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Strategie und Taktik

ES DAUERTE KEINE FÜNF MINUTEN, bis Minnie über ihrem Kuchenteller bei Rumms erkannte, wie abgrundtief der Verrat ihres Vaters war.

»Euer Stil ist sehr gut«, sagte Lady Buford. Die Anstandsdame war eine dünne, grauhaarige Dame mit einer langen Aristokratennase und scharfen grauen Augen unter schweren Lidern, die vermutlich in ihrer Jugend etwas Wohlig-Verführerisches gehabt hatten. Sie nickte beifällig über die zarten weißen Gänseblümchen, mit denen Minnies rosafarbenes Leinenjackett bestickt war. »Angesichts Eures Anteils hatte ich gedacht, dass wir einen Londoner Kaufmann ins Auge fassen sollten, aber bei diesen persönlichen Reizen könnte es möglich sein, etwas höher hinauszuwollen.«

»Mein … Anteil?«

»Ja, fünftausend Pfund sind ein sehr guter Anreiz – wir werden eine gute Auswahl haben, das versichere ich Euch. Ihr hättet die freie Wahl unter den Armeeoffizieren« – sie tat dies mit einer eleganten Geste ab, dann schlang sie die langen, hageren Finger um den Griff ihrer Teetasse –, »und der eine oder andere davon ist sehr attraktiv. Aber man muss ihre ständige Abwesenheit einkalkulieren … und Stationierungen an unappetitlichen Orten, sollte Euer Gemahl wünschen, dass Ihr ihn begleitet. Nun, falls er umkommt, gibt es eine anständige Pension, aber nichts im Vergleich mit dem, was ein solventer Kaufmann hinterlassen könnte. Und im Fall einer Verletzung, die seinen weiteren Einsatz ausschließt …« Nachdenklich und langsam trank sie einen Schluck, dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein. Die Armee ist gewiss nicht das Beste, was wir anstreben können. Oder die Marine, Gott steh uns bei. Seefahrer sind oft so … ordinär«, sagte sie zu Minnie hinübergebeugt, die faltigen Lippen zu einem Flüstern gespitzt.

»Gott steh uns bei«, wiederholte Minnie in frommem Ton, obwohl sie die Faust in den Stoff des Tischtuchs geballt hatte. Du altes Wiesel!, dachte sie an ihren abwesenden Vater gerichtet. Dass ich in Gesellschaft komme, wie?

Doch trotz ihres Erstaunens und ihrer Verärgerung musste sie auch zugeben, dass sie beeindruckt war. Fünftausend Pfund?

Wenn er das tatsächlich ernst gemeint hat … wandte der zynische Teil ihres Verstandes ein. Doch vermutlich meinte er es ernst. Das sah ihm einfach ähnlich. Er würde es so betrachten, dass er zwei Fliegen mit einer Klappe schlug: ihr Zugang zu wahrscheinlichen Quellen von Informationen verschaffen, die sich verkaufen ließen, und sie zugleich mit einer dieser Quellen zu verheiraten, mit Lady Buford als ahnungsloser Komplizin.

Und um ehrlich zu sein, hatte er ihr ja gesagt, dass er sich einen Engländer für sie wünschte. Sie hatte nur nicht gedacht, dass er sofort gemeint hatte. Sie musste das perverse Genie ihres Vaters wirklich bewundern; wer wusste schon mehr über intime familiäre und finanzielle Einzelheiten – und hatte weniger Hemmungen, ihr Wissen zu offenbaren – als eine Kupplerin?

Sie holte tief Luft, ließ den Stoff in ihrer Faust los und gab sich alle Mühe, eine ebenso interessierte wie sittsame Miene aufzusetzen.

»Dann werden wir die Marine meiden«, sagte sie. »Meint Ihr … Glaubt Ihr … ich hoffe, es ist nicht unbescheiden, wenn ich das sage, aber, nun ja, fünftausend Pfund … Was ist mit minderen … sehr minderen«, fügte sie hastig hinzu, »Mitgliedern des Adels?«

Lady Buford kniff die Augen zusammen, jedoch nicht, als sei sie verblüfft; sie sortierte nur das Register in ihrem Kopf um, dachte Minnie.

»Nun, es gibt dutzendweise verarmte Ritter und Barone«, sagte Lady Buford. »Und wenn Ihr auf einen Titel aus seid … Aber wirklich, meine Liebe, ich würde Euch diesen Weg nicht empfehlen, es sei denn, Ihr verfügt über eigene, unabhängige Mittel. Euer Anteil würde auf der Stelle durch den Unterhalt eines bröckelnden Landhauses verschluckt werden, während Ihr selbst darin vergammelt und niemals nach London kommt oder auch nur einmal im Jahr ein neues Kleid seht.«

»Natürlich. Ich, äh, verfüge tatsächlich über eine … sagen wir, kleine Summe?«

»Tatsächlich.« Lady Buford zog interessiert die feinen Augenbrauen hoch. »Wie klein?«

»Tausend im Jahr«, sagte Minnie in schamloser Übertreibung des Einkommens aus ihren persönlichen Geschäften, welches weniger als ein Zehntel dieser Summe betrug. Doch das spielte kaum eine Rolle, da sie ja in Wirklichkeit keinen dieser theoretischen, verarmten Barone heiraten würde; sie benötigte nur den Zugang zu den gesellschaftlichen Kreisen, in denen diese – und mit ihnen ihre interessanteren Artgenossen – verkehrten.

