärken und einen adäquaten Ersatz zu finanzieren. Es ist ein Geben und Nehmen, Mokai. Außerdem wäre es eine Verschwendung, diese Produkte verfaulen zu lassen, richtig?«
»Vermutlich.« Zak biss die Zähne zusammen und presste das triefende Tuch erneut auf die blutende Wunde.
»Sie sollten das behandeln lassen«, stellte Berisha fest und zeigte auf den blutigen Stoff. »Einer meiner Chirurgen …«
»Nein, danke«, winkte Zak schnell ab. »Ich …«
»Vertrauen ist in diesen düsteren Zeiten kein Gut, das leicht zu bekommen ist«, sagte der Albaner verständnisvoll. »Trotzdem sollten Sie Ihre Entscheidung noch einmal überdenken. Die Blutung ist stark. Sie werden nicht weit kommen.«
»Dann sind wir quitt?« Zak sah ihn erstaunt an. Hatte er doch damit gerechnet, wegen des Scheiterns der Aktion zur Rechenschaft gezogen zu werden.
»Soweit es mich angeht, ja«, eröffnete der Albaner grinsend. »Das ist eine Menge Geld«, er machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm und sah sich demonstrativ in der Halle um, »und ich denke nicht, dass Brecher sich nach dem Ende des Untersuchungsausschusses noch einmal zurück in mein Territorium wagt. Ich bedauere, dass Sie Ihre Schwester nicht befreien konnten. Ansonsten können Sie gehen, wann immer Sie wollen.«
»Danke.«
Berisha reichte ihm die Hand. »Es war mir eine Freude, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Mister Mokai.« Zak schlug ein. »Und jetzt lassen Sie das endlich behandeln.«
Der Albaner rief einen Chirurgen zu sich, der seine Arbeit an einer Leiche beendet hatte, und trug ihm auf, sich um Zaks Wunde zu kümmern. Anschließend verabschiedete er sich und wandte sich wieder seinen Leuten zu, die wie Heuschrecken über die Halle herfielen.
Der Chirurg arbeitete schnell und sauber, während Zak ihn nicht aus den Augen ließ und jede seiner Handlungen äußerst skeptisch beobachtete. Er verzichtete auf ein Schmerzmittel, lehnte eine Injektion von was auch immer ab und war froh, als der zwielichtige Arzt endlich abzog und sich auf den nächsten Körper stürzte, der bereits auf einer der Bahren auf ihn wartete. Zak wollte aufstehen und machen, dass er so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Berishas Truppe brachte, als sein Handheld vibrierte.
»Claire?«
»Ich bin in Schwierigkeiten!« Ihre Stimme klang ängstlich.
»Inwiefern?« Zak konnte sich nicht vorstellen, was passiert sein mochte. Claire war ein Phantom. Niemand wusste, wie sie aussah, wo sie lebte oder wie man ihrer habhaft werden konnte. Für die meisten Dienste und Organisationen existierte sie gar nicht. Wer war also dazu in der Lage, sie in Bedrängnis zu bringen?
»Das verdammte System hat mich gefunden …«
»Das System?«
»Ja. Das System der Basis«, erwiderte sie aufgebracht. »Du weißt schon. Die Anlage unter dem Bunker in Sektor-33. Ich hab versucht, es erneut zu infiltrieren, um vielleicht etwas zu finden, das Yara helfen könnte.«
»Aber der Untersuchungsausschuss ist beendet worden. Es gibt keinen Grund mehr …«
»Ich weiß«, erwiderte sie verängstigt. »Aber ich werde es einfach nicht mehr los. Es hat meinen Trojaner gegen mich verwendet, meine Sicherheitsvorkehrungen überwunden und mich über die Cloud bis in mein Apartment verfolgt. Das Scheißding legt alles lahm, was ich mir über die Jahre aufgebaut hab! Außerdem glaub ich, dass es jemanden über mich in Kenntnis gesetzt hat. Meine Drohnen haben Fahrzeuge entdeckt, die auf das Gebäude zuhalten!«
»Dann verschwinde, so schnell du kannst!« Zak stand vor Schmerzen fluchend auf und wankte auf das Tor der Halle zu. »Geh unter Menschen und warte, bis ich dich abhole!«
»Ich kann nicht!«
»Warum?«
»Ich kann einfach nicht!« Claire schien zu schluchzen.
»Dann gib mir deine Adresse! Ich mach mich sofort auf den Weg!«
Yara saß auf der Rückbank des Mercedes und zitterte noch immer wie Espenlaub. Die Heizung des Wagens lief auf Hochtouren. Sie hatte die Decke um ihren Körper geschlungen und presste gleichzeitig das Heizkissen gegen ihren Bauch. Aber die verdammte Kälte wollte einfach nicht verschwinden, weshalb sie sich langsam fragte, ob sie wirklich nur wegen der schlechten Wetterverhältnisse wie ein Schlosshund fror oder ob das Zittern etwas mit der Einsicht zu tun hatte, auf ganzer Linie versagt zu haben. Und das, obwohl sie die Daten der verschwundenen Drohne extrahiert hatte! Anscheinend hatte Yaffar Amin das Videomaterial nicht aufbereitet und von einem der Anwälte an den Untersuchungsausschuss weiterleiten lassen. Aber warum? Yara jagte den verlorenen Daten seit Tagen hinterher und hatte viel für sie riskiert. Sorokin hätte sie fast dafür erledigt! Und das zweimal! Also warum zur Hölle hatte Amin sie nicht gegen Biophol eingesetzt? Da sie sich auf all die Fragen keinen Reim machen konnte, hatte sie kurzerhand beschlossen, den Vorsitzenden der Al Khana-Front zur Rede zu stellen. Anstatt Claire oder Zak hatte sie Abbas kontaktiert und sich von ihm abholen lassen. Der Leibwächter hatte versucht, sein geschwollenes Auge vor ihr zu verstecken, aber Yara hatte die dunklen Verfärbungen erkannt, die er wohl ihrem Verschwinden zu verdanken hatte. Ein weiterer Grund, ihren Vater zu hassen.
