DAS ZIMMER ROCH NACH welken Blumen. Es regnete stark; dennoch packte Hal den Fensterrahmen und ruckte daran. Dennoch blieb das Fenster geschlossen; das Holz war von der Feuchtigkeit aufgequollen. Er versuchte es noch zweimal, dann blieb er schwer atmend stehen.
Das Bimmeln der kleinen Uhr auf dem Kaminsims brachte ihm zu Bewusstsein, dass er seit einer Viertelstunde mit halb offenem Mund vor dem Fenster stand und sich nicht entscheiden konnte, ob er einen Bediensteten rufen sollte, um das verdammte Ding zu öffnen, oder ob er es einfach mit der Faust einschlagen sollte.
Er wandte sich ab, und da ihm kalt war, steuerte er instinktiv auf das Feuer zu. Seit er sich dazu gezwungen hatte, das Bett zu verlassen, fühlte er sich, als wate er durch kalten Honig, und jetzt ließ er seine müden Knochen in den Sessel seines Vaters fallen.
Der Sessel seines Vaters. Verflucht. Er schloss die Augen und versuchte, den Willen aufzubringen, sich zu erheben und zu gehen. Das Leder war kalt und steif unter seinen Fingern, unter seinen Beinen, hart an seinem Rücken. Keinen Meter weiter konnte er das Feuer im Kamin spüren, doch die Wärme drang nicht bis zu ihm.
»Ich bringe Euch Euren Kaffee, Mylord.« Nasonbys Stimme durchschnitt den kalten Honig zusammen mit dem Kaffeeduft. Hal öffnete die Augen. Der Bedienstete hatte das Tablett bereits auf dem kleinen Intarsientisch abgestellt und war dabei, die Löffel zurechtzulegen, den Deckel vom Zuckerschälchen abzunehmen und die Zange perfekt zu arrangieren, mit sanfter Hand die Serviette zu entfernen, die um den Krug mit der warmen Milch gefaltet war – die Sahne befand sich in einem identischen Krug am anderen Ende, wo sie kalt blieb. Die Symmetrie und Nasonbys ruhige, gekonnte Bewegungen wirkten beruhigend.
»Danke«, brachte er heraus und wies Nasonby mit einer kleinen Geste an, sich um die Details zu kümmern. Nasonby leistete der Geste Folge, und die Tasse wurde ihm in die reglosen, wartenden Hände gedrückt. Er trank einen Schluck – perfekt, sehr heiß, aber doch nicht so, dass er sich den Mund verbrannte, süß und milchig – und nickte. Nasonby verschwand.
Eine kleine Weile konnte er einfach nur Kaffee trinken. Er brauchte nicht zu denken. Nach der Hälfte der Tasse zog er es in Betracht, aufzustehen und sich auf einen anderen Sessel zu setzen, doch inzwischen hatte sich das Leder gewärmt und an seinen Körper geschmiegt. Fast konnte er sich die Berührung seines Vaters auf seiner Schulter einbilden, das kurze Zudrücken, mit dem der Herzog seine Zuneigung zu seinen Söhnen gezeigt hatte. Verdammt. Es schnürte ihm plötzlich die Kehle zu, und er stellte die Tasse hin.
Wie mochte es John gehen?, fragte er sich. Gewiss war er in Aberdeen hinreichend sicher. Dennoch, er sollte seinem Bruder schreiben. Ihr Vetter Kenneth und ihre Cousine Eloise waren derart engstirnige, strenge Presbyterianer, dass nicht einmal ein Kartenspiel für sie infrage kam und sie am Sabbat keine andere Tätigkeit zuließen als das Lesen der Bibel.
Ein einziges Mal hatten er und Esmé sie besucht. Eloise hatte Esmé höflich gebeten, ihnen nach dem faden Abendessen aus Hammelbraten und Rübenpüree vorzulesen. Ohne den Text des Tages zu beachten, der mit einem handgearbeiteten Spitzenbändchen gekennzeichnet war, hatte Em munter in dem Buch geblättert und sich für die Geschichte von Jephthah entschieden, welcher geschworen hatte, wenn ihm der Herr den Sieg über die Ammoniter gewähren würde, diesem das Erste zu opfern, was ihn bei seiner Heimkehr begrüßte.
