MIT LAUTEM Huf- und Räderklappern überquerte die Kutsche das Kopfsteinpflaster einer Brücke. Der Lärm war nichts gegen das Getöse in Minnies Kopf.
»Eine Nonne«, sagte Minnie, als sie auf eine ungepflasterte Straße fuhren und der Lärm nachließ. Sie klang so verdattert, wie sie sich fühlte. »Meine Mutter … war eine Nonne?«
Mrs Simpson – ihre Tante, Tante Simpson, Tante Miriam … sie musste sich daran gewöhnen, sie so zu sehen – holte tief Luft und nickte. Nachdem diese Nachricht heraus war, hatte sie ein wenig von ihrer Fassung zurückerlangt.
»Ja. Eine Schwester des Ordens der Göttlichen Gnade in Paris. Ist er dir vertraut?«
Minnie schüttelte den Kopf. Sie hatte gedacht, sie wäre auf alles vorbereitet, doch das war ein Irrtum gewesen.
»Wie … wie sehen sie denn aus?« Es war der erste Gedanke, der ihr kam. »Schwarz, grau, weiß …?«
Mrs Simpson entspannte sich ein wenig und lehnte sich mit dem Rücken an die blauen Kissen, um das Rucken der Kutsche abzufangen.
»Ihre Tracht ist weiß mit einem grauen Schleier. Sie sind ein kontemplativer Orden, leben aber nicht im Kloster.«
»Was bedeutet das, kontemplativ?«, entfuhr es Minnie. »Meditieren sie? Und worüber? Über ihr Keuschheitsgelübde ja wohl kaum.«
Ihre Tante schien verblüfft, doch ihr Mund zuckte ein wenig.
»Wohl kaum«, sagte sie. »Ihre Hauptbeschäftigung ist das Gebet. Die Kontemplation der Gnade Gottes und Seiner göttlichen Natur.«
Eigentlich war es ein kühler Tag, aber Minnie spürte, wie ihr von der Brust bis zu den Ohren heiß wurde.
»Ich verstehe. Dann ist ihr – meiner Mutter – also während eines besonders intensiven Gebets der Heilige Geist begegnet, wie?« Sie hatte es sarkastisch gemeint, aber womöglich … »Einen Augenblick. Mein Vater ist doch mein Vater, oder?«
Ihre Tante ignorierte diese Spitze.
»Du bist Raphael Wattiswades Tochter, das versichere ich dir«, sagte sie trocken mit einem Blick in Minnies Gesicht.
Einer der kleinen Knoten aus Zweifel in Minnies Brust löste sich. Die Möglichkeit, dass dies alles Betrug war – wenn nicht Schlimmeres –, schwand. Es gab nicht viele Menschen, die den wahren Namen ihres Vaters kannten. Wenn diese Frau ihn kannte, dann war es vielleicht …
Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und sah Mrs Simpson unbarmherzig an.
»Nun? Was ist geschehen? Und wohin fahren wir?«, fügte sie etwas verspätet hinzu.
»Zu deiner Mutter«, sagte ihre Tante knapp. »Und was geschehen ist … es war ein Buch.«
»Natürlich war es das.« Minnies Vertrauen in die Geschichte der Frau wuchs noch ein wenig. »Was für ein Buch?«
»Ein Horenbuch.« Mrs Simpson wedelte eine vorwitzige Wespe beiseite, die zum Fenster hereingeflogen war. »Ich habe gesagt, die Hauptbeschäftigung des Ordens ist das Gebet. Es gibt noch andere. Manche der Nonnen fertigen Handschriften an; manche sind Künstlerinnen. Sœur Emmanuelle – das ist der Name, den Hélène angenommen hat, als sie in den Konvent eingetreten ist – war beides«, erklärte sie, als sie Minnies Verwunderung sah. »Der Orden fertigt wunderbare Bücher – religiöser Natur selbstverständlich, Bibeln, Gebetbücher – und verkauft sie, um die Gemeinschaft zu unterstützen.«
»Und mein Vater hat davon erfahren?«
Ihre Tante zuckte mit den Schultern. »Es ist kein Geheimnis. Die Bücher des Ordens sind weithin bekannt, ebenso die Kunstfertigkeit der Schwestern. Ich vermute, es war nicht das erste Mal, dass Raphael geschäftlich mit dem Konvent zu tun hatte. Er …«
»Es gab keine Geschäfte mit dem Konvent, soweit ich weiß, sonst hätte ich von den Schwestern gehört.«
»Glaubst du, er wäre das Risiko eingegangen, dass du es herausfindest?«, sagte ihre Tante unverblümt. »Was auch immer seine Charakterschwächen sind, ich kann nicht leugnen, dass der Mann weiß, wie man ein Geheimnis bewahrt. Er hat jede Verbindung mit dem Konvent abgebrochen, nachdem …« Ihr Mund presste sich fest zusammen, und sie machte eine Handbewegung, die nichts mit der Wespe zu tun hatte.