Der Mercedes glitt sicher durch den Schnee. Die Vibrationen beruhigten Yara etwas, während das riesige Gebäude, indem sich auch ihr Büro befand, bereits am Horizont zu sehen war. Aber mit ihrem Status als Sonderermittlerin war jetzt Schluss, und sie hatte keine Ahnung, wie es mit ihr weitergehen würde. Ohne ihre Fragen beantwortet zu bekommen, war das allerdings auch nicht wichtig. Zumindest nicht im Moment.
Während ihre paralysierten Gedanken auftauten, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Gott, Yara! Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie vergessen hatte, Zak zu kontaktieren. Allerdings hatte sie dieses Mal einen guten Grund, denn sie hatte kurz davor gestanden, von Sorokin hingerichtet zu werden.
Sie holte mit ihren zitternenden Händen den Handheld aus der Hosentasche und ließ ihn eine Verbindung zu Zaks Gerät aufbauen. Nach einigen Versuchen gab sie auf und versuchte Claire anzurufen, aber auch die Datenspezialistin reagierte nicht auf ihren Kontaktversuch. Seltsam. Claire war normalerweise immer zu erreichen, schien manchmal sogar omnipräsent zu sein. Dieses Mal blieb die Leitung allerdings tot. Genau wie bei Zak. Yara versuchte, sich nicht von den schlechten Gedanken einnehmen zu lassen, die nach ihr griffen, um sie wieder in einen Zustand der Lethargie zu versetzen. Stattdessen redete sie sich die Situation schön und setzte darauf, dass es sicher einen Grund für das Verhalten der beiden geben musste. Vielleicht der Blizzard, eine Überlastung der Systeme oder Zak war kurz davor, seine Schwester zu retten und Claire half ihm dabei. Es gab tausend Gründe, warum sie nicht reagierten.
Nach zwanzig Minuten fuhren sie auf das streng bewachte Gelände. Die Sicherheitsmitarbeiter scannten die IDs und die Signatur des Wagens. Danach öffneten sie die schweren Tore. Es war 21 Uhr. Der Jahrhundertwechsel stand kurz bevor, und Yara fühlte sich so nutzlos wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie folgte Abbas ins Innere des Gebäudes und suchte ihre Räumlichkeiten auf, um die nassen Sachen gegen trockene Kleidung zu tauschen. Sie hatte die Auswahl zwischen sechs Businessanzügen und einer schwarzen Jeans, einem Pulli und einer Winterjacke und entschied sich für die einfachen Kleidungsstücke, da sie nicht davon ausging, die Position innerhalb Amins Unternehmen zu behalten. Sie machte sich kurz frisch, überprüfte ein letztes Mal die gespeicherten Nachrichten und Anfragen auf ihrem Handheld und stellte wehmütig fest, dass sie nach Ende des Untersuchungsausschusses komplett abgerissen waren. Die Teams schienen sich aufgelöst zu haben und die Ermittlungen eingestellt worden zu sein. Es gab keinen Austausch von Daten mehr, keine audiovisuelle Kommunikation und keine versendeten Nachrichten, was Yaras Position als zentrale Anlaufstelle obsolet machte. Aber am allermeisten beunruhigte sie, dass weder Zak noch Claire etwas von sich hören ließen .
Yara verstaute den Handheld in der Hosentasche der Jeans, legte sich die Jacke über den Arm und ließ sich von Abbas zu einem Aufzug begleiten, der sie direkt in Amins Büro im dreihundertfünfzigsten Stock brachte. Darüber befanden sich nur noch die Landeplattformen für die Drohnen und Chopper, die die Manager nutzten, um möglichst schnell zu den Wolkenkratzern ihrer Verhandlungspartner zu gelangen.
Yara betrat den mit schwarzem Marmor ausgelegten Raum, legte die Jacke neben der Garderobe über die Lehne eines Sessels und durchquerte den Empfangsbereich. Zu ihrer Rechten war eine kleine Theke installiert worden, die sich optisch in das in grauen Tönen gehaltene Büro einfügte. Rote Akzente lockerten die triste Erscheinung entsprechend auf und sorgten für genug Abwechslung, um die Atmosphäre angenehm, aber nicht zu aufdringlich zu halten. Ein perfektes Umfeld, um über geschäftliche Aktivitäten zu reden, ohne das Gefühl zu haben, benachteiligt zu werden.
Yara schenkte sich ein Glas Wasser ein, warf einen Blick auf das riesige Display an der Wand, auf dem Bilder eines Nachrichtensenders liefen, der über die Zusammenrottungen auf den Plätzen zu berichten schien und folgte den Stufen in den unteren Bereich des Raums, die zur Terrasse des Penthouse führten. Yaffar Amin stand auf dem windgeschützten Balkon, hatte die Hände auf dessen Geländer gelegt und starrte abwesend auf die Straßen hinab, die mittlerweile von tausenden von Menschen bevölkert waren. Von ihrem Toben war hier oben dank des Sturms nicht allzu viel zu hören, aber allein die unglaubliche Menge der Demonstranten bescherte Yara ein Kribbeln im Nacken, das sie eindeutig als Warnung interpretierte und den Drang in ihr erweckte, Richthofen so schnell wie möglich zu verlassen.
»Ms. Bukhari.« Amin verzichtete darauf, sich ihr zuzuwenden. Stattdessen nahm er einen Schluck von seinem Tee und atmete tief ein.
»Es tut mir leid, Sir.«
»Was meinen Sie?«
»Anscheinend waren die von mir gemachten Aufnahmen und Interviews nicht gut genug, um von Ihnen gegen Biophol eingesetzt zu werden. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Ich habe versagt.«
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte er lächelnd und wandte sich um. »Außerdem war es nie meine Absicht, das Harvest-Programm zu verhindern.« Er zuckte die Achseln, während Yara ihn fassungslos anstarrte. »Zumindest nicht auf diese Weise.«
Yara glaubte, sich verhört zu haben. Die Ermittlungen gegen Biophol hatten sich als lebensgefährlich herausgestellt, und Amin hatte ihr gerade eröffnet, dass diese ohnehin nichts verhindert hätten. Wozu dann das ganze Theater?
