WINSTEAD TERRACE war eine kleine Reihe auf diskrete Weise prachtvoller Stadthäuser gegenüber einer ähnlichen Häuserreihe am anderen Ende eines privaten Parks, dessen Privatheit durch einen hohen Zaun aus schwarzem Eisen und ein verschlossenes Tor geschützt wurde.
Hal schob die Hand durch die eisernen Zaunstangen und brach vorsichtig einen Zweig von einem der kleinen Bäume ab, die sich dagegendrängten.
»Was tust du da?«, wollte Harry wissen und blieb stehen. »Pflückst du ein Sträußchen für dein Knopfloch? Ich glaube nicht, dass Grierson besonders modebewusst ist.«
»Ich auch nicht«, sagte Hal gleichmütig. »Ich wollte nur sehen, ob es das ist, wofür ich es halte, aber das ist es.«
»Und was ist das, bitte?« Harry kam einen Schritt zurück, um sich den Zweig in Hals Hand anzusehen. Das Laub war kühl in seinen Fingern; es hatte vorhin geregnet, und die Blätter und Blüten waren noch so feucht, dass ihm Wassertropfen über das Handgelenk liefen und im Stoff seiner Rüschenmanschette verschwanden.
Er legte den Zweig in seine andere Hand, schüttelte das Wasser ab und rieb sich geistesabwesend die Hand an seinem Rock. Er legte zwar Wert auf ein gutes Hemd und einen perfekt sitzenden Anzug, aber ein modischer Geck war er nicht. Doch es war notwendig, einen positiven Eindruck bei Donald Grierson zu hinterlassen, und daher trugen er und Harry ihre Ausgehuniformen mit der diskreten, aber doch sichtbaren Goldtresse.
»Hahnendorn«, sagte er und zeigte Harry die langen Dornen, die aus dem Zweig herausragten. »Das ist eine Art Weißdorn.«
»Ich dachte, Weißdorn wächst in Hecken.« Harry wies mit dem Kopf auf die Häuserzeile, und Hal nickte, während er ihm folgte.
»Das kommt vor. Oder als Gebüsch oder Baum. Interessantes Gewächs – es heißt, die Blätter schmecken wie ein Käsebrot, obwohl ich es noch nie probiert habe.«
Harrys Miene war belustigt.
»Ich werde daran denken, wenn ich das nächste Mal auf dem Land unterwegs bin und kein Wirtshaus in Sicht ist. Bist du so weit?«
Normalerweise hätte Harrys Fürsorglichkeit Hal verärgert, doch sein Freund machte sich – unübersehbar – aufrichtig Sorgen um ihn. Er holte Luft, richtete sich auf und gestand sich ein, dass er – wenn er aufrichtig war – diese Sorgen nicht als unbegründet abtun konnte. Doch es ging ihm allmählich besser. Das musste es auch – es war noch furchtbar viel zu tun, wenn er sich Hoffnungen machen wollte, das Regiment so auf die Beine zu stellen, dass es einsatzbereit war. Und Major Grierson würde ihm dabei helfen.
»Es gibt noch etwas, was man dem Weißdorn nachsagt«, merkte er an, als sie Griersons Tür erreichten.
»Was denn?« Harry trug seinen Spürhundeblick, aufmerksam und auf die Beute gefasst, die aus dem Unterholz getrieben wurde, und Hal lächelte insgeheim über diesen Anblick.
»Nun, das Grün der Blätter symbolisiert natürlich Beständigkeit, aber den Blüten sagt man nach, und ich zitiere, sie hätten den ›Duft einer Frau in sexueller Erregung‹.«
Harrys aufmerksamer Blick wanderte sofort zu dem blühenden Zweig in Hals Hand. Hal lachte und fuhr sich mit den Blüten unter der Nase entlang, dann reichte er sie Harry und wandte sich dem Türklopfer zu, einem Eberkopf aus Messing.
Großer Gott, es ist wahr. Der Hauch von betörendem Moschus lenkte ihn so sehr ab, dass er kaum Notiz davon nahm, wie sich die Tür öffnete. Wie zum Teufel konnte etwas … schlüpfrig riechen? Er schloss unwillkürlich die Faust und hatte das verstörende Gefühl, seine Frau berührt zu haben.
»Mylord?« Der Bedienstete, der die Tür geöffnet hatte, betrachtete ihn mit verwundert gerunzelter Stirn.
»Oh«, sagte Hal und riss sich zusammen. »Ja. Das bin ich. Ich meine …«
»Major Grierson erwartet Seine Lordschaft, glaube ich?« Harry schob sich zwischen Hal und das fragende Gesicht, welches gehorsam nickte und sich ins Haus zurückzog. Der Mann winkte ihnen, ihm zu folgen.