Minnie hatte zwar die Zähne fest aufeinandergebissen, doch es gelang ihr, einige Worte herauszubringen.
»Was zum Teufel ist passiert?«
Ihre Tante blickte sie forschend an, und die Vibrationen der Kutsche ließen die Rüschen ihrer Haube erzittern. Dann zuckte sie mit den Schultern.
»Bon«, sagte sie.
Was geschehen war (»kurzgefasst«, sagte Mrs Simpson), war, dass Raphael Wattiswade ein Horenbuch erworben hatte, eine über hundert Jahre alte Rarität. Es war prachtvoll, aber in sehr schlechtem Zustand. Der Einband konnte wiederhergestellt, die fehlenden Edelsteine ersetzt werden – doch einige der Illustrationen hatten sehr unter den Einflüssen der Zeit und des Gebrauchs gelitten.
»Und so kam Raphael zur Äbtissin des Ordens – einer Frau, die er geschäftlich gut kannte – und fragte, ob eine ihrer talentierteren Kalligrafinnen vielleicht in der Lage sein würde, die Illustrationen zu restaurieren. Gegen Bezahlung natürlich.«
Normalerweise hätte man das Buch schlicht in das Skriptorium gebracht, um es zu untersuchen und zu bearbeiten, doch in diesem Fall waren einige Seiten vollständig zerstört. Raphael jedoch hatte mehrere Briefe des ursprünglichen Besitzers ausfindig gemacht, in denen dieser einem Freund von seiner jüngsten Errungenschaft vorschwärmte und ihm die bedeutenderen Illustrationen detailliert beschrieb.
»Und er konnte der Äbtissin die Briefe nicht einfach geben?«, fragte Minnie skeptisch. Nicht, dass ihr ein Grund eingefallen wäre, warum es ihr Vater absichtlich darauf anlegen sollte, eine Nonne zu verführen, von der er noch nie gehört und die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte …
Mrs Simpson schüttelte den Kopf.
»Sagte ich, dass das Buch aus vergangener Zeit stammte? Die Briefe waren auf Deutsch verfasst, und zwar in einer archaischen Form dieser barbarischen Sprache. Niemand in der Abtei war imstande, sie zu übersetzen.«
Angesichts dieser Tatsache und des empfindlichen Zustands des Buches gestattete man es Sœur Emmanuelle, Raphaels Werkstatt aufzusuchen. »Mit einer Anstandsdame natürlich«, fügte Mrs Simpson hinzu und presste die Lippen erneut aufeinander.
»Natürlich.«
Ihre Tante zuckte mit den Schultern. »Aber manchmal verselbstständigen sich die Dinge nun einmal, nicht wahr?«
»Offensichtlich.« Sie warf einen Blick auf Mrs Simpson, die ihren Vater recht freizügig beim Vornamen zu nennen schien.
»C’est vrai. Und das Ergebnis warst natürlich du.«
Darauf gab es keine gute Antwort, und Minnie versuchte auch nicht, eine zu finden.
»Sie war erst neunzehn«, sagte ihre Tante schließlich und senkte den Blick auf ihre verschränkten Hände. Ihre Stimme war so leise, dass Minnie sie in der rumpelnden Kutsche kaum hörte. Und wie alt war ihr Vater gewesen?, fragte sie sich. Er war jetzt fünfundvierzig … achtundzwanzig. Siebenundzwanzig vielleicht, wenn man die Dauer der Schwangerschaft mit einrechnete.
»Mehr als alt genug, um es besser zu wissen«, murmelte Minnie, jedoch zu sich selbst. »Ich vermute, sie – meine Mutter –«, sie zwang sich, die Worte zu sagen, die sich jetzt verstörend in ihrem Mund anfühlten, »war gezwungen, den Orden zu verlassen? Ich meine, man kann doch wohl in einem Konvent nicht schwanger sein?«
»Du wärst überrascht«, stellte ihre Tante zynisch fest. »Aber in diesem Fall hast du recht. Sie haben sie nach Rouen in eine Art Asyl geschickt – ein furchtbares Haus.« Auf Mrs Simpsons hohen Wangenknochen begann es rot zu brennen. »Ich habe erst davon gehört, als Raphael eines Abends aufgewühlt vor meiner Tür erschien, um mir zu sagen, dass sie verschwunden war.«
»Was habt Ihr getan?«
»Wir haben sie fortgeholt«, sagte ihre Tante schlicht. »Was sonst?«
»Du sagst ›wir‹. Meint Ihr damit Euch und … meinen Vater?«
Ihre Tante kniff schockiert die Augen zusammen.
