MINNIE LAG IM BETT, die Überreste des Frühstücks auf einem Tablett neben sich, und überlegte, wie ihr erster Tag in London aussehen sollte. Sie war am Abend zuvor spät angekommen und hatte kaum Notiz von den Räumen genommen, die ihr Vater für sie gemietet hatte – eine Suite in einem gut situierten Haus an der Great Ryder Street, »beste Lage für alles«, wie er ihr versichert hatte, einschließlich eines Zimmermädchens und der Mahlzeiten, die aus der Küche im Keller kamen.
Seit sie sich im Hafen von Calais herzlich von ihrem Vater verabschiedet hatte, hatte sie ein berauschendes Gefühl der Freiheit empfunden. Auch jetzt spürte sie die Freude noch sacht wie die Bläschen fermentierenden Sauerkrauts in einem Steingutfass unter ihrer Korsage aufsteigen, doch ihre angeborene Vorsicht hielt den Deckel fest verschlossen.
Sie hatte schon öfter kleinere Aufträge allein erledigt, manchmal außerhalb von Paris, doch das waren einfache Dinge gewesen wie Besuche bei den Verwandten eines verstorbenen Bücherliebhabers, die es mitfühlend von ihrem lästigen Erbe zu befreien galt – ihr war aufgefallen, dass so gut wie niemand eine Bibliothek als bedeutende Hinterlassenschaft betrachtete –, und selbst dann hatte sie immer einen Begleiter gehabt, normalerweise einen kräftigen, verheirateten Mann in den mittleren Jahren, der zwar noch imstande war, Kisten zu schleppen und Ärger fernzuhalten, der jedoch einer jungen Dame von siebzehn Jahren vermutlich keine unanständigen Avancen machen würde.
Für London wäre Monsieur Perpignan natürlich kein geeigneter Begleiter gewesen. Abgesehen von seinem Hang zur Seekrankheit, seiner Liebe zu seiner Frau und seinem Ekel gegenüber der britischen Küche, sprach er kein Englisch und besaß keinerlei Orientierungssinn. Sie war etwas überrascht gewesen, dass ihr Vater sie ganz allein in London wohnen lassen würde – doch natürlich hatte er das nicht getan. Er hatte etwas eingefädelt; seine Spezialität.
»Ich habe eine Anstandsdame für dich engagiert«, hatte ihr Vater gesagt, während er ihr ein anständiges Päckchen mit Briefen, Adressen, Stadtplänen und englischem Geld überreichte. »Eine Lady Buford, eine Witwe mit beschränkten Mitteln, aber guten Verbindungen. Sie wird dafür sorgen, dass du in Gesellschaft kommst, wird dich den richtigen Leuten vorstellen, mit dir das Theater oder Salons besuchen, Dinge in der Art.«
»Was für ein Vergnügen«, hatte sie höflich gesagt, und er lachte.
»Oh, davon gehe ich aus, meine Liebe«, sagte er. »Deshalb bekommst du außerdem zwei … nennen wir sie Leibwächter?«
»So viel taktvoller als Aufpasser oder Bewacher. Zwei?«
»Ja, in der Tat. Sie werden Besorgungen für dich erledigen und dich begleiten, wenn du Kundschaft besuchst.« Er griff in eins der kleinen Schreibtischfächer und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, welches er ihr reichte. »Dies ist eine Zusammenfassung dessen, was ich dir über den Herzog von Pardloe erzählt habe – und einige andere. Ich habe ihn Lady Buford gegenüber nicht erwähnt, und du solltest Diskretion walten lassen, wenn du dich nach ihm erkundigst. Es haftet ein großer Skandal an dieser Familie, und du …«
»… solltest nur dann am Teer rühren, wenn du auch bereit bist, ihn anzuzünden«, beendete sie den Satz und verdrehte ein wenig die Augen.
»Gute Reise, meine Liebe.« Er hatte sie auf die Stirn geküsst und sie kurz umarmt. »Du wirst mir fehlen.«
»Du wirst mir auch fehlen, Papa«, murmelte sie jetzt, während sie aus dem Bett stieg. »Aber nicht so sehr.«
Sie warf einen Blick auf den Sekretär, wo sie all die Listen und Dokumente untergebracht hatte. Zeit genug für den enthaltsamen Herzog von Pardloe und den notgeilen Herzog von Beaufort, wenn sie ihr unter die Augen kamen. Lady Buford hatte eine Karte hinterlassen, auf der stand, dass sie sich um vier Uhr in Rumm’s Teehaus in Piccadilly mit Minnie zum Tee treffen würde. Zieht etwas Hübsches, Unauffälliges und nicht zu Aufwendiges an, hatte Lady Buford mit sympathischem Pragmatismus hinzugefügt. Das rosafarbene Musselinkleid also mit dem kleinen Jackett.