»Warum haben Sie mich in dem Glauben gelassen, das meine Bemühungen etwas bewirken könnten?«
»Wir mussten den Schein wahren, Ms. Bukhari. Der Untersuchungsausschuss sollte stattfinden und ganz nach den Regeln durchgeführt werden.« Er verzog den Mund zu einem Schmunzeln. »Es durfte auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass die Regierung den Downers das Programm mithilfe des Konzerns aufzwingen würde.«
»Die Abgeordneten haben geschlossen dafür gestimmt«, wandte Yara ein. »Wie haben Sie …«
»Einige hatten Schulden«, stellte er fest. »Es bedurfte nicht viel, um sie ihre Ideale über Bord werfen zu lassen. «
»Aber ich verstehe nicht, was das alles mit der Al Khana-Front zu tun hat. Warum arbeiten Sie mit Biophol zusammen? Geht es um Tekknotron?«
Amin sah sie überrascht an und prostete ihr anschließend anerkennend zu. »Ich wusste, dass Sie gut sind, Yara.« Er begann zu lachen. »Wirklich gut. Tekknotron wurde nur gegründet, um einen Deal zwischen Biophol und Alcatex einzufädeln. Ein Geschäft, das existentiell für das Harvest-Programm war.«
»Was für ein Geschäft?« Sie sah ihn entsetzt an. »Was haben Sie getan?«
»Es ging um die Chips, die die Bioneers steuern«, erklärte er ruhig. »Alcatex hat diese für ein militärisches Projekt entwickelt. Sie haben versucht, gegnerische Soldaten mithilfe dieser biotechnologischen Neuentwicklung zu übernehmen und gegen mögliche Aggressoren einzusetzen, aber alle Versuchssubjekte sind während der Testphase verstorben. Da Alcatex’ Ruf zu dieser Zeit aufgrund massiver Waffenlieferungen und der daraus folgenden achten Syrienkrise ohnehin angeschlagen war, wurde das Projekt eingestampft, um den Medien keinen Raum für weitere Breitseiten zu liefern. Aber die Chips hat man nicht vernichtet. Als Biophol beschloss, das Harvest-Programm zu entwickeln, stellte sich schnell die Frage nach der Technik. Vor allem die hohen Kosten einer Eigenentwicklung drohten das Programm relativ früh zu beenden, weshalb ich den Konzern über einen Mittelsmann auf Alcatex’ Chip aufmerksam machen ließ, der einen Großteil der nötigen Entwicklungen bereits hinter sich hatte. Kurz darauf habe ich zusammen mit Ihrem Vater Tekknotron gegründet und den Deal eingefädelt.«
»Dann sind Sie der zweite stille Teilhaber?«
»Das ist korrekt. «
Yara atmete scharf aus. »Aber warum all der Aufwand, um dieses Geschäft zu verschleiern?«
»Die Öffentlichkeit hätte nicht verstanden, dass der Konzern aus Kostengründen auf militärische Chips zurückgreift, um das Projekt zu verwirklichen.« Er sah sie ernst an. »Aber die Chips waren nun mal da, und es macht keinen Sinn, die gleiche Entwicklungsarbeit noch einmal finanzieren zu müssen. Wir haben sie eingekauft, ihnen ein neues Label verpasst und an Biophol abgetreten. Das war alles.«
»Wie viel Gewinn haben Sie und mein Vater bei dem Verkauf gemacht?« Yara setzte einen skeptischen Blick auf, während ein Teil ihrer Überzeugung und damit ihrer heilen Welt zusammenbrach.
»Es war nur ein Geschäft«, erwiderte Amin ungerührt. »Wir haben die zusätzlichen Mittel gebraucht, um ein weiteres Projekt zu finanzieren.«
Yara hob überrascht eine Augenbraue. »Was … Was soll das bedeuten? Was für ein Projekt?«
»Die Al Khana-Front liegt seit der neusten Umfrage bei einer satten Mehrheit. Die Bevölkerung Richthofens ist unzufrieden. Wenn demnächst Wahlen währen, würden wir die Freien Patrioten, die Sozialdemokraten und die Grüne Hand weit zurücklassen. Vielleicht würden wir sogar die absolute Mehrheit erreichen, dann könnten wir diesen Stadtstaat – und vielleicht sogar das ganze Land – nach unseren Vorstellungen gestalten. Wir könnten das Leben für unsere Glaubensbrüder und -schwestern so viel besser machen und den Einfluss all der Ungläubigen so weit zurückdrängen, wie nie zuvor.«
»Aber die nächsten Bundestagswahlen finden erst in zwei Jahren statt, wie …«
»Es gibt eine unscheinbare Klausel, die vor drei Jahrzehnten aufgrund des Drängens unserer Vorgängerpartei in das Wahlgesetz eingefügt wurde. Eine Klausel, die bei komplettem Kontrollverlust der Regierung greift. Sobald eine Situation eintritt, die Richthofen an den Rand des Abgrunds bringen und die Ausrufung des Ausnahmezustands erzwingen würde, könnte die Opposition jederzeit die Vertrauensfrage stellen und Neuwahlen ausrufen lassen. Da es sich um eine Ausnahmesituation handeln würde, wäre das Zeitfenster zwar eng, die durch unser Taktikteam prognostizierten Ergebnisse allerdings überwältigend. Vor allem für unsere Partei.«
Yara versuchte, die Situation zu verstehen, aber die sich langsam abzeichnende Wahrheit war einfach zu verstörend, als dass sie bereit gewesen wäre, sie zu akzeptieren.