»Tatsächlich«, sagte Esmé mit einem Hauch von französischer Attitüde. Sie hob stirnrunzelnd den Blick. »Was, wenn es sein Hund gewesen wäre? Was meinst du, Mercy«, sagte sie an Hals zwölfjährige Nichte Mercy gewandt. »Wenn dein Papa eines Tages nach Hause käme und verkünden würde, dass er den kleinen Jasper umbringen würde«, beim Klang seines Namens blickte der Spaniel von seiner Matte auf, »nur weil er es Gott versprochen hätte, was würdest du tun?«
Mercy bekam vor Schreck große Augen, und ihre Unterlippe zitterte, als sie den Hund ansah.
»Aber … aber … das würde er nicht tun«, sagte sie. Doch dann sah sie ihren Vater an, Zweifel in den Augen. »Oder, Papa?«
»Aber wenn du es Gott versprochen hättest?«, wandte Esmé helfend ein und blickte ihn mit ihren großen blauen Augen an. Hal hatte zwar seine Freude an Kenneths Gesichtsausdruck, doch Eloise wurde allmählich rot, also hüstelte er – und sagte dann mit dem ausgeprägten, berauschenden Gefühl, als steuerte er eine Kutsche über eine Klippe: »Aber Jephthah ist nicht seinem Hund begegnet, oder? Was ist wirklich geschehen? Ruf es mir ins Gedächtnis – es ist eine Weile her, dass ich das Alte Testament gelesen habe.« Tatsächlich hatte er es noch nie gelesen, doch Esmé las gern darin und erzählte ihm die Geschichten – mit ihren eigenen unnachahmlichen Kommentaren.
Esmé hatte es sorgsam vermieden, ihn anzusehen, und stattdessen mit vorsichtigen Fingern die Seite gewendet und sich geräuspert.
»Da nun Jephthah kam gen Mizpa zu seinem Hause, siehe, da geht seine Tochter heraus ihm entgegen mit Pauken und Reigen; und sie war sein einziges Kind, und er hatte sonst keinen Sohn noch Tochter.
Und da er sie sah, zerriss er seine Kleider und sprach: Ach, meine Tochter, wie beugst du mich und betrübst mich! Denn ich habe meinen Mund aufgetan gegen den Herrn und kann’s nicht widerrufen.
Sie aber sprach: Mein Vater, hast du deinen Mund aufgetan gegen den Herrn, so tue mir, wie es aus deinem Mund gegangen ist, nachdem der Herr dich gerächt hat an deinen Feinden, den Kindern Ammons.
Und sie sprach zu ihrem Vater: Du wollest mir das tun, dass du mir lassest zwei Monate, dass ich von hinnen hinabgehe auf die Berge und meine Jungfrauschaft beweine mit meinen Gespielen.
Er sprach: Gehe hin!, und ließ sie zwei Monate gehen. Da ging sie hin mit ihren Gespielen und beweinte ihre Jungfrauschaft auf den Bergen.
Und nach zwei Monaten kam sie wieder zu ihrem Vater. Und er tat ihr, wie er gelobt hatte; und sie war nie eines Mannes schuldig geworden. Und es ward eine Gewohnheit in Israel, dass die Töchter Israels jährlich hingehen zu klagen vier Tage um die Tochter Jephthahs, des Gileaditers.«
Dann hatte sie gelacht und das Buch geschlossen.
»Ich glaube nicht, dass ich meine Jungfrauschaft lang beweint hätte. Ich wäre ohne sie nach Hause gekommen …« Jetzt hatte sie ihm in die Augen gesehen, und ihr Funke hatte sein Inneres in Flammen gesetzt. »Dann hätten wir ja gesehen, ob mein lieber Papa mich noch als geeignetes Opfer betrachtet hätte.«
Seine Augen waren geschlossen; er atmete schwer, und ihm war vage bewusst, dass ihm Tränen zwischen den Lidern hervorquollen.
»Du Biest«, flüsterte er. »Em, du Biest!«
Er atmete, bis die Erinnerung verblasste und das Echo ihrer Stimme in seinen Ohren verstummte. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass sein Kinn in seinen Händen ruhte, die Ellbogen auf seinen Knien, und dass sein Blick auf den Kaminläufer geheftet war. Ein teures Stück Teppich für einen solchen Zweck. Weiche, flauschige weiße Wolle mit dem Wappen der Greys in der Mitte und rechts und links davon ein extravagantes »H« und »E« in schwarzer Seide. Sie hatte den Läufer für ihn anfertigen lassen – ein Hochzeitsgeschenk.
