Meine Liebste,
da mir nichts Gegenteiliges zu Ohren gekommen ist, gehe ich davon aus, dass bei Dir alles zum Besten steht. Ich habe eine spezielle Anfrage erhalten, durch einen Freund; ein englischer Sammler namens Mr Bloomer wünscht, einen besonderen Auftrag mit Dir zu besprechen. Sein Brief, seine detaillierten Wünsche, eine Liste der zu ihrer Erfüllung notwendigen Ressourcen und eine Veranschlagung der akzeptablen Bezahlung folgen separat.
Dein Dir äußerst zugeneigter Vater
R. Rennie
»MR BLOOMER« HATTE die Residenz Seiner Majestät, des Prinzen von Wales, in Kew als Treffpunkt angegeben, am 21. Juni – dem Mittsommertag. Minnies Tagebuch enthielt eine Skizze mit diversen Blüten und Früchten, um den Anlass zu markieren; das Weiße Haus (wie es salopp genannt wurde) war von bemerkenswerten Gärten umgeben, in welchen Prinzessin Augusta eine private Teegesellschaft (Zugang nur mit Einladung) zur Unterstützung einer ihrer wohltätigen Organisationen geben würde. Es war zwar ein wenig extravagant für eine unverheiratete junge Frau, allein zu einem solchen Ereignis zu gehen, doch Mr Bloomer hatte genau darauf bestanden und seinem Brief eine einzelne Einladung beigefügt. Allerdings war ihm vermutlich nicht klar gewesen, dass der »Agent«, von dem in diesem Brief die Rede war, eine junge Frau sein würde.
Es war ein schöner Tag, und Minnie entstieg der Droschke am Ende der langen Allee, die am Fluss entlang auf das – sehr große, schon beinahe palastartige – Haus zuführte.
»Ich gehe ab hier zu Fuß«, sagte sie zu Rafe O’Higgins, der sie begleitete. »Ihr könnt mich beobachten, bis ich das Haus erreiche, wenn Ihr meint, dass Ihr das unbedingt müsst.« Eine Anzahl bunter Sonnenschirme, breitkrempiger Hüte und ausladender Seidenröcke wiegte sich langsam über die Wege am Rand eines großen Teiches wie eine Parade lebendiger Blumen – sehr passend für ein Gartenfest, dachte sie belustigt.
»Dann hole ich Euch genau hier ab«, sagte Rafe, ohne ihre Stichelei zu beachten. Er zeigte auf eine steinerne Pferdetränke, die in einer Ausbuchtung am Wegrand stand. »Genau hier«, wiederholte er und blickte zur Sonne hinauf. »Es ist kurz nach zwei – meint Ihr, Ihr seid um vier Uhr fertig?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um so weit wie möglich über das Meer aus Grün rings um das Haus hinwegzublicken. Durch die Bäume sah sie hübsche Kuppeln, ein Glitzern von Metall oder Glas, und in der Ferne hörte sie leise Musik. Sie hatte vor, die Pracht der hoheitlichen Residenz und ihrer Gärten voll auszukosten, sobald sie mit Mr Bloomer fertig war.
Rafe verdrehte die Augen, wenn auch gutmütig.
»Aye, schön. Wenn Ihr um vier nicht hier seid, komme ich zu jeder vollen Stunde zurück, bis ich Euch finde.« Er bückte sich, um auf Augenhöhe mit ihr zu sprechen, und seine grünbraunen Augen bohrten sich in die ihren. »Und wenn Ihr bis sieben nicht hier seid, folge ich Euch hinein. Verstanden, Lady Bedelia?«
»Ach, Unsinn«, sagte sie, aber in freundlichem Ton. Sie hatte sich einen bescheidenen Sonnenschirm aus gerüschter grüner Seide gekauft, den sie jetzt mit einer ausladenden Bewegung öffnete, während sie Rafe den Rücken zukehrte. »Wir sehen uns dann.«
»Und wann ist dann?«, rief er ihr nach.