»Von welcher Ausnahmesituation reden Sie? Wollen Sie damit andeuten, Sie arbeiten mit den Ökoterroristen zusammen?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Amin lächelnd. »Ali Haddad ist der Mann, der die Drecksarbeit für uns in den Downers erledigt. Er koordiniert seit Wochen unsere Prediger und lässt die Downers aufwiegeln, während er gleichzeitig Gerüchte verbreiten lässt, dass die Ökofront hinter den Hasspredigern steckt.« Er nahm erneut einen Schluck Tee und setzte ein breites Grinsen auf. »Wenn alles vorbei ist, wird niemand einen Bezug zu uns herstellen können und falls doch, wird es längst zu spät sein. Wir werden die Macht übernehmen und zuerst Richthofen und danach ganz Deutschland nach unseren Vorstellungen umgestalten.«
»Wenn was vorbei ist?«, hakte Yara skeptisch nach, obwohl sie langsam begann, die Zusammenhänge zu verstehen. Aber sie wollte es von Yaffar Amin persönlich hören. »Um was geht es denn überhaupt?«
»Ist das nicht offensichtlich?« Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Um die Downers. Oder besser um die Menschen, die dort vor sich hin vegetieren.«
Yara starrte ihn fragend an.
»Das ist der gemeinsame Nenner, verstehen Sie? Die Zustände in den Downers sind der Regierung schon lange ein Dorn im Auge. Die Migranten sind ungebildet, verursachen hohe Kosten und belasten den Rest unseres Sozialsystems, der uns noch geblieben ist. Außerdem besetzen sie einen großen Teil der Immobilien, die die Al Khana-Front über die Jahrzehnte erstanden hat.«
»Sie meinen, die Sie erstanden haben«, wandte Yara ein, während sie langsam wütend wurde.
»Das macht keinen Unterschied«, fuhr er unbekümmert fort. »Der Punkt ist, dass uns diese Menschen im Weg sind. Genau wie der derzeitigen Regierung. Wir wollen dieses Pack loswerden …«
»Aber ein Großteil der Migranten sind ebenfalls Muslime!«, stellte Yara fassungslos fest. »Wir glauben an denselben Gott!«
»Unsere Vorfahren«, er zeigte auf sich und Yara, »kämpfen seit über einhundert Jahren für ein besseres Leben in dieser Stadt und in diesem Land. Sie haben ihre Heimat verlassen, sich eingebracht, sich über all die Hindernisse hinweggesetzt, die ihnen die Einheimischen in den Weg gelegt haben und während all der Zeit ihre Wurzeln nicht vergessen. Sie haben über Generationen die Zähne zusammengebissen, um jetzt kurz davor zu stehen, das Ruder ein für alle Mal herumzureißen. Wie können Sie es wagen, uns mit dem Pack in den Downers zu vergleichen! Wir sind nicht wie die!« Er zeigte aufgebracht mit dem Finger auf die wütenden Menschenmassen am Fuße des Wolkenkratzers. »Wir haben uns nach oben gekämpft, haben Opfer erbracht und uns jahrzehntelang wie Menschen zweiter Klasse behandeln lassen! Wir haben es verdient, in Zukunft über dieses Land zu bestimmen, und wir werden uns dieses Recht nicht mehr nehmen lassen! Von niemandem!« Er funkelte Yara verärgert an. »Aber vor allem nicht von diesen Schmarotzern dort unten!«
Sie machte erschrocken einen Schritt zurück, während Amin sich in Rage redete.
»Es ist an der Zeit, dass sie unserer Gemeinschaft etwas zurückgeben! Deshalb wurde das Harvest-Programm geschaffen! Wir werden sie ausschlachten und ihre Organe unseren Leuten zukommen lassen, die diesen Stadtstaat zu dem gemacht haben, was er heute ist! Wir werden sie schleichend dezimieren, bis keiner mehr übrig ist! Danach werden die Downers auf Vordermann gebracht und wieder in den Rest Richthofens integriert. Der illegale Organhandel wird zurückgedrängt, und die freien Immobilien werden für eine Entspannung des Wohnungsmarktes sorgen. Die Bevölkerung wird uns dafür lieben und uns an der Macht halten.«
Yara konnte kaum glauben, was Amin eben von sich gegeben hatte. »Ist das Ihr Ernst? Sie wollen all den Menschen die Organe stehlen? Wie zur Hölle soll das funktionieren? Wer einen Harvest-Vertrag abschließt, muss erst mal sterben, damit sein Körper ins Eigentum Biophols übergeht. Und das kann Jahre dauern …«
Amin verzog den Mund zu einem diabolischen Grinsen. »Wer sagt, dass wir den Todeszeitpunkt nicht beeinflussen können? Die Chips stehen unter unserer Kontrolle. Wir können die Träger jederzeit sterben lassen. Wir könnten eine Pandemie vortäuschen, vielleicht einen neuartigen Virus erfinden, diesen von den Medien pushen lassen und die Downers im gleichen Zug vom derzeitigen Bodensatz befreien.« Er begann zu lachen. »Harvest – die Ernte – der Name des Projekts kommt nicht von ungefähr, verstehen Sie?«
Yaras Magen zog sich zusammen, als sich unschöne Bilder in ihrem Kopf bildeten. Bilder einer gewaltigen Säuberung, die Millionen von Toten fordern würde. Und wieder würde es die Schwächsten treffen, die ohnehin jeden Tag ums Überleben kämpften.
»Das hätte ich Ihnen nie zugetraut.«
»Was heißt mir? Ich bin nicht der Einzige, der in der Sache mit drinsteckt.« Er begann erneut zu lachen. »Es gibt Verantwortungsträger aus allen Bereichen, die bei diesem Projekt zusammenarbeiten. Menschen aus der Regierung, Konzernvertreter, Abgeordnete der unterschiedlichsten Parteien und Vertreter des kriminellen Milieus Richthofens. Eine Koalition der Willigen, sozusagen. Der Punkt ist: Die Nachfrage nach Organen wird immer größer, während die Downers die Staatskassen zunehmend belasten. Das ist eine Win-win-Situation für alle Beteiligten, verstehen Sie? Deshalb war von Anfang an klar, dass das Harvest-Programm den Untersuchungsausschuss überstehen wird. Die Entscheidung konnte nicht anders ausfallen.« Er zuckte mit den Achseln und leerte sein Glas. »Wir sind die Guten, Ms. Bukhari. Vergessen Sie das nicht.«
»Ich bin nicht wie Sie!«, erwiderte Yara angewidert und entfernte sich erneut einen Schritt von ihm. »Ich will nicht wie Sie sein!«
»Dazu ist es zu spät, meine Liebe«, sagte Amin süffisant. »Sie haben mir das letzte Teil des Puzzles geliefert, um das Timing für die Statisten in den Straßen perfekt zu machen.«
»Wie meinen Sie das?« Yara starrte ihn skeptisch an, während sie überlegte, wie sie Amin entkommen konnte. Denn sie vermutete, dass er ihr all diese Dinge nicht erzählen würde, wenn er nicht vorhätte, sie verschwinden zu lassen.