Er hatte ihr einen Diamanten an einer Kette geschenkt. Und diese zusammen mit ihr und ihrem Kind vor einem Monat beerdigt.
Er schloss die Augen wieder. Und atmete.
NACH EINER WEILE stand er auf und wanderte durch den Flur zu dem Kämmerchen, das er sich als Studierzimmer eingerichtet hatte. Darin war es eng wie in einem Ei, doch er brauchte nicht viel Platz – und die Enge schien ihm beim Denken zu helfen, weil sie die Außenwelt teilweise aussperrte.
Er zog einen Federkiel aus dem Glas und biss geistesabwesend darauf, sodass er den bitteren Geschmack getrockneter Tinte auf der Zunge hatte. Am besten stutzte er sich eine neue Feder zurecht, doch er brachte die Energie nicht auf, sein Taschenmesser zu suchen, und welche Rolle spielte das auch? John würde sich nicht an ein paar Klecksen stören.
Papier … Er hatte noch ein gutes Dutzend der Pergamentbögen, die er benutzt hatte, um die Beileidsbekundungen zu beantworten, die er Esmés wegen erhalten hatte. Sie waren körbeweise gekommen – anders als die wenigen, verlegenen Noten, die vor drei Jahren auf den Selbstmord seines Vaters gefolgt waren. Er hatte die Antworten selbst geschrieben, obwohl ihm seine Mutter angeboten hatte zu helfen. Er war von etwas erfüllt gewesen wie dem elektrischen Fluidum, von dem die Naturphilosophen sprachen, etwas, das ihn für Bedürfnisse wie Essen oder Schlafen unempfindlich machte, das seinen Kopf und seinen Körper mit einem manischen Drang erfüllte, sich zu bewegen, irgendetwas zu tun – obwohl es weiß Gott nichts mehr gab, was er hätte tun können, nachdem er Nathaniel Twelvetrees umgebracht hatte. Nicht, dass er es nicht versucht hatte …
J– schrieb er und hielt abrupt inne. Was gab es zu sagen? Ich hoffe inständig, dass du nicht tot bist? Hast du irgendwelche Fremden gesehen, die Fragen stellen? Wie findest du Aberdeen? Abgesehen davon, dass es kalt ist und feucht, trostlos und grau …
Nachdem er den Federkiel eine Weile hin- und hergedreht hatte, gab er es auf, schrieb, Viel Glück – H, löschte das Papier mit Sand, faltete es zusammen und griff nach der Kerze, um etwas rußgeschwärztes Wachs auf das Papier tropfen zu lassen und seinen Siegelring hineinzudrücken. Ein Schwan, der mit ausgestrecktem Hals vor dem Vollmond dahinflog.
Eine Stunde später saß er immer noch an seinem Schreibtisch. Es gab Fortschritte: Johns Brief stand zusammengefaltet und versiegelt auf dem Schreibtisch, ordentlich beschriftet mit der Adresse der Armstrongs in Aberdeen – mit einem frischen Federkiel. Das Pergamentpapier war, vom Staub befreit, ordentlich zusammengelegt in der Schublade verstaut. Und er hatte die Quelle des fauligen Blumengeruchs gefunden: ein verwelktes Nelkensträußchen in einem Tonkrug auf der Fensterbank. Dieses Fenster hatte er aufbekommen und die Blumen hinausgeworfen; dann hatte er einen Dienstboten gerufen, um den Krug zum Spülen mitzunehmen. Er war erschöpft.
Ihm wurde bewusst, dass er irgendwo Geräusche hörte: die Haustür, die sich öffnete, Stimmen. Alles in bester Ordnung; Sylvester würde sich darum kümmern.
Zu seiner Überraschung schien der Butler durch den Eindringling überwältigt worden zu sein; er hörte erhobene Stimmen und entschlossene Schritte, die seiner Zuflucht im Eiltempo näher kamen.
»Was zum Teufel treibst du hier, Melton?« Die Tür wurde aufgeschwungen, und Harry Quarrys breites Gesicht blickte ihm finster entgegen.