»Wenn ich so weit bin!«, rief sie hinter sich und schlenderte weiter, während sie ihr Schirmchen sacht drehte.
Die Menge drängte sich durch ein Tor in ein großes, zentrales Foyer, wo Prinzessin Augusta – zumindest vermutete Minnie, dass die hübsche, juwelengeschmückte Frau mit den großen blauen Augen und dem beginnenden Doppelkinn die Prinzessin war – ihre Gäste begrüßte, unterstützt von mehreren prächtig gekleideten Damen. Minnie mischte sich beiläufig unter die Menge und umging die Reihe der Wartenden, um lieber keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Im hinteren Teil des Hauses standen gewaltige Tische mit Erfrischungen, und sie ließ sich dankbar von einem Bediensteten ein Glas Limonade und ein Eistörtchen reichen; sie kostete davon, während sie in die Gärten hinauswanderte, um sich deren Gestaltung und die Positionen diverser Besonderheiten einzuprägen. Sie sollte Mr Bloomer um drei Uhr im »ersten der Treibhäuser« treffen. Und etwas Grünes tragen.
Grün gekleidet war sie, von Kopf bis Fuß: ein blassgrünes Musselinkleid mit einem Überrock und Jäckchen aus bedrucktem französischen Kaliko. Und natürlich der Schirm, den sie sogleich wieder öffnete, als sie im Freien war.
Es war sehr schlau von Mr Bloomer, Grün zu wählen, dachte sie; sie war zwar inmitten der deutlich häufigeren rosa, blauen und weißen Kleider der anderen Frauen gut zu sehen, aber nicht so ungewöhnlich, dass sie die Blicke auf sich lenkte. Grün war eine Farbe, die nicht zu jedem Teint passte; davon abgesehen, verblassten grüne Stoffe schnell. Monsieur Vernet – ein Künstler, der mit ihrem Vater befreundet war und sich wie besessen für Wale interessierte – hatte ihr einmal erzählt, dass Grün eine flüchtige Farbe war, eine Vorstellung, die sie entzückte.
Vielleicht war das der Grund, warum Bäume im Herbst die Farbe ihres Laubs wechselten? Das Grün entschlüpfte ihnen irgendwie und überließ sie einem bräunlichen Tod. Doch warum erlebten sie dann dieses kurze Aufflammen in Rot und Gelb?
Doch derlei Gedanken betrafen die Pflanzen in ihrer Umgebung nicht; es war Mittsommer, und alles war so satt und grün, dass sie, statt aufzufallen, beinahe unsichtbar gewesen wäre, hätte sie inmitten all dieser wuchernden Flora aufgehört, sich zu bewegen.
Sie fand das Treibhaus ohne Schwierigkeiten. Es gab fünf solcher Glashäuser, alle in einer Reihe, glitzernd wie Diamanten in der Nachmittagssonne, ein jedes durch eine kurze, überdachte Passage mit seinem Nachbarn verbunden. Sie war etwas zu früh, doch das würde wohl keine Rolle spielen. Sie faltete den Sonnenschirm zusammen und schloss sich den hineingehenden Menschen an.
Die Luft im Inneren war schwer und feucht, vom köstlichen Duft reifender Früchte und betörender Blüten erfüllt. Sie war einmal in der königlichen Orangerie in Versailles gewesen; dies hier war zwar um einiges weniger beeindruckend, aber viel einladender. Orangen, Zitronen und Limonen, Pflaumen, Pfirsiche und Aprikosen, Birnen … und über allem schwebte der berauschende Duft der Zitrusblüten.
Sie seufzte glücklich und schlenderte die Kieswege zwischen den Pflanzenreihen entlang. Hin und wieder murmelte sie eine Entschuldigung oder eine Begrüßung, wenn sie im Vorübergehen jemanden streifte, ohne die Leute jedoch anzusehen, und als sie sich kurz allein unter einem Dach aus Quittenbäumen wiederfand, blieb sie stehen, um das Parfum der festen gelben Früchte über ihr einzuatmen, die die Größe von Kricketkugeln hatten.