Es kamen Stimmen aus dem Morgenzimmer, auf das man sie zuführte: eine Frau und mindestens zwei Männer. Vielleicht war Grierson verheiratet, und seine Frau hatte Besuch …?
»Lord Melton!« Grierson – ein kräftiger, breiter, blonder Kerl – erhob sich von einem Diwan und kam lächelnd auf ihn zu. Hal fasste Mut; er war Grierson zwar noch nie begegnet, doch der Mann hatte einen exzellenten Ruf. Er hatte vier Jahre in einem Infanterieregiment gedient, in Dettingen gekämpft und war genauso für sein Organisationstalent wie für seinen Mut bekannt. Und Organisation war das, was das gerade entstehende 46. am nötigsten brauchte.
»Freut mich sehr, Euch kennenzulernen«, sagte Grierson. »Alle reden von diesem neuen Regiment, und ich möchte alles darüber hören. Pansy, meine Liebe, darf ich dir Seine Lordschaft, den Grafen von Melton, vorstellen?« Er wandte sich halb ab und streckte einer kleinen, hübschen, dunkelhaarigen Frau die Hand entgegen, die ungefähr halb so alt war wie er – und ihn schätzte Hal auf fünfunddreißig. »Lord Melton, meine Frau, Mrs Grierson.«
»Hocherfreut, Mrs Grierson.«
Hal verbeugte sich vor Mrs Grierson, die über diese Aufmerksamkeit lächelte – doch seine Aufmerksamkeit wurde durch Harry beeinträchtigt, der hinter ihm stand. Statt vorzutreten, um sich vorstellen zu lassen und seinerseits den Gastgebern seinen Respekt zu erweisen, hatte Harry einen Kehllaut ausgestoßen, der in weniger zivilisierter Gesellschaft ein Knurren gewesen wäre.
Hal folgte Harrys Blickrichtung, sah, was Harry sah, und fühlte sich, als hätte man ihm einen Fausthieb in den Magen versetzt.
»Wir kennen uns bereits«, sagte Reginald Twelvetrees, als sich Grierson umwandte, um ihn vorzustellen. Kalten Blickes erhob sich Twelvetrees.
»Tatsächlich?«, sagte Grierson, welcher immer noch lächelte, den Blick jetzt aber argwöhnisch zwischen Hal und Twelvetrees hin- und herschweifen ließ. »Das wusste ich gar nicht. Ich gehe davon aus, dass Ihr keine Einwände dagegen habt, dass sich Oberst Twelvetrees uns anschließt, Lord Melton? Und ich gehe davon aus, dass Ihr, Sir« – mit einem ehrfürchtigen Kopfnicken in Twelvetrees’ Richtung – »nichts dagegen habt, dass ich Lord Melton ebenfalls eingeladen habe?«
»Nicht das Geringste«, sagte Twelvetrees mit einem Zucken in der einen Wange, das mit Sicherheit kein Lächeln ausdrücken sollte. Dennoch klang es so, als meinte er sein »nicht das Geringste« ernst, und Hal begann, eine gewisse Enge in der Brust zu verspüren.
»Selbstverständlich«, sagte er kühl und zahlte Twelvetrees den versteinerten Blick mit gleicher Münze heim. Reginald hatte die gleiche Augenfarbe wie Nathaniel, ein Braun, das so dunkel war, dass es je nach Lichtquelle schwarz erscheinen konnte. Nathaniels Augen waren pechschwarz gewesen, als sie ihn im Morgengrauen durchbohrten.
Mrs Grierson entschuldigte sich und verließ das Zimmer mit der Ankündigung, dass sie eine Erfrischung bringen lassen würde. Die Männer ließen sich nieder, argwöhnisch wie Seevögel, die einander ihre felsigen Ausgucke nicht gönnten.
»Zu meiner großen Überraschung befinde ich mich in der beneidenswerten Lage, ein gefragtes Handelsgut zu sein«, sagte Grierson und beugte sich gutmütig vor. »Wie Ihr vielleicht wusstet, bin ich in Preußen erkrankt und wurde nach Hause gebracht, um mich zu erholen. Glücklicherweise ist mir das auch gelungen. Aber es war eine langwierige Genesung, und als ich wieder einsatzfähig war, hatte mein Regiment … nun … ich bin mir sicher, dass Ihr mit der Situation im Großen und Ganzen vertraut seid; ich möchte jetzt nicht ins Detail gehen.«
Seine drei Gäste grunzten zustimmend und drückten ihm murmelnd ihr Mitgefühl aus. Mit der Situation verhielt es sich nämlich so, dass Grierson mit seiner Erkrankung verdammtes Glück gehabt hatte. Einen Monat nach seinem Heimtransport hatte es eine absolut skandalöse Meuterei gegeben, und als sich der Staub legte, hatte man die Hälfte der überlebenden Offiziere vor ein Kriegsgericht gestellt, fünfzehn Meuterer gehängt und die Überbleibsel auf vier andere Regimenter verteilt. Das ursprüngliche Regiment – und mit ihm Griersons Offizierspatent – hatte offiziell aufgehört zu existieren.