»Nun, irgendwie müssen wir den Mob dazu bringen, auszurasten, nicht wahr? Und Sie haben mir den Auslöser geliefert. Auch wenn ich etwas nachgeholfen und einen Freund von Javier Carlos ermutigt habe, ihn zu überreden, in das Testgelände einzudringen. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich nicht damit gerechnet, dass die Jungs dabei sterben könnten. Aber hey, es ist trotzdem passiert, und der Vorfall hat sich für meine Ziele als äußerst förderlich erwiesen.«
»Bitte?«, erwiderte Yara ungläubig, als sie in der Spiegelung einer Glastür drei Schatten im luxuriös ausgestatteten Büro bemerkte.
»Mein Mediateam hat einen interessanten Kurzfilm aus den von Ihnen angefertigten Aufnahmen im Pumpwerk gemacht. Dieser Film wird das Fass zum richtigen Zeitpunkt zum Überlaufen bringen. Und das ist allein Ihr Verdienst.«
»Wagen Sie es nicht, mich in diese Sache mit reinzuziehen«, warnte sie ihn. »Ich habe damit nichts zu tun und …«
»Sie stecken doch schon bis zum Hals mit drin«, entgegnete er kalt. »Genau wie ihr Vater und ein großer Teil ihrer Familie. Geld stinkt nicht, Ms. Bukhari, und ihr alter Herr ist das beste Beispiel, um diese allgemeingültige Wahrheit zu bestätigen. Er hat sich mittlerweile so weit von unseren Glaubensgrundsätzen und Werten verabschiedet, dass ich mir nicht mehr sicher bin, ob er in seinem Herzen überhaupt noch ein Muslim ist.« Er stellte das leere Glas auf dem Tisch einer Sitzgruppe ab. »Und jetzt kommen Sie. Ich will Ihnen das Resultat Ihrer Bemühungen nicht vorenthalten.« Er ging zu ihr, legte die Hand auf ihren Oberarm und schob sie zurück in den Raum, um das riesige Display zu bedienen. Abbas und zwei andere Männer, die ebenfalls wie Bodyguards aussahen, lauerten in den Schatten ohne Yara aus den Augen zu lassen. Amin rief währenddessen eine Videodatei auf, aktivierte den Ton und setzte die Wiedergabe in Gang. Yara versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ihre Fassungslosigkeit wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Sie konnte kaum glauben, dass Amin bereit war, das Risiko in Kauf zu nehmen, Richthofen für seine Ziele in Schutt und Asche zu legen.
Zak parkte den Hummer hinter einem Lkw, stieg aus und näherte sich dem umfunktionierten Wohnblock. Es handelte sich um ein altes Hallenbad, das anscheinend schon vor Jahren umgebaut worden war, um Platz für neue Wohnungen zu schaffen. Zak stapfte vorsichtig durch den Schnee, bis er drei dunkle Fahrzeuge entdeckte, die direkt vor dem Eingang geparkt worden waren. Ihre Motoren liefen noch, was implizierte, dass die Fahrer sich nach wie vor in den Kabinen aufhalten mussten. Es handelte sich um zwei Geländewagen und einen Narko. Beim Anblick des Transporters meldete sich sein schlechtes Gewissen wieder, das ihn verfolgte, seit er Brecher – und damit Bianca – verloren hatte. Seine Schwester würde für seinen Versuch, den Mann zu überrumpeln, büßen müssen, und er konnte den Gedanken, an allem Schuld zu sein, beim besten Willen nicht abschütteln. Gottverdammt! Was hatte er sich nur dabei gedacht? Brecher hatte sich natürlich einen Fluchtweg offen gehalten und diesen so präpariert, dass er nicht leicht zu erkennen gewesen war. Zak hatte den Kerl unterschätzt und die Sache nur verschlimmert. Jetzt würde Brecher seine Wut an Bianca auslassen, und Zak würde für den Rest seiner Tage damit leben müssen.
Er zwängte sich fluchend in die verschneite Nische eines angrenzenden Gebäudes und überprüfte die MP5 sowie die Pistole im Holster. Das Kampfmesser hatte er am Stiefel befestigt. Anschließend verließ er sein Versteck und lief direkt zum Eingang. Da er den Kampfpanzer samt Helm einem von Brechers Männern in der Basis gestohlen hatte, ging er das Risiko ein, sich einfach unter seine Gegner zu mischen. Er hatte ohnehin keine Zeit, sich eine subtilere Taktik zu überlegen und sich am Ende für den direkten Weg entschieden. Als er die beiden Männer am Eingang passierte, hielt ihn einer an der Schulter zurück.
»Warum hast du dich nicht bei den Verwundeten gemeldet?« Er zeigte auf das eingetrocknete Blut an Zaks Overall. »Brecher hat euch doch befohlen, in die Basis zu fahren und euch verarzten zu lassen!«
»Ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, erwiderte Zak mit einer Stimme, die vom Helm entsprechend gedämpft wurde. Anscheinend war der Mann Brecher unterstellt. Das bedeutete, dass er sich während des Überfalls in der Halle aufgehalten und mit seinem Vorgesetzten geflüchtet war. Wenn Zak etwas Glück hatte, war Brecher jetzt bei Claire. Und wenn der Kerl sich tatsächlich in ihrem Apartment aufhielt, war Bianca vielleicht doch nicht verloren! Draußen stand immerhin ein Narko und falls Zak schnell handelte
Er wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken und konzentrierte sich wieder auf den Söldner, der ihn nach wie vor festhielt.