Sie hatte bereits drei Verabredungen für den Mittag getroffen – normales Büchergeschäft –, und um elf sollten die beiden Leibwächter kommen und sich vorstellen. Sie sah auf ihre kleine Reiseuhr, welche halb neun zeigte. Schnell waschen, ein einfaches Kleid, stabile Schuhe zum Laufen, und London lag ihr zu Füßen – für zwei Stunden.
SIE HATTEN EINE WEILE in London gelebt, als Minnie noch sehr viel jünger war. Und sie war zweimal kurz mit ihrem Vater hier gewesen, als sie vierzehn und fünfzehn war. Sie hatte zwar eine allgemeine Vorstellung von der Einteilung der Stadt, aber sie hatte sich noch nie allein darin zurechtfinden müssen.
Doch sie war es gewohnt, neue Orte zu erkunden, und innerhalb der ersten Stunde hatte sie ein anständig aussehendes Wirtshaus für schnelle Mahlzeiten außerhalb ihrer Räume, einen Bäcker, der Kuchen verkaufte, und die nächste Kirche entdeckt. Ihr Vater hatte zwar nichts mit Religion zu tun, und soweit sie es wusste, war sie nicht einmal getauft – doch es war immer gut, seine Rolle überzeugend zu spielen, und fromme, anständige junge Frauen gingen am Sonntag in die Kirche. Außerdem gefiel ihr die Musik.
Der Tag war sonnig, die Luft duftete nach Frühlingsharz, und in den Straßen herrschte ein überschwängliches Hin und Her, völlig anders als in Paris oder Prag. London war wirklich einzigartig. Erst recht, weil keine andere Stadt ihre Mutter beherbergte. Doch diese Kleinigkeit würde noch etwas warten müssen; so gern sie sofort nach Parson’s Green gehastet wäre, um diese Mrs Simpson zu treffen … es war zu wichtig. Sie musste das Terrain erkunden, sich ihre Herangehensweise zurechtlegen. Sich hastig oder aufdringlich zu verhalten, konnte alles ruinieren.
Sie hielt auf Piccadilly zu, wo es viele gute Buchläden gab. Auf dem Weg jedoch lagen die Regent und die Oxford Street mit ihren hinreißenden, teuren Geschäften. Sie musste sich bei Lady Buford nach Schneiderinnen erkundigen.
Sie hatte sich eine kleine französische Taschenuhr an das Schultertuch geheftet – es kam nicht infrage, dass sie zu spät zu einer Verabredung kam –, und als ihr diese nun mit ihrem leisen Silberstimmchen mitteilte, dass es halb elf war, seufzte sie und wandte sich zur Great Ryder Street zurück. Doch als sie die Ecke des Upper St. James Parks erreichte, spürte sie plötzlich ein seltsames Kribbeln im Nacken.
Sie erreichte die Ecke, täuschte vor, auf die Straße zu treten, dann hastete sie plötzlich seitwärts über einen Weg und dann in den Park. Sie huschte hinter einen großen Baum, stand erstarrt in dessen Schatten und sah sich wachsam um. Und da, ein junger Mann kam auf den Weg gerannt und blickte scharf von rechts nach links. Er trug einfache Kleidung und hatte sich das braune Haar mit einem Bindfaden zu einem Zopf zusammengebunden – vielleicht ein Lehrjunge oder ein Arbeiter.
Er blieb einen Augenblick stehen, dann ging er schnell den Weg entlang und verschwand. Sie war gerade im Begriff, ihr Versteck zu verlassen und zur Straße zu rennen, als sie ihn laut pfeifen hörte. Als Antwort pfiff es auf der Straße, und sie presste sich hämmernden Herzens fest an den Baum.
Tod und Teufel, dachte sie. Wenn ich vergewaltigt und ermordet werde, werden die Strafpredigten kein Ende nehmen!