»Ich schreibe Briefe«, sagte Hal und nahm all seine Würde zusammen. »Wonach sieht es denn aus?«
Harry schritt in das Zimmer, zündete einen Docht am Feuer an und hielt ihn an den Kerzenhalter auf dem Schreibtisch. Hal hatte gar nicht bemerkt, dass es dunkel wurde, doch es musste mindestens Zeit für den Nachmittagstee sein. Sein Freund hob den Kerzenhalter hoch und betrachtete ihn kritisch im Schein der Kerze.
»Frag am besten nicht, wie du aussiehst«, sagte Harry und schüttelte den Kopf. Er stellte die Kerze hin. »Du hast also vermutlich nicht daran gedacht, dass du dich heute Nachmittag mit Washburn treffen solltest.«
»Wash–, ach Gott.« Beim Klang des Namens hatte er sich halb erhoben und sank jetzt wieder in den Sessel. Bei der Erwähnung seines Anwalts wurde ihm mulmig.
»Ich habe die letzte Stunde mit ihm verbracht, nachdem ich mich mit Anstruther und Josper getroffen hatte – du erinnerst dich, der Adjutant aus dem Vierzehnten?« Seine Worte hatten einen starken sarkastischen Unterton.
»Ja«, sagte Hal knapp und rieb sich das Gesicht, um seine Gedanken zu sammeln.
»Es tut mir leid, Harry«, sagte er und schüttelte den Kopf. Er erhob sich und zog seinen Morgenrock um sich. »Würdest du Nasonby rufen? Er soll uns den Tee in die Bibliothek bringen. Ich muss mich umziehen und waschen.«
Gewaschen, angekleidet, gebürstet und mit dem Gefühl, einigermaßen handlungsfähig zu sein, kam er eine Viertelstunde später in die Bibliothek, wo der Teewagen schon bereitstand; vom Ausgießer der Teekanne stieg ein aromatisches Dampfwölkchen auf und vermischte sich mit den würzigen Düften nach Schinken und Sardinen und der durchdringenden Süße eines sahne- und buttertriefenden Johannisbeerkuchens.
»Wann hast du zuletzt etwas gegessen?«, wollte Harry wissen, während er zusah, wie Hal mit der absoluten Konzentration einer hungernden Katze Sardinen auf Toast verspeiste.
»Gestern. Vielleicht. Ich habe es vergessen.« Er griff nach seiner Tasse und spülte die Sardinen so weit hinunter, dass Kuchen als nächster Schritt denkbar wurde. »Erzähl mir, was Washburn gesagt hat.«
Auch Harry vertilgte seinen Kuchen, schluckte und antwortete.
»Nun, du kannst nicht vor ein Zivilgericht gestellt werden. Was auch immer du von deinem verdammten Titel hältst – nein, sag es nicht, ich habe das alles schon gehört.« Er streckte vorbeugend eine Hand aus und nahm sich mit der anderen ein Gürkchen.
»Ob du dich nun Herzog von Pardloe nennst, Graf Melton oder einfach Harold Grey, du gehörst dem Adel an, und nur der Adel – also das Oberhaus – kann dich verurteilen. Und eigentlich hätte mir Washburn gar nicht sagen müssen, dass die Chancen vielleicht eins zu eintausend stehen, dass sich hundert Adelsherren einig sind, dass man dich entweder einkerkern oder hängen soll, weil du den Verführer deiner Frau zum Duell herausgefordert und getötet hast – aber er hat es mir gesagt.«
»Oh.« Hal hatte zwar noch keine Sekunde darüber nachgedacht, doch wenn er es getan hätte, wäre er vermutlich zu einem ähnlichen Schluss gekommen. Dennoch empfand er Erleichterung darüber, dass der Ehrenwerte Lawrence Washburn seine Ansicht teilte.
»Allerdings … willst du die letzte Scheibe Schinken essen?«
»Ja.« Hal nahm sie sich und griff nach dem Senftopf. Harry wählte stattdessen ein Eiersandwich.
»Allerdings«, wiederholte er, den Mund halb voll mit Ei und hauchdünnem Weißbrot, »bedeutet das nicht, dass du nicht in Schwierigkeiten bist.«
»Du meinst vermutlich mit Reginald Twelvetrees.« Hal hielt den Blick auf seinen Teller gerichtet und schnitt den Schinken sorgsam in Stücke. »Das ist mir nicht neu, Harry.«
»Das hätte ich auch nicht gedacht, nein«, stimmte ihm Harry zu. »Ich meinte, mit dem König.«
Hal legte seine Gabel hin und starrte Harry an.