»Ist er oben?«
»Ja.«
Zak riss sich los, beachtete den Kerl nicht weiter und ging zu einem der Aufzüge. Die Frau an der Rezeption bedachte ihn mit einem skeptischen Blick, während er den Empfangsbereich passierte und die leere Kabine betrat. Er aktivierte deren Display und ließ sich in das Stockwerk bringen, dessen Nummer und Berechtigungscodes Claire ihm hatte zukommen lassen. Während des Wegs nach oben starrte Zak wie gebannt auf die digitale Anzeige des Displays. Er wusste nicht, mit wie vielen Gegnern er es zu tun haben oder was ihn im Apartment der Datenspezialistin erwarten würde. Das Risiko war groß, doch das war nicht wichtig. Claire hatte ihm bereits mehrfach aus der Patsche geholfen, und nun war es an der Zeit, sich für ihre Hilfe zu revanchieren.
Die schallgedämpfte MP5 hing mit einem Gurt gesichert vor seiner Brust. Seine rechte Hand lag auf den Schalen aus Kunststoff, während seine linke den vertikalen Griff weiter unten locker umklammerte. Als sich die Aufzugtüren öffneten, verließ er die Kabine. Der Korridor lag verlassen vor ihm. Er wandte sich nach rechts und hielt sich an der Wand, während er über den geräuschdämpfenden Teppich schritt und sich dem fraglichen Apartment näherte. Vor dessen Tür hatte einer von Brechers Männern Stellung bezogen. Zak blieb nicht viel Zeit, um den Cop in ihm zu überzeugen, sein Gewissen – und damit seine Skrupel – abzulegen. Brecher und dessen Söldner waren kaltblütige Killer, die kein Problem damit hatten, Menschen für ihre Ziele zu opfern. Zak würde keine Chance haben, solange er sich deren Spielregeln widersetzte, weshalb er seine letzten Zweifel über Bord warf, die Maschinenpistole entsicherte und entschlossen auf den Mann zuging. Als der Söldner sich umwandte, schoss Zak ihm durchs Visier ins Gesicht. Es war nicht mehr als ein dumpfer, stark gedämpfter Knall. Flop! So als ob jemand mit dem Knie gegen einen Schrank aus Metall gestoßen war. Der Mann klappte stumm zusammen und blieb regungslos liegen. Zak wich dem Körper aus und stürmte mit vorgehaltener Waffe ins Apartment. Er betrat den Eingangsbereich, ging zum nächsten abzweigenden Durchgang und lugte in die Küche. Ein Söldner plünderte den Kühlschrank. Flop! Flop! Zak erschoss ihn durch die geöffnete Kühlschranktür, stieg über ihn und erledigte einen weiteren Mann im Wirtschaftsraum. Der Kerl brach vor einem Regal zusammen, das mit einer Menge Konserven vollgestellt war. Er erreichte den Korridor über einen breiten Durchgang, folgte ihm und sicherte das geräumige Bad. Danach ging er zurück und überbrückte die letzten Meter zu Claires Wohnzimmer, das sie zu ihrem Arbeitsbereich umfunktioniert hatte. Der Raum war mit Displays, Rechnern und Servern vollgestopft, die mit einem Wust aus Kabeln miteinander verbunden waren. Zak entdeckte eine Menge Geräte, mit denen er nichts anfangen konnte. Dazwischen standen drei Söldner. Einer beugte sich zu einer Frau mittleren Alters, die angsterfüllt in einem Rollstuhl saß und um ihr Leben zu fürchten schien. Flop! Flop! Zak schoss den beiden stehenden Männern in die Köpfe und dem dritten in die ungeschützte Stelle unter der Achsel. Flop! Der Kerl grunzte, wandte sich zu ihm um und brach röchelnd zusammen. Als Zak zu Claire gehen wollte, um sich zu erkennen zu geben, trat ihm jemand die MP5 aus der Hand, worauf die Waffe sich in den Gurten vor seinem Körper verfing. Zak war so überrascht, dass er den folgenden Schlag nicht kommen sah. Der Helm wurde ihm mit einem knackenden Geräusch vom Kopf gerissen und er konnte im letzten Moment nach hinten ausweichen, bevor Brecher ihm den Totschläger erneut über den Schädel ziehen konnte. Zak ignorierte die weißen Blitze vor seinen Augen, wich zur Seite aus und parierte eine weitere Attacke zu seinem Kopf.
Brecher musste nach dem Angriff von Berishas Kämpfern direkt hierher gefahren sein, was bedeutete, dass Bianca sich vielleicht tatsächlich in dem Narko befand, der vor der Wohnanlage geparkt war. Er musste den Kerl nur überwältigen und Claire in Sicherheit bringen, bevor er sich um seine Schwester kümmern konnte.
Zak blockte einen Schlag zum Hals, sicherte Brechers Handgelenk und entwaffnete ihn mit einem Ruck seines Körpers. Der Totschläger flog durch die Projektion eines Displays und verschwand hinter einem der Schreibtische, während Brecher mit hassverzerrtem Gesicht eine weitere Angriffsserie startete und wie ein Berserker auf Zak einschlug. Er blockte einen Schlag zum Hals, parierte einen Tritt zum Knie und wollte die Maschinenpistole hochreißen, aber Brecher begann ebenfalls an der Waffe zu zerren, bis sich Schüsse lösten. Die anschließenden Treffer zerfetzten ein physisches Display und fraßen sich in das elektronische Equipment eines Racks. Zak ließ los und griff Brechers Augen an, aber der Kerl fiel zurück und konterte mit einem Tritt zu Zaks Knie. Der Schmerz war dumpf, gleichzeitig stechend. Zak revanchierte sich fluchend mit einer linken Geraden, gefolgt von einer rechten und einem Ellbogenschlag zur Schläfe, der über Brechers Jochbein schrammte und dessen Nase brach. Der Kerl ignorierte den Schmerz, verpasste Zak einen Kopfstoß, der an seiner Stirn abrutschte und trat ihm vor die Brustplatte. Der Tritt schleuderte ihn zurück gegen einen Schreibtisch. Er riss einen elektronischen Kasten aus einem Wirrwarr von Kabeln und zerschmetterte diesen auf Brechers Schädel. Der Mann wankte kurz zurück, fing sich wieder und bedankte sich mit einem Haken in Zaks Seite, die relativ ungeschützt war. Der Schlag presste ihm die Luft aus den Lungen, ließ ihn stolpern und gegen einen Servertower krachen. Brecher mochte älter als Zak sein, aber er war ein verdammt zäher Hund, und Zak lief die Zeit davon. Es würde nicht lange dauern, bis der Rest der Söldner mitbekommen würde, dass hier oben etwas nicht stimmte. Brecher musste fallen – und zwar schnell!