»Nein, natürlich nicht. Meinen Mann und mich.« Sie atmete tief durch und versuchte sichtlich, sich zu beruhigen. »Es … sie … es war sehr erschütternd.«
Aus der Gemeinschaft gerissen, die ihr Zuhause gewesen war, seit sie als zwölfjährige Novizin in den Konvent eingetreten war, wie ein Gegenstand der Schande behandelt, ohne die geringste Ahnung davon, was eine Schwangerschaft bedeutet, ohne Freunde oder Familie und eingesperrt in einem Etablissement, das sehr nach einem Gefängnis klang, war Sœur Emmanuelle erst in Hysterie verfallen, ehe sie sich allmählich in einen Zustand der Verzweiflung und schließlich des versteinerten Schweigens zurückzog, in dem sie den ganzen Tag dasaß, die nackte Wand anstarrte und nicht einmal von ihrem Essen Notiz nahm.
»Sie war nur noch Haut und Knochen, als ich sie gefunden habe«, sagte Mrs Simpson, und ihre Stimme zitterte jetzt noch vor Wut. »Sie hat mich gar nicht erkannt!«
Sie hatten Sœur Emmanuelle ganz langsam in die Welt zurückgeholt – doch es war nicht die Welt, aus der sie aufgebrochen war.
»Ich weiß nicht, ob es die Tatsache war, dass sie den Orden verlassen musste – der ihre Familie war! –, oder der Schock der Schwangerschaft, aber …« Sie schüttelte den Kopf, und die Trostlosigkeit ließ ihr die Farbe aus dem Gesicht weichen. »Sie war völlig außer sich. Bekam ihren Zustand gar nicht mit und glaubte, sie wäre wieder im Konvent und ginge ihrer üblichen Arbeit nach.«
Sie hatten sie in dem Glauben gelassen, ihr eine Kutte gegeben und sie mit Farben, Pinseln und Pergament ausgestattet, und sie hatte den Anschein erweckt, dass sie ihre Umgebung wahrnahm – hatte manchmal gesprochen und ihre Schwester erkannt. Doch dann war unausweichlich die Geburt gekommen.
»Sie hatte sich geweigert, darüber nachzudenken«, sagte Mrs Simpson mit einem Seufzer. »Doch dann warst du da … rosa, schleimig und laut.« Weil sie die Situation nicht bewältigen konnte, hatte Sœur Emmanuelle den kläglichen Rest ihres Verstandes verloren und war in ihren Zustand trostloser Abwesenheit zurückgefallen.
Ich habe also meine eigene Mutter in den Wahnsinn getrieben und ihr Leben zerstört. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ein fester, pulsierender Klumpen, der bei jedem Schlag schmerzte. Dennoch musste sie weiterreden.
»Der Schock, sagt Ihr.« Sie leckte sich die trockenen Lippen. »Lag es nur … an mir? Ich meine, glaubt Ihr, sie ist vergewaltigt worden?«
Zu Minnies grenzenloser Erleichterung sah Mrs Simpson bei diesem Wort entgeistert aus.
»Nom de Dieu! Nein. Nein, gewiss nicht.« Ihr Mund verzog sich ein wenig, als sie sich von ihrem Schreckmoment erholte. »Sag über Raphael, was du willst, ich bin mir sicher, dass er noch nie eine Frau gegen ihren Willen genommen hat. Allerdings kann er eine Frau in kürzester Zeit dazu bringen, es zu wollen.«
Minnie wollte kein Wort über willige Frauen und ihren Vater hören.
»Wohin genau fahren wir eigentlich?«, fragte sie mit fester Stimme. »Wo ist meine Mutter?«
»In ihrer eigenen Welt, ma chère.«
ES WAR EINE bescheidene Bauernkate, die für sich am Rand eines weiten, sonnigen Feldes stand, obwohl das Häuschen selbst von großen Eichen und Buchen abgeschirmt wurde. Vielleicht eine Viertelmeile weiter lag ein kleines Dorf, dessen überraschend große, steinerne Kirche einen hohen Turm hatte.
»Ich wollte, dass sie nahe genug ist, um die Glocken zu hören«, erklärte Mrs Simpson und wies kopfnickend auf die etwas entfernte Kirche, als ihre Kutsche vor der Kate zum Halten kam. »Sie halten sich natürlich nicht an die Gebetsstunden, wie es ein katholisches Kloster tun würde, aber das merkt sie normalerweise nicht, und der Klang spendet ihr Trost.«
Sie blickte Minnie einige Sekunden an und biss sich auf die Lippen, unverhohlenen Zweifel in den Augen. Minnie berührte die Hand ihrer Tante, so sanft sie es konnte, obwohl der Pulsschlag in ihren Ohren sie beinahe betäubte.