»Dem König?«
»Oder, um genauer zu sein, mit der Armee.« Harry nahm sich vorsichtig ein Mandelplätzchen vom Schlachtfeld auf dem Teewagen. »Reginald Twelvetrees hat dem Kriegsminister eine Petition geschickt und darum gebeten, dass man dich vor ein Kriegsgericht bringt, weil du seinen Bruder gesetzeswidrig getötet hast, und dass man dich weiterhin als Oberst des 46. entlässt und dem Regiment die Verlängerung des Patents verweigert, weil dein Verhalten so von Sinnen ist, dass du eine Gefahr für die Einsatzbereitschaft besagten Regiments darstellst. Und an diesem Punkt kommt Seine Majestät ins Spiel.«
»Quatsch«, sagte Hal knapp. Doch seine Hand zitterte sacht, als er die Teekanne hochhob, und der Deckel klapperte. Er sah, dass Harry es bemerkte, und stellte die Kanne vorsichtig ab.
Was der König gewährt, kann der König auch wieder nehmen. Es hatte monatelange Mühen gekostet, ein vorläufiges Patent für das Regiment seines Vaters zu erwirken, und noch mehr – viel mehr –, Offiziere zu finden, die bereit waren, ihm beizutreten.
»Die Schreiberlinge …«, begann Harry, doch Hal schnitt ihm mit einer schnellen, heftigen Geste das Wort ab.
»Ich weiß.«
»Nein, du weißt nicht …«
»Doch! Sprich einfach nicht darüber.«
Harry stieß ein leises Knurren aus, ergab sich aber. Er griff nach der Kanne, füllte beide Tassen und schob Hal die eine hinüber.
»Zucker?«
»Bitte.«
Das Regiment war – in seiner wiederauferstandenen Form – noch nie im Einsatz gewesen; es war kaum zur Hälfte bemannt, und die meisten dieser Männer konnten ein Ende einer Muskete nicht vom anderen unterscheiden. Sein Personalstab war nur ein Gerippe, und die meisten seiner Offiziere waren zwar gute, verlässliche Männer, doch nur eine Handvoll fühlten sich ihm – wie Harry Quarry – persönlich verbunden. Beim geringsten Druck, dem Hauch eines Skandals – nun ja, eines weiteren Skandals – konnte das gesamte Gerüst zusammenbrechen. Reginald Twelvetrees würde die Überreste gierig an sich reißen oder zertrampeln, Hals Vater würde für immer als ehrloser Verräter in Erinnerung bleiben, und sein eigener Name würde weiter durch den Schmutz gezogen werden – indem ihn die Schreiberlinge der Presse nicht nur als gehörnten Ehemann darstellten, sondern auch als Mörder und Irren.
Der Griff seiner Porzellantasse brach plötzlich ab, schoss über den Tisch und prallte klirrend gegen die Kanne. Die Tasse selbst war mitten entzweigebrochen, und der Tee lief ihm über den Arm und durchtränkte seine Manschette.
Er stellte die beiden Hälften der Tasse vorsichtig ab und schüttelte sich den Tee von der Hand. Harry sagte nichts, sah ihn aber mit hochgezogener Augenbraue an.
Hal schloss die Augen und atmete einige Sekunden durch die Nase.
»Also schön«, sagte er und öffnete die Augen. »Erstens – Twelvetrees’ Petition. Ihr wurde doch noch nicht stattgegeben?«
»Nein.« Harrys Anspannung ließ allmählich etwas nach, was Hal ein wenig Vertrauen in die eigene Ausstrahlung zurückgab.
»Nun denn. Das ist das Erste – verhindere diese Petition. Kennst du den Sekretär persönlich?«
Harry schüttelte den Kopf. »Du?«
»Ich bin ihm einmal begegnet, in Ascot. Freundschaftliche Wette. Ich habe aber gewonnen.«
»Ah. Schade.« Harry trommelte einen Moment mit den Fingern auf das Tischtuch, dann warf er einen Blick auf Hal. »Kannst du deine Mutter fragen?«
»Auf keinen Fall. Außerdem ist sie in Frankreich und kommt vorerst nicht zurück.«
Harry wusste, warum die verwitwete Gräfin Melton in Frankreich war – und warum John in Aberdeen war –, und er nickte zögernd. Benedicta Grey kannte viele Menschen, doch der Selbstmord ihres Gatten am Vorabend seiner Verhaftung als jakobitischer Verräter hatte ihr den Zugang zu jenen Kreisen versperrt, in denen Hal ansonsten Einfluss hätte suchen können.