Normalerweise hätte ein Mann in seiner Situation ein Patent in einem anderen Regiment erworben. Doch wie Grierson es so unverblümt ausdrückte, war er ein wertvolles Handelsgut. Er war nicht nur ein fähiger Bürokrat und guter Befehlshaber – er war beliebt, bei anderen Offizieren, beim Kriegsministerium und bei der Presse.
Hal brauchte Griersons Erfahrung; noch mehr brauchte er Griersons Kontakte. Mit Grierson als Stabsoffizier konnte er Offiziere von einem ganz anderen Kaliber an sich ziehen, als es mit Geld alleine möglich war.
Was hingegen Twelvetrees, Oberst eines etablierten, grundsoliden Artillerieregiments, von ihm wollte … nun, auch das war hinreichend offensichtlich: Er wollte nicht, dass Hal Grierson bekam.
»Nun, Lord Melton, erzählt mir, wie die Dinge bei Euch stehen«, sagte Grierson, als sie sich an den Wein und die Plätzchen gemacht hatten, die Mrs Grierson geschickt hatte. »Zunächst einmal, wer sind Eure Stabsoffiziere?«
Hal stellte vorsichtig sein Glas hin und sagte ihm mit ruhiger Stimme ganz genau, wer sie waren. Kompetente Männer, soweit er das wusste – jedoch so gut wie alle noch sehr jung und ohne jede Erfahrung bei Auslandsfeldzügen.
»Das bedeutet natürlich«, warf Harry helfend ein, »dass Ihr einen sehr hochrangigen Posten im Regiment einnehmen würdet und Eure Kompanien, Eure Einsatzorte und Eure Adjutanten frei wählen könntet …«
»Wie viele Männer habt Ihr denn in Eurem Musterbuch, Oberst?« Reginald bemühte sich gar nicht erst um einen neutralen Ton, und Grierson warf ihm einen Blick zu. Nicht missbilligend, wie Hal sah, und sein Herzschlag beschleunigte sich ein wenig.
»Das kann ich Euch nicht genau sagen, Sir«, sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit. Sein Kragen wurde feucht vom Schweiß, obwohl es kühl im Zimmer war. »Wir führen im Moment eine große Rekrutierungskampagne durch, und unsere Zahlen wachsen jeden Tag beträchtlich.« An guten Tagen bekamen sie vielleicht drei neue Männer – von denen einer nicht mit der Prämie durchbrennen würde, nachdem er unterzeichnet hatte –, und Twelvetrees’ hämischem Grinsen nach war ihm das bewusst.
»Tatsächlich«, sagte Twelvetrees. »Unausgebildete Rekruten. Die Königliche Artillerie ist derzeit voll bemannt. Meine Kompanie-Kommandeure sind schon mindestens ein Jahrzehnt bei mir.«
Hal riss sich zusammen, obwohl ihm vor unterdrückter Wut allmählich der Atem verging.
»In diesem Fall bleibt Mr Grierson möglicherweise weniger Raum, sich zu profilieren«, gab er knapp zurück. »Bei uns dagegen, Sir …« Er neigte den Kopf in Griersons Richtung, und im ersten Moment war ihm schwindelig, als er ihn wieder hob. »Bei uns«, wiederholte er kraftvoller, »würde Euch die Genugtuung zuteil, ein gutes Regiment zu formen … sozusagen nach Eurem persönlichen Ebenbild.«
Harry gluckste zustimmend, und Grierson lächelte, jedoch höflich. Er würde auch das nicht unbeträchtliche Risiko des Scheiterns eingehen, und das wusste er.
Hal spürte, wie sich Harry beklommen neben ihm regte, und holte tief Luft für eine entschiedene Bemerkung über … über … Das Wort war verschwunden. Einfach verschwunden. Er hatte eingeatmet, und ein Dufthauch des Weißdorns in Harrys Knopfloch hatte sein Gehirn berührt. Er schloss abrupt die Augen.