Zwischen den Bäumen sah sie etwas Rotes aufblitzen und dachte im ersten Moment, es wäre ein exotischer Vogel, angelockt von der erstaunlichen Fülle ungewöhnlicher Früchte. Dann hörte sie Männerstimmen, die das gesittete Gemurmel der weitgehend weiblichen Gäste übertönten, und in der nächsten Sekunde trat ihr roter Vogel auf die breite Kreuzung der Kieswege hinaus. Ein Soldat in Paradeuniform – in flammendem Rot und Gold mit glänzenden schwarzen Stiefeln und einem Schwert an seinem Gürtel.
Er war nicht besonders groß; eigentlich war er sogar schmächtig mit einem feinknochigen Gesicht, das sie im Profil sah, weil er gerade den Kopf wandte, um etwas zu seinem Begleiter zu sagen. Doch er hielt sich kerzengerade und trug den Kopf erhoben, und er hatte etwas an sich, das sie an einen Kampfhahn erinnerte – etwas zutiefst Leidenschaftliches, gepaart mit angeborenem Stolz, während ihm gleichzeitig jedes Bewusstsein für seine relative Größe fehlte. Gespornt und bereit, es mit jedem aufzunehmen.
Dieser Gedanke amüsierte sie so sehr, dass es einen Augenblick dauerte, bis sie Notiz von seinem Gesprächspartner nahm. Sein Begleiter war nicht wie ein Soldat gekleidet, jedoch ebenfalls kostbar herausgeputzt, in ockerfarbenem Samt mit einer blauen Satinschärpe und einer großen Medaille an seiner Brust – vermutlich irgendein Orden. Allerdings hatte er große Ähnlichkeit mit einem Frosch, breitlippig und bleich mit ziemlich großen Glotzaugen.
Beim Anblick der beiden, Hahn und Frosch, vertieft in eine freundliche Plauderei, musste sie hinter ihrem Fächer lächeln, sodass sie den Herrn, der hinter sie getreten war, erst bemerkte, als er etwas sagte.
»Schwärmt Ihr für Opuntia-Kakteen … Madam?«
»Vielleicht, wenn ich wüsste, was das wäre«, erwiderte sie, und als sie herumfuhr, sah sie einen jüngeren Herrn in einem pflaumenfarbenen Anzug, der sie konzentriert betrachtete. Er räusperte sich und zog die Augenbraue hoch.
»Äh … eigentlich sind mir Sukkulenten lieber«, sagte sie und gab damit das vereinbarte Gegensignal. Sie räusperte sich ebenfalls und hoffte, dass sie das Wort richtig im Kopf hatte. »Vor allem die, ähm, Euphorbien.«
Die Frage in seinen Augen verschwand, und Belustigung trat an ihre Stelle. Er betrachtete Minnie von Kopf bis Fuß auf eine Weise, die unter anderen Umständen wohl ein Affront gewesen wäre. Sie errötete, ohne jedoch seinem Blick auszuweichen, und zog die Augenbrauen hoch.
»Mr Bloomer, nehme ich an?«
»Wenn Ihr möchtet«, sagte er lächelnd und bot ihr seinen Arm an. »Darf ich Euch denn die Euphorbien zeigen, Miss …?«
Ein Augenblick der Panik: Wer sollte sie sein oder vorgeben zu sein?
»Houghton«, sagte sie und packte Rafes ironischen Spitznamen beim Schopf. »Lady Bedelia Houghton.«
»Natürlich«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. »Bezaubert, Eure Bekanntschaft zu machen, Lady Bedelia.«
Er deutete eine Verbeugung an, sie nahm seinen Arm, und zusammen schritten sie langsam in die Wildnis hinein.