»Hmm.« Lady Bufords Miene nahm einen nach innen gekehrten Ausdruck an, und sie trank Tee. Nach kurzer Überlegung stellte sie die Tasse entschlossen hin.

»Ihr sprecht gut Französisch, sagt Euer Vater?«

»Mais oui.«

Lady Buford sah sie scharf an, doch Minnie verzog keine Miene.

»Nun denn. Wir beginnen mit Lady Jonas’ donnerstäglichem Salon. Er ist literarisch und intellektuell, aber sie hat normalerweise eine gute Mischung lediger Herren dort, darunter auch europäische … obwohl Euer Vater ausdrücklich von einem Engländer gesprochen hat … Nun, wir werden ja sehen. Dann vielleicht Samstagabend ins Theater … Wir nehmen eine Loge; es ist wichtig, dass Ihr gesehen werdet – habt Ihr etwas Passendes anzuziehen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Minnie aufrichtig. »Ich war noch nie im Theater, was ist denn passend?«

Eine halbe Stunde, zwei Kannen chinesischen Tee und ein Dutzend Teetörtchen (mit Sahne) später begab sie sich auf die Straße hinaus, in der Hand eine Liste ihrer Termine und den Kopf voller Pelerinen, Täschchen, Boas, Fächer – glücklicherweise besaß sie einen hübschen Fächer – und anderer Gegenstände, die unumgänglich waren, wenn man einen wohlhabenden, einflussreichen Ehemann einfangen wollte.

»Eine Pistole wäre einfacher«, murmelte sie und steckte sich die Liste in die Rocktasche. »Und auf jeden Fall weniger kostspielig.«

»Was denn für eine Pistole?«, fragte Mick OHiggins neugierig, während er neben ihr in einem Hauseingang erschien.

»Ach, das tut nichts zur Sache«, sagte sie. »Wir gehen zu einer Hutmacherin.«

»Ach ja?« Er verbeugte sich und bot ihr den Arm an. »Ja, dann. Der Vogel ist auf jeden Fall schon tot, ehe er auf den Hut kommt.«

Eine Woche später

DAS BUCH MIT IHREN Verpflichtungen war eine Augenweide und eine haptische Wonne. Es stammte aus Florenz mit einem Ledereinband, der einen satten Schokoladenton hatte, geprägt mit einem vergoldeten Muster aus verschlungenen Ranken und einer herrlichen, explosiv wirkenden Blüte in der Mitte. Ihr Vater hatte ihr gesagt, dass die Chinesen sie »Chu« nannten und sie ein Glückssymbol war. Er hatte ihr das Buch zum siebzehnten Geburtstag geschenkt.

Vor ihrem Aufbruch aus Paris hatte er ihr noch ein weiteres Buch gegeben: ein grob beschnittenes Notizbuch, wie es ein Künstler für seine Skizzen benutzen würde – und es waren Skizzen, die die Seiten schmückten, von ihrer Hand gefertigt. Und in diese Skizzen waren die Verabredungen mit jenen Klienten codiert, deren Namen niemals laut ausgesprochen wurden.

Die ersten paar Seiten dienten nur zur Ablenkung; die erste Gedächtnisstütze befand sich auf der dritten Seite (der Termin war am Dritten des Monats): eine Skizze mit Bäumen, die einen Pfad überwucherten, und der Unterschrift Vauxhall Gardens. Fußspuren auf dem Pfad führten in den Schatten, drei deutlich ausgeprägt, eine weitere halb. Halb vier im Vergnügungspark Vauxhall Gardens am dritten Juni. Auf der gegenüberliegenden Seite eine Skizze eines eingepackten Päckchens, wie ein Geburtstagsgeschenk. Entgegenzunehmen …

Das war morgen. Sie legte das Skizzenbuch beiseite und griff nach dem Chu-Kalender, in dem die weniger geheimen Klienten aufgelistet waren, die einfach nur Bücher kaufen oder verkaufen wollten. Acht hatte sie seit ihrer Ankunft in London schon abgehakt; sie war sehr effizient gewesen.

Sie rieb sanft mit dem Daumen über die wuchernde Blüte auf dem Deckel. Sie hatte noch nie eine echte Chu-Blume gesehen. Vielleicht fand sie ja in London einen Botaniker, der eine solche Pflanze hatte; sie hätte zu gern gewusst, wie sie roch.

Hinten in ihrem Kalender steckte zwischen den leeren cremeweißen Seiten und dem weichen Ledereinband der Brief. Sie hatte ihn mehrere Male neu geschrieben. Wünschte sich Gewissheit, wusste aber, dass es in diesem Fall keine geben konnte.