Sie schluckte und fasste einen Entschluss. Es würde um einiges schwieriger sein, sie auf offener Straße zu entführen, als sie aus ihrem ungeschützten Versteck zu zerren. Zwei gut situierte Herren kamen ins Gespräch vertieft auf sie zu. Als sie vorübergingen, trat sie direkt hinter ihnen auf den Weg und hielt sich so dicht bei ihnen, dass sie gezwungen war, sich eine geschmacklose Geschichte über den Schwiegervater des einen anzuhören und über das, was passiert war, als er beschlossen hatte, seinen Geburtstag in einem Freudenhaus zu feiern. Vor dem Ende jedoch erreichten sie die Straße, und sie setzte sich ab und ging erleichtert schnellen Schrittes die Ryder Street entlang.
Sie schwitzte trotz des kühlen Morgens, und die Hutnadel in ihrem Strohhut hatte sich gelöst. Sie blieb stehen, zog den Hut ab und betupfte sich das Gesicht mit einem Taschentuch, als eine Männerstimme ihr ins Ohr sprach.
»Hier seid Ihr also!«, sagte diese triumphierend. »Grundgütiger!« Letzteres, weil sie die Zwanzig-Zentimeter-Hutnadel aus ihrer Verankerung gezogen hatte und damit auf seine Brust zielte.
»Wer zum Teufel seid Ihr, und was soll das, dass Ihr mir folgt?«, wollte Minnie wissen und funkelte ihn an. Dann sah sie, wie sich sein Blick hob, weil er in ihrem Rücken etwas bemerkte, und die Worte »zwei Leibwächter« kamen ihr in den Sinn wie in Wasser geworfene Kiesel. Merde!
»Zwei«, sagte sie ausdruckslos und ließ die Hutnadel sinken. »Mr O’Higgins, nehme ich an? Und … ebenfalls Mr O’Higgins?«, fügte sie hinzu und wandte sich dem anderen jungen Mann zu, der hinter ihr aufgetaucht war. Er grinste sie an, zog seine Mütze und verbeugte sich ausschweifend.
»Raphael Thomas O’Higgins, Mylady«, sagte er.
»Und Ihr?«, fragte sie immer noch verärgert und fuhr zu ihrem ersten Verfolger herum, der ebenfalls von einem Ohr zum anderen grinste.
»Michael Seamas O’Higgins, Miss«, sagte er und neigte den Kopf. »Meine Freunde nennen mich Mick, und mein Bruder hier ist Rafe. Ihr habt uns also erwartet?«
»Mmpf. Wie lange folgt Ihr mir schon?«
»Seit Ihr das Haus verlassen habt, natürlich«, sagte Rafe mit großer Selbstverständlichkeit. »Was hat Euch denn nervös gemacht, würdet Ihr mir das sagen? Ich dachte, wir hätten reichlich Abstand gehalten?«
»Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht«, sagte sie. Das Rauschen der Angst und des Fluchtreflexes in ihrem Blut ließ jetzt nach, und damit auch ihre Verärgerung. »Ich hatte nur plötzlich so … ein Gefühl. Irgendetwas in meinem Nacken. Aber ich wusste nicht, dass mir jemand folgte, bis ich in den Park gelaufen bin und Ihr«, sie wies kopfnickend auf Mick, »mir hinterhergelaufen seid.«
Die O’Higgins-Brüder zogen die Augenbrauen hoch und wechselten einen Blick, schienen ihr das jedoch zu glauben.
»Aye, nun ja«, sagte Rafe. »Wir wollten uns um elf Uhr vorstellen, und ich höre gerade die Glocken schlagen … also, Miss, gibt es etwas, was wir heute für Euch tun können? Irgendwelche Besorgungen, Pakete, die abgeholt werden müssen, vielleicht ein kleiner Mord in aller Stille …?«
»Wie viel bezahlt Euch mein Vater?«, fragte sie und empfand allmählich Belustigung. »Ich bezweifle, dass es einen Mord abdecken würde.«
»Oh, wir sind billig«, versicherte Mick, ohne eine Miene zu verziehen. »Obwohl, wenn es etwas Extravagantes wäre … zum Beispiel eine Enthauptung oder die Beseitigung mehrerer Leichen … nun, ich sage nicht, dass das nichts kosten würde.«
»Schon gut«, beruhigte sie ihn. »Sollte es dazu kommen, habe ich etwas eigenes Geld. Apropos«, die Idee kam ihr, während sie ihre Hutnadel wieder anbrachte, »ich habe mehrere Kreditbriefe, die auf die Bankiers an der Strand Street ausgestellt sind – Ihr wisst, wo das ist? Das könnt Ihr heute tun: Begleitet mich zur Bank und wieder zurück. Ich werde heute Nachmittag für zwei meiner Verabredungen Geld brauchen.«