»Ich füge ihr kein Leid zu«, flüsterte sie auf Französisch. »Ich verspreche es Euch.«
Der Zweifel wich zwar nicht aus dem Blick ihrer Tante, doch ihr Gesicht entspannte sich ein wenig, und sie nickte dem Kutscher außen zu, der die Tür öffnete und ihr seinen Arm anbot, um ihr hinunterzuhelfen.
Eine Anachoretin, hatte ihre Tante gesagt; Schwester Emmanuelle hielt sich für eine Anachoretin. Eine Eremitin mit einem festen Platz, deren einzige Pflicht im Gebet bestand.
»Sie fühlt sich … geborgen, glaube ich«, hatte Mrs Simpson gesagt, obwohl die Falten auf ihrer Stirn den Schatten jahrelanger Sorge preisgaben. »Sicher, versteht Ihr?«
»Sicher vor der Welt?«, hatte Minnie gefragt. Ihre Tante hatte ihr einen sehr direkten Blick zugeworfen, und die Falten auf ihrer Stirn waren tiefer geworden.
»Sicher vor allem«, hatte sie gesagt. »Und vor jedem.«
Und so folgte Minerva ihrer Tante jetzt an die Tür, erfüllt von einer Mischung aus Nervosität, Staunen, Schmerz und – unvermeidlich – Hoffnung.
Natürlich hatte sie schon von Anachoreten gehört; sie tauchten häufig in religiösen Geschichten auf – von Heiligen, Klöstern, Verfolgungen, Reformationen –, doch im Moment beschwor das Wort nur ein lachhaftes Bild des Heiligen Simeon Stylites herauf, der dreißig Jahre auf einer Säule gelebt hatte … und seiner Nichte nach dem Tod ihrer Eltern großzügigerweise eine Säule gleich neben der seinen besorgt hatte. Nach einigen Jahren dieses Daseins war seine Nichte den Erzählungen zufolge hinuntergeklettert und hatte sich mit einem Mann davongemacht, was der Autor der Geschichte gar nicht guthieß.
Die Tür der Kate öffnete sich und gab eine große, fröhlich aussehende Frau preis, die Miriam Simpson herzlich begrüßte und ihren freundlichen Blick dann fragend auf Minnie richtete.
»Das ist Ms Rennie«, sagte Mrs Simpson und wies auf Minnie. »Ich habe sie mitgebracht, damit sie meine Schwester besuchen kann, Mrs Budger.«
Mrs Budgers schüttere graue Augenbrauen hoben sich bis zu ihrer Haube, doch sie knickste kurz in Minnies Richtung.
»Stets zu Diensten, Miss«, sagte sie und wedelte mit ihrer Schürze nach einer großen, dreifarbigen Katze. »Kusch dich, Katze. Lass die Dame in Ruhe. Er weiß, dass es gleich Zeit für den Tee der Schwester ist«, erklärte sie. »Kommt herein, die Damen, das Wasser kocht schon.«
Minnie empfand fieberhafte Ungeduld, unterbrochen von Messerstichen eisigen Grauens.
»Sœur Emmanuelle nennt sie sich immer noch«, hatte Mrs Simpson unterwegs erklärt. »Sie bringt ihre Tage – und oft auch die Nächte –«, hier hatte sich ihre breite Stirn gerunzelt, »im Gebet zu, doch sie bekommt auch Besuch. Menschen, die von ihr gehört haben, die sie darum bitten, für dies oder jenes zu beten. Anfangs hatte ich Angst«, hatte sie gesagt und aus dem Fenster auf einen vorbeifahrenden Wagen geschaut, »dass es sie aus der Fassung bringen würde, wenn sie ihr ihre Sorgen erzählen. Aber es scheint ihr … besser zu gehen, wenn sie jemanden angehört hat.«
»Spricht sie … mit ihnen?«, hatte Minnie gefragt. Ihre Tante hatte sie angesehen und dann ein paar Sekunden zu lange geschwiegen, ehe sie sagte: »Manchmal«, und sich wieder dem Fenster zuwandte.
Es spielt keine Rolle, sagte sie sich und ballte die Hände in ihrem Rock zu Fäusten, um Mrs Budger nicht zu erwürgen, die sich langsam, langsam um den Herd herum zu schaffen machte und ein paar Scheiben gebuttertes Brot, ein Stück Käse und einen Krug auf einem Tablett arrangierte, eine gesprungene Teekanne und drei weitere Steingutbecher herunterholte, eine zerbeulte Teedose und ein kleines, klebriges blaues Honigtöpfchen. Es spielt keine Rolle, wenn sie nicht mit mir spricht. Es spielt noch nicht einmal eine Rolle, wenn sie mich nicht hören kann. Ich möchte sie einfach nur sehen!