ES WAR ZEIT.
Argus House hatte vierzehn Schlafzimmer, die Dienstbotenquartiere nicht mitgezählt. Bis jetzt hatte sich Hal nicht überwinden können, in einem davon zu schlafen. Nicht in seinem. Dort hatte er seit jenem Morgengrauen nicht mehr gelegen, als er sich von Esmés warmem Körper erhoben hatte und in den Regen hinausgegangen war, um Nathaniel gegenüberzutreten.
»Auf deinem verdammten Krocketrasen!«, sagte er, wenn auch kaum hörbar. Es war nach Mitternacht, und er wollte keinen vorwitzigen Dienstboten wecken. »Du aufgeblasener Protz!«
Auch nicht in Esmés sittsamem blau-weißen Boudoir nebenan. Er konnte sich nicht einmal überwinden, die Tür zu öffnen, nicht sicher, ob ihr Geist noch in der parfümierten Luft weilte oder ob das Zimmer eine kalte, leere Hülle sein würde. Ganz gleich, was es war, er hatte Angst, es herauszufinden.
Jetzt stand er am Kopf der Treppe. Der lange Korridor mit den Schlafzimmern wurde zu dieser späten Stunde nur von drei der vielen Wandleuchter erhellt, und die Farben des halben Dutzends Orientteppiche verschmolzen mit dem Schatten. Er schüttelte den Kopf, machte kehrt und ging die Treppe hinunter.
Im Allgemeinen schlief er ohnehin nicht in der Nacht. Hin und wieder ging er hinaus und wanderte ziellos über die dunklen Pfade im Hyde Park. Manchmal machte er kurz halt, um ein Feuer mit den Vagabunden zu teilen, die dort kampierten. Öfter jedoch saß er lesend in der Bibliothek, bis das Wachs der schmelzenden Kerzen auf Tische und Böden spritzte und Nasonby oder Wetters wortlos mit Schabern und neuen Kerzen hereinkamen, obwohl er ihnen aufgetragen hatte, zu Bett zu gehen.
Im frischen Licht las er dann hartnäckig weiter – Tacitus, Marcus Aurelius, Cicero, Plinius, Julius Caesar – und verlor sich in vergangenen Schlachten und den Gedanken längst verstorbener Männer. In ihrer Kameradschaft fand er Trost, und im Morgengrauen schlief er ein, zusammengerollt auf dem blauen Sofa oder langgestreckt auf dem kühlen Marmorboden, den Kopf auf den weißen Kaminläufer gebettet.
Immer kam irgendjemand lautlos herbei und deckte ihn zu. Normalerweise erwachte er, weil jemand mit einem Essenstablett über ihm stand, und er erhob sich mit schmerzenden Gliedmaßen und einem vernebelten Verstand, der bis zur Teezeit brauchte, um sich wieder zu klären.
»So geht das nicht weiter«, sagte er laut und blieb an der Tür zur Bibliothek stehen. Nicht heute Nacht.
Er ging nicht in die Bibliothek, obwohl sie in Erwartung seiner Anwesenheit hell erleuchtet war. Stattdessen griff er in die Brust seines Hemdes und zog die Note hervor. Er trug sie bei sich, seit sie zur Teezeit gekommen war, hatte sie wieder und wieder gelesen – und öffnete sie nun, um sie erneut zu lesen, als könnten sich die Worte geändert haben oder verschwunden sein.
Es ist Seiner Königlichen Hoheit, dem Prince of Wales, eine Freude, Euch einzuladen, ihn zu besuchen, um mit Euch über Eure Vorschläge bezüglich der Wiedereinsetzung des 46sten Infanterieregiments zu sprechen, ein Projekt, welches für ihn von größtem Interesse ist. Vielleicht wäre es am besten, wenn Ihr den Gartenempfang der Prinzessin im Weißen Haus am Sonntag, dem 21sten Juni, besuchen würdet. Eine formelle Einladung wird in dieser Woche an Euch ergehen; solltet Ihr dieses Arrangement als zusagend betrachten, erwidert bitte auf die übliche Weise.