Morgen früh würde sie ihn einem der Brüder OHiggins geben. Sie kannte sie jetzt lange genug, um sicher zu sein, dass sie ihre Botengänge für sie fraglos durchführen würden – zumindest beinahe fraglos. Sie versandte ständig geschäftliche Notizen und Briefe; es gab keinen Grund, warum ihnen dieses Exemplar seltsam vorkommen sollte.

Mrs Simpson, Parson’s Green, Peterborough Road.

Ihre Finger waren feucht; sie steckte den Brief zurück, ehe die Tinte der Anschrift verschmieren konnte, und schloss das Buch darüber.

Aus dem Chu-Tagebuch

Montag, 1. Juni

 

11.00 – Mr H.R. Wallace, um Philologus Hebraeus (Johannes Leusden) in Augenschein zu nehmen. Angebot umfasst auch Histoire de la Guerre des Juifs Contre les Romains (Joseph Flavius) und De Sacrificiis Libri Duo Quorum Altero Explicantur Omnia Judaeorum, Nonnulla Gentium Profanarum Sacrificia (William Owtram)

1.00 – Die Damen Emma und Pauline Jones, um über den Katalog der Bibliothek ihres verstorbenen Vaters zu sprechen. In Swansea (!). Wie zum Kuckuck bekomme ich das nur transportiert?

2.00 – Anprobe bei Myers, pfirsichfarbenes Seidenkostüm

4.00 – Lady Buford, Tee hier, dann Mrs Montagues Salon

8.00 – Drury Lane Theater, Mahomet, der Prophet

 

 

Dienstag, 2. Juni

 

9.00 – Bad

10.00 – Coiffeur

1.00 – Lady Buford, Mittagsimbiss bei Gräfin Baldo

5.00 – Hon. Horace Walpole, Begutachtung einiger italienischer Titel (Tee arrangieren)

 

 

Mittwoch, 3. Juni

 

10.00 – Bootsfahrt auf der Themse mit Sir George Vance, Mittagessen

3.30 – Wildpark

7.00 – Geselliges Beisammensein bei Mrs Annabelle Wrigley

 

Anmerkung: Sir George jung, aber langweilig; habe L. Buford gesagt, sie soll ihn streichen. Habe bei Mrs Wrigley einen vielversprechenden Herrn namens Hanksleigh kennengelernt, kennt sich mit Finanzen aus; er kommt nächste Woche zum Tee.

 

Anmerkung: Vauxhall Gardens hinreißend (nächste Woche noch einmal hin)

 

 

Donnerstag, 4. Juni

 

9.00 – Bad

10.00 – Körperenthaarung (autsch)

11.00 – Coiffeur

1.00 – Bei Madame Alexander Maß nehmen für ein Ballkleid aus Aquaseide

3.00 – Spaziergang im Hyde Park mit Sir Robert Abdy

8.00 – Dinnergesellschaft, Lady Wilford

 

Anmerkung: Lady Wilfords Abendessen gut besetzt. Zwei Verabredungen für nächste Woche und eine vielversprechende Unterhaltung mit der Marquise von Tweksbury über den Hokuspokus im Oberhaus.

 

Anmerkung: Beim Abendessen auch dem Herzog von Beaufort begegnet, kurzes Geplauder bei Spargel mit Mayonnaise. Einladung zum gemeinsamen Ausritt in Rotten Row nächste Woche. Abgelehnt, da ich kein Pferd habe, worauf ich prompt eines von ihm angeboten bekam. Angenommen. Wie schwer kann das schon sein?

 

 

Freitag, 5. Juni

 

11.00 – Baron Edgerly, Begutachtung französischer Titel, Folienatlant

1.30 – Besuch bei Mr Smethurst, Buchhändler in Piccadilly, versuchen, ihm Klientenliste zu entlocken.

4.30 – Lady Buford, Tee mit Mrs Randolph und ihren beiden Töchtern

 

Anmerkung: Abendessen allein, Gott sei Dank. Will kein Wort mehr hören. Randolphtöchter komplette emmerdeuses.

 

Anmerkung: Antwort von Mrs Simpson. Montag zwei Uhr.

 

 

Samstag, 6. Juni

 

Allmählich kommen Klienten, die an Auskünften interessiert sind, nicht an Büchern. Vaters Werk. Zwei in dieser Woche. Dem einen Nein gesagt, Ja zu Sir Roger Barrymore (Anfrage bezüglich des Charakters eines Mannes, der um die Hand seiner Tochter angehalten hat; bin besagtem Mann letzte Woche begegnet und hätte Sir Roger auf der Stelle sagen können, dass er ein faules Ei ist, werde ihm die Neuigkeit aber nächste Woche mitteilen, um Rechnung zu rechtfertigen).

 

 

Sonntag, 7. Juni

 

Vormittagsmesse, St. Georg, Hanover Square, mit Mr Jaken (Börse) – schöne Orgelmusik

 

4.00 – Tee, Lady Buford, Besprechung der Fortschritte

7.00 – Abendandacht, St. Clemens, Mr Hopworth (Bankier)