Zak parierte einen erneuten Tritt, um seinen Gegner kurz darauf zu umklammern und auszuheben, aber Brecher hielt sich an einem Rack fest, rammte seinen Ellbogen in Zaks Rücken und schleuderte ihn unter einen Tisch. Zak rappelte sich fluchend auf, versetzte dem Drehstuhl einen Tritt und stieß ihn zwischen Brechers Beine, als er zum Korridor laufen wollte. Er stürzte über den Stuhl und krachte gegen eine Pflanze aus Plastik, die mit ihm zu Boden ging. Zak sprang währenddessen auf, lief zu ihm und wollte ihm den Arm um den Hals legen. Aber Brecher wand sich aus dem angesetzten Würger, zog Zaks Messer aus desen Stiefel und versetzte ihm während des Aufstehens einen Kopfstoß unter das Kinn, der Zaks Zähne aufeinanderschlagen ließ und weiße Blitze vor seine Augen zauberte. Er taumelte zurück und registrierte, dass ein verschwommener Schemen ausholte und nach ihm schlug, bis sich die Klinge unter sein linkes Schlüsselbein bohrte und er vor Schmerzen zu brüllen begann. Zak blockierte Brechers Messerhand, rammte ihm fast gleichzeitig die Stirn ins Gesicht und griff nach der Maschinenpistole, die noch immer vor seiner Brust baumelte. Danach richtete er deren Lauf auf Brechers Körper und drückte ab. Die Salve durchlöcherte dessen linken Oberarm, riss seinen Kevlarpanzer auf und traf seinen rechten Oberschenkel. Eine Sekunde später befreite er sich aus Zaks Griff und stolperte fluchend in den Gang. Zak zielte auf seinen Hinterkopf, aber Brecher war schneller und rettete sich im letzten Moment in den Korridor, der ihn zu den Aufzügen bringen würde. Zak lief schwer atmend zur Wohnungstür, zog diese zu und verbarrikadierte sie mit einem Sideboard. Anschließend hetzte er zurück zu Claire, die zitternd im Rollstuhl saß und ihn verängstigt anstarrte. Ihre schulterlangen braunen Haare waren zerzaust. Sie hatte eine Schramme an der Wange abbekommen und eine aufgeplatzte Lippe, die ihrem hübschen Gesicht allerdings keinen Abbruch tat. Sie verfolgte Zaks Bewegungen mit ihren glänzenden grünen Augen und zuckte merklich zurück, als er sich ihr näherte.
»Hey! Alles okay?«
»J... Ja …«
»Gibt es einen Hinterausgang?«
»Wie meinst du das?«
»Wir müssen hier raus. Ich bring dich in das sichere Apartment und …«
»Auf keinen Fall!«
»Bitte?«
»Ich kann die Wohnung nicht verlassen.«
»Aber du musst!«, erwiderte er entschlossen. »Ich bin mir sicher, dass du deine wertvollen Daten doppelt und dreifach abgesichert hast, richtig? Du kannst von jedem Standort darauf zugreifen. Also los! Lass uns gehen!«
»Ich kann nicht. «
»Ich bring dich irgendwie runter. Wir finden einen anderen Rollstuhl und …«
»Das ist nicht das Problem!«
»Was ist es dann?« Er sah sie fragend an.
»Ich …« Sie wandte den Blick ab. »Ich leide an einer schweren Form der Agoraphobie. Inklusive Panikstörungen.«
»Das heißt?«
»Ich sterbe lieber, als dass ich meine Wohnung verlassen würde.«
»Aber …«
»Kein Aber.« Sie verschränkte die Arme und verzog den Mund, während Zak die Optionen durchging. Sie mussten hier raus. Und zwar schnell. Brecher würde Verstärkungen schicken, die das Apartment der Datenspezialistin auf den Kopf stellten – inklusive Claire!
»Du musst hier raus«, startete er einen neuen Versuch. »Die Söldner sind sicher schon auf dem Weg nach oben, und ich werde sie nicht aufhalten können«, er nickte zu dem Messer, das nach wie vor in seinem Körper steckte. »Sie werden dich erledigen oder mitnehmen. Und niemand wird etwas dagegen unternehmen können.«
»Das ist mir egal.«
»Claire!«
»Das ist mir egal!«
»Wie du willst.« Zak wandte sich um, holte ein schweres Beruhigungsmittel aus dem Erste-Hilfe-Set eines toten Söldners und versteckte den Injektionsstift in seiner Hand. Anschließend ging er zu Claire und jagte ihr dessen Inhalt in den Hals.
»Was hast du getan?«
»Alles wird gut.«
»Du verdammter …« Sie wollte nach ihm schlagen, aber da s Mittel wirkte bereits und ließ sie kraftlos in ihrem Rollstuhl zusammensinken.
Zak verlor keine Zeit und suchte das Apartment nach einem Fluchtweg ab. Dabei fielen ihm all die Bilder ferner Länder und deren Sehenswürdigkeiten auf, die an Wänden, Raumtrennern und sonstigen freien Flächen der Wohnung angebracht worden waren. Angkor Wat, Taj Mahal, das Tal der Könige, die Niagarafälle und einer Menge anderer schöner Orte der Welt. All die Fotos und idealisierten Illustrationen schienen ein Ausdruck von Claires Sehnsucht zu sein, ihr Gefängnis verlassen zu wollen, aber ihre Panikstörungen waren anscheinend zu massiv, um sie über ihren Schatten springen zu lassen. Zak bedauerte, dass ausgerechnet er es war, der sie aus ihrem Nest stoßen würde. Aber er sah keine andere Möglichkeit, um sie in Sicherheit zu bringen.