Es folgte langes Stillschweigen, das auch durch Nasonbys Auftauchen mit einer neuen Teetasse nicht unterbrochen wurde. Er füllte die Tasse, nahm die Scherben der alten und verschwand, wie er gekommen war, auf leisen Sohlen wie eine Katze.
»Wie genau lautet denn diese Petition?«, fragte Hal schließlich.
Harry verzog das Gesicht, überwand sich aber zu einer Antwort.
»Dass du Nathaniel Twelvetrees umgebracht hast, weil du der unbegründeten Überzeugung warst, er hätte, äh … mit deiner Frau angebändelt. In den Klauen dieser Wahnvorstellung hast du ihn dann ermordet. Also bist du eindeutig unfähig für den Posten des Kommandeurs einer …«
»Unbegründet?«, sagte Hal ausdruckslos. »Ermordet?«
Harry streckte schnell die Hand aus und nahm ihm die Tasse ab.
»Du weißt so gut wie ich, Melton – es geht nicht um die Wahrheit; es geht darum, was man den Leuten einreden kann.« Er stellte die volle Tasse vorsichtig auf ihre Untertasse. »Der Mistkerl ist verdammt diskret vorgegangen, und Esmé offenbar auch. Vor der Nachricht, dass du ihn auf seinem eigenen Krocketrasen erschossen hattest, gab es nicht den Hauch eines Gerüchtes.«
»Den Ort hat er ausgewählt! Und die Waffen!«
»Das weiß ich«, sagte Harry geduldig. »Ich war dabei, schon vergessen?«
»Wofür hältst du mich?«, fuhr Hal ihn an. »Für einen Idioten?«
Harry ignorierte das.
»Ich werde natürlich sagen, was ich weiß – dass es eine legitime Herausforderung war, und dass Nathaniel Twelvetrees sie angenommen hat. Aber sein Sekundant – dieser Buxton – ist letzten Monat bei einem Kutschenunfall in der Gegend von Smithfield ums Leben gekommen. Und sonst war niemand auf diesem Krocketrasen – keine unabhängigen Zeugen.«
»Oh … zum Teufel.« Die Sardinen regten sich in seinem Magen.
Harry holte so tief Luft, dass die Säume seiner Uniform ächzten, und senkte den Blick auf den Tisch.
»Ich – verzeih mir. Aber … gibt es irgendeinen Beweis?«
Hal brachte ein Lachen heraus, trocken wie Sägemehl.
»Für die Affäre? Meinst du, ich hätte ihn getötet, wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre?«
»Nein, natürlich nicht. Ich meine nur … nun ja … ach, verdammt … hat sie es dir … einfach erzählt? Oder vielleicht … hast du gesehen …?«
»Nein.« Hal fühlte sich benommen. Er schüttelte den Kopf, schloss die Augen und holte seinerseits tief Luft. »Nein, ich habe sie nie zusammen erwischt. Und sie hat es … mir nicht direkt gesagt. Es gab … es gab Briefe.«
Sie hatte sie an einen Ort gelegt, von dem sie wusste, dass er sie dort finden würde. Aber warum? Das war eines der Dinge, die ihn wieder und wieder zum Wahnsinn trieben. Sie hatte ihm nie gesagt, warum. War es einfach ein schlechtes Gewissen? War sie der Affäre müde geworden, hatte aber den Mut nicht, sie selbst zu beenden? Schlimmer noch – hatte sie gewollt, dass er Nathaniel umbrachte?
Nein. Ihr Gesicht, als er an diesem Tag heimgekommen war und ihr erzählt hatte, was er getan hatte …
Sein Gesicht lehnte auf dem Tischtuch, und schwarze und weiße Flecken tanzten ihm vor den Augen. Er konnte Stärke riechen und verschütteten Tee, das Aroma der Sardinen aus dem Meer. Esmés Fruchtwasser bei der Geburt. Und ihr Blut. O Gott, jetzt nur nicht erbrechen …