»Zusagend«, sagte er laut und verspürte ein ungewohntes Kribbeln der Erregung wie jedes Mal, wenn er die Note gelesen hatte. »Zusagend, schreibt er!«
Überaus zusagend – auch wenn es gefährlich war. Der Prinz verfügte über große Macht, großen Einfluss in Militärkreisen bis hin zum Kriegsminister. Aber er war nicht der König. Und König und Prinz waren einander bekanntermaßen nicht grün. Der König und sein Erbe standen seit einigen Jahren im Konflikt – wenn nicht sogar auf Kriegsfuß – miteinander, und um die Gunst des einen zu werben, bedeutete, dass einem der andere die kalte Schulter zeigte.
Dennoch … vielleicht war es möglich, sich auf dem schmalen Grat zwischen den beiden zu bewegen und am Ende Rückendeckung von beiden zu bekommen …
Doch er wusste, dass er nicht in der Verfassung zu derlei Finessen war, erschöpft, wie er körperlich und geistig war.
Außerdem. Es war Zeit. Er wusste es. Er warf einen kurzen, bedauernden Blick in die Bibliothek, dann streckte er die Hand aus und schloss sanft die Tür seines mit Büchern gefüllten Refugiums.
Das Haus war still, und seine Schritte machten kein Geräusch auf den dicken Teppichen, als er – endlich – zu Esmés Zimmer zurückkehrte. Ohne zu zögern, öffnete er die Tür und trat ein.
Es gab kein Licht, und er ließ die Tür hinter sich offen, während er das Zimmer durchquerte, um die Vorhänge des großen Doppelfensters zu öffnen. Blasses Mondlicht überströmte ihn, und er ging zurück und schloss lautlos die Tür. Dann schob er den Riegel vor.
Das Zimmer war kalt und von allem frei. Ein schwacher Duft nach Bienenwachspolitur und frischem Leinen hing in der Luft. Keine Spur von ihrem Parfum.
Halb blind suchte er sich den Weg zu der Kommode in ihrer Ankleidekammer und tastete in der Dunkelheit umher, bis er das dicke Kristallfläschchen fand. Er spürte das sanfte Knirschen des aufgerauten Glasstopfens, als er ihn herauszog, um sich einen Tropfen ihres Duftes auf die Innenseite des Handgelenks zu tupfen – so wie er es hundertmal und öfter bei ihr gesehen hatte.
Es war ein Duft, der nur für sie gemacht war, und für den Moment war sie darin erneut lebendig: komplex und betörend, würzig und bitter – Zimt und Myrrhe, grüne Orangen und Nelkenöl. Er ließ die Flasche offen, ging in das Schlafzimmer zurück und trat langsam an das weiße Bett mit den weißen Vorhängen. Zog diese zurück und setzte sich hin.
Alles in ihrem Gemach war weiß oder blau; das Zimmer war voller Schatten. Selbst die Bibel auf ihrem Nachttisch war in weißes Leder gebunden. Nur im goldenen oder silbernen Glitzern ihrer Schmuckschatulle und des Kerzenständers fing sich das Licht des Mondes.
Ohne das Zischen und Knistern eines Feuers oder das Schmelzen der Kerzen war die Luft vollkommen reglos. Er konnte den Schlag seines Herzens hören, langsam und schwer. Es gab nur ihn. Und sie.
»Em«, sagte er leise, die Augen geschlossen. »Es tut mir leid.« Und flüsterte so leise, dass er die Worte kaum hörte: »Du fehlst mir. Gott, du fehlst mir.«
Endlich, endlich ließ er zu, dass der Schmerz ihn nahm, und dann weinte er lange um sie.
»Vergib mir«, sagte er.
Und schließlich legte er sich auf ihr weißes Bett und ließ zu, dass auch der Schlaf ihn nahm, ihn mitnahm in unbekannte Träume.