Zak durchsuchte die Wohnung, so schnell er konnte, und fand tatsächlich eine zweite Tür in einer Abstellkammer hinter dem Schlafzimmer. Er konnte diese dank der Berechtigungscodes öffnen und folgte einem Steg zu einer Feuerleiter, die einen Aufzug besaß, dessen Kabine einem Käfig ähnelte und aus Gitterplatten bestand. Außerdem entdeckte er ein Paar biomechanischer Beinschienen, die es querschnittsgelähmten Menschen ermöglichte, sich ohne einen Rollstuhl fortbewegen zu können. Claire hatte die hochentwickelten Prothesen nicht mal ausgepackt.
Nach einigen Minuten ging er zu ihr, atmete tief durch und hob sie vor Schmerzen knurrend aus dem Rollstuhl. Seine Brust brannte wie Feuer, aber er wagte es nicht, die Klinge aus seinem Körper zu ziehen. Stattdessen biss er die Zähne zusammen und trug Claire zum Lastenaufzug.
Es war bitterkalt und die Datenspezialistin hatte nur einen leichten Jogginganzug an. Zak beeilte sich, brachte sie zum Hummer und schloss sie im Wagen ein. Anschließend hetzte er zurück, um Decken und die Prothesen zu holen und das Apartment zu verschließen. Als er erneut zum Hummer lief, fiel ihm auf, dass der Narko verschwunden war. Dafür fuhren drei Panzerwagen mit schlitternden Reifen auf den Parkplatz. Zak ignorierte die Söldner, stieg in den Wagen und verließ das Areal.
Nach einigen Minuten begann Claire auf der Rückbank benommen zu flüstern. Die Drogen schienen sie fest im Griff zu haben, was eine sehr undeutliche Sprache zur Folge hatte.
»W... Was hast du getan?«
»Tut mir leid«, erwiderte er leise. »Ich konnte dich nicht zurücklassen.«
»Einmal ein Cop, immer ein Cop.«
Zak dachte an die Männer, die er vor Kurzem kaltblütig erschossen hatte und schüttelte betreten den Kopf. »Nicht mehr.«
Claire versuchte verächtlich zu schnauben, scheiterte bei dem Versuch und begann zu weinen. »Gott, ich hab wirklich vor dem Moment Angst, wenn die Wirkung der Drogen nachlässt.«
Zak drückte ihre Hand und verzichtete auf einen Kommentar. Stattdessen gab er die Adresse des sicheren Apartments ein und startete das Navi, während sie benommen weiterredete.
»Brecher wollte die Berechtigungscodes für meinen Cloudspeicher, weil ich … weil ich die Basis erneut infiltriert hab. Aber … aber ich hab sie ihm nicht gegeben.«
»Das hast du gut gemacht«, lobte er sie. »Was hast du herausgefunden?« Zak hakte trotz Claires benebelten Zustands nach, weil er sie von ihrer Situation ablenken wollte, bis er sie in der sicheren Wohnung untergebracht hatte. Anscheinend wirkten sich die Drogen weniger auf ihren Verstand aus, als er angenommen hatte, denn sie redete wie ein Wasserfall. Sie erzählte ihm von militärischen Chips, die Biophol über eine Strohfirma von Alcatex erstanden hatte, um die Bioneers steuern zu können. Von einem Komplott der Regierung, das gegen die Downers gerichtet war und von Massen von Bioneers, die in diesem Moment die Straßen Richthofens von den Schneemassen säuberten, während der tobende Mob die Plätze belagerte. Zak hörte nur mit einem halben Ohr zu, weil seine Gedanken schon wieder bei Bianca hingen, bis Claire einen Punkt ansprach, der ihn aufhorchen ließ.
»Erinnerst du dich an den Begriff ›Ceres‹? Ich weiß jetzt, um was es sich dabei handelt.« Sie begann zufrieden zu schmunzeln. »Ceres wurde zusammen mit den Chips von Alcatex gekauft. Die Idee war, gegnerische Soldaten zu Marionetten zu machen und gegen die eigenen Kameraden einzusetzen. Die Koordination dieser Massen an umgedrehten Kriegern wäre für einzelne Individuen oder Teams unmöglich gewesen, weshalb die Chinesen eine militärische künstliche Intelligenz auf Basis von biotechnologischen Zellkörpern entwickelten, die diese Aufgabe im Fall einer Krise übernehmen sollte. Ceres’ Basisfähigkeiten, bezogen auf sich selbst und die Handlungsmuster, die sie bei entsprechenden Problemsituationen anwenden könnte, sind beachtlich. Allerdings erschien sie den Verantwortlichen zu selbständig zu agieren, weshalb man ihr diese Fähigkeit genommen und sie zusammen mit den Chips verkauft hat, um die Kosten der Forschung wenigstens zu einem Teil zu kompensieren. Biophol hat vor, sie zur Koordination der Bioneers zu verwenden, die ähnlich der Soldaten, in Kollektiven agieren. Sie hat mich gefunden … «
»Wo befindet sie sich?«
»In der Basis. Du musst sie gesehen haben, als du den Komplex infiltriert hast, erinnerst du dich?«
»Ich weiß nicht …«, erwiderte er nachdenklich. »Die Erinnerung ist verschwommen. Ich glaube, ich bin abgestürzt und wurde verletzt, aber die Bilder sind unklar und lückenhaft. Wie geht es dir?«
»Ich bin todmüde.«
»Dann ruh dich aus.«
»Aber …« Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen. »… da war noch etwas Wichtiges, das ich dir sagen wollte.«
»Was meinst du?«
»Ich weiß nicht. Ich bin so müde und …«
»Claire!«
»Ja?«
»Was wolltest du mir sagen? Geht es um Bianca?«
»Ja …« Sie schien kurz davor zu sein, einzuschlafen. »Brecher …«
»Ja?«
»… bringt sie zur Basis.« Sie atmete seufzend aus. »Um sie verschwinden zu lassen.«
Zak riss fluchend das Lenkrad herum und bog auf den Zubringer ab, der ihn direkt zu Sektor-33 bringen würde. Brecher saß vielleicht am längeren Hebel, aber Zak würde nicht aufgeben, bis er Bianca in Sicherheit wusste.