Glücklicherweise hatte Major Grierson eine Frage gestellt; Hal konnte hören, wie Twelvetrees mürrisch antwortete. Grierson sagte noch etwas; Twelvetrees’ Stimme entspannte sich ein wenig, und ganz plötzlich war es Nathaniels Stimme, und er öffnete die Augen und sah nichts von dem gemütlichen Salon, von den Männern, die mit ihm dort waren. Er fror, so sehr, dass er zitterte …
Und seine Finger drückten die kalte Pistole in seiner Hand so fest, dass das Metall Abdrücke auf seiner Handfläche zurücklassen würde. Er hatte Esmé gebumst, ehe er das Haus verließ, um ihren Geliebten zu töten. Hatte sie im Dunklen geweckt und sie genommen, und sie hatte ihn wie wild begehrt – oder vielleicht hatte sie sich ja vorgestellt, der Mann in der Dunkelheit wäre Nathaniel. Er wusste, dass es das letzte Mal war …
»Oberst?« Eine Stimme, eine gedämpfte Stimme. »Lord Melton!«
»Hal?« Harrys Stimme, alarmiert. Harry, bei ihm auf dem Rasen, das Gesicht im sonnenlosen Morgengrauen vom Regen überströmt. Er schluckte, versuchte zu schlucken, versuchte zu atmen, doch da war keine Luft.
Seine Augen waren offen, doch er konnte nichts sehen. Die Kälte kroch ihm über die Wangen, und er begriff plötzlich, dass …
Er blickte geradewegs in Nathaniels Augen und spürte den Knall, und dann war es …
HARRY HATTE DARAUF bestanden, eine Droschke zu rufen, um sie heimzubringen. Hal weigerte sich schroff und entfernte sich – mit zitternden Knien, aber er konnte laufen, er würde laufen, verdammt – von der Winstead Terrace.
Er schaffte es bis ans Ende des eingefriedeten Gartens – in sicherem Abstand von dem Weißdornbaum –, wo er stehen blieb und das kalte, schwarze Eisen des Zauns packte, ehe er sich vorsichtig auf das Pflaster sinken ließ. Sein Mund schmeckte nach dem Brandy, den ihm Grierson eingeflößt hatte, als er wieder atmen konnte.
»Ich bin im Leben noch nicht ohnmächtig geworden«, sagte er. Er saß mit dem Rücken an den Zaun gelehnt, die Stirn auf den Knien. »Nicht einmal, als sie mir von Vater berichtet haben.«
»Ich weiß.« Harry saß jetzt neben ihm. Hal dachte flüchtig, was für ein Bild sie abgeben mussten, zwei junge Soldaten, herausgeputzt in Scharlachrot und Gold, wie zwei Bettler auf dem Bordstein. Es war ihm wirklich egal.
»Obwohl«, sagte Hal nach einer Minute, »das stimmt nicht, oder? Ich bin letzte Woche beim Tee in den Schinken gefallen, oder?«
»Dir war nur etwas mulmig«, sagte Harry standhaft. »Erst tagelang nichts gegessen, dann zwei Dutzend Sardinen – das würde jeden umhauen.«
»Zwei Dutzend?«, fragte Hal und lachte unwillkürlich. Kein sehr überzeugendes Lachen, doch er drehte den Kopf zur Seite und sah Harry an. Harrys Gesicht war von Sorge zerfurcht, doch er entspannte sich ein wenig, als er Hals Blick sah.
»Mindestens. Mit Senf.«
Sie saßen ein paar Sekunden da, und ihnen wurde leichter ums Herz. Keiner von ihnen wollte das ansprechen, was gerade geschehen war, und so taten sie es auch nicht, doch jeder konnte merken, dass der andere darüber nachdachte – wie sollte es auch anders sein?
»Wenn alles den Bach hinuntergeht …«, begann Harry schließlich, dann beugte er sich vor und sah ihn fragend an. »Wirst du wieder ohnmächtig?«
»Nein.« Hal schluckte zweimal, dann atmete er ein – flach, das war alles, was er zuwege brachte – und stand auf, ohne den Eisenzaun loszulassen. Er musste Harry zeigen, dass er gehen konnte, dass er nicht gezwungen war, dieses zum Scheitern verurteilte Unterfangen fortzusetzen, dieses Possenspiel. Obwohl ihm der Gedanke die Kehle zuschnürte. Er räusperte sich krampfhaft und wiederholte Harrys Worte. »Wenn alles den Bach hinuntergeht …«
Harrys Hand auf seinem Arm gebot ihm Einhalt. Harrys Gesicht war dicht vor dem seinen, die braunen Augen klar und ruhig.
»Dann fangen wir von vorne an, alter Knabe«, sagte er. »Komm, ich brauche etwas zu trinken und du auch.«