Sie durchquerten kleine Dschungel aus Philodendren – jedoch von einer Art, die nie ein gewöhnliches Wohnzimmer geschmückt hatte, mit gezackten Blättern, die halb so groß waren wie Minnie. Eine der Pflanzen hatte große, geäderte Blätter von der Farbe grüner Tinte und sah aus wie Seide im Wasser.
»Philodendren sind sehr giftig«, sagte Mr Bloomer mit einem beiläufigen Kopfnicken. »Ohne Ausnahme. Wusstet Ihr das?«
»Ich werde es mir merken.«
Und dann Bäume – Ficusbäume, wie Mr Bloomer ihr mitteilte (vielleicht hatte er ja sein Pseudonym doch nicht zufällig gewählt), mit gewundenen Stämmen und dicken Blättern und einem süßlichen Modergeruch, manche von Schlingpflanzen bedrängt, deren kräftige, wurzelähnliche Haare an der dünnen Rinde hafteten.
Und dann, wahrhaftig, die verdammten Euphorbien, wie sie leibten und lebten.
Sie hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas gab. Viele davon sahen überhaupt nicht wie Pflanzen aus, und wenn doch, waren es seltsame Zerrbilder des Pflanzenreichs, die dicken nackten Stämme mit grausamen Dornen besetzt; andere ähnelten Salatköpfen – aber verstrubbelte weiße Salatköpfe mit dunkelroten Mustern, die aussahen, als hätte jemand damit Blut vom Boden aufgewischt …
»Euphorbien sind ebenfalls sehr giftig, aber es ist mehr der Saft. Bringt einen zwar nicht um, aber man sollte ihn nicht in die Augen bekommen.«
»Ah, ja.« Minnie legte die Hand fester um ihren Sonnenschirm, bereit, ihn zu öffnen, sollte eine der Pflanzen auf die Idee kommen, sie anzuspucken; gleich mehrere von ihnen sahen so aus, als würden sie nichts lieber tun.
»Diese Pflanze nennt man ›Dornenkrone‹«, sagte Mr Bloomer und wies kopfnickend auf ein besonders grauenerregendes Exemplar, dessen lange schwarze Stacheln in alle Himmelsrichtungen ragten. »Passend.« An diesem Punkt bemerkte er ihre Miene und lächelte, während er den Kopf in Richtung des nächsten Hauses neigte. »Kommt mit; die nächste Sammlung wird Euch besser gefallen.«
»Oh«, sagte sie leise. Dann, viel lauter: »Oh!« Das neue Treibhaus war viel größer als die anderen und hatte ein hohes Gewölbedach, das das Innere mit Sonne erfüllte und den – mindestens! – tausend Orchideen Licht spendete, die sich von Tischen erhoben oder sich in Kaskaden aus Weiß, Gold und Purpur und Rot aus Bäumen ergossen.
»Oh.« Sie seufzte selig, und Mr Bloomer lachte.
Sie waren nicht die einzigen Bewunderer. Die Treibhäuser erfreuten sich ausnahmslos großer Beliebtheit – es hatte auch bei den stacheligen, den grotesken und den giftigen Pflanzen viele Ausrufe gegeben –, doch im Orchideenhaus wimmelte es von Gästen, und die Luft war von einem Summen des Staunens und Entzückens erfüllt.
Minnie holte Luft und schnupperte nach Herzenslust. Es duftete nach einer solchen Vielzahl von Aromen, dass ihr schwindelig wurde.
»Daran solltet Ihr lieber nicht riechen.« Mr Bloomer, der sie von einer Kostbarkeit zur nächsten führte, hielt die Hand schützend vor einen großen Topf voller ziemlich gewöhnlicher grüner Orchideen mit dicken Blütenblättern. »Verwesendes Fleisch.«
Sie schnupperte vorsichtig und fuhr zurück.
»Und warum in aller Welt möchte eine Orchidee nach Verwesung riechen?«, wollte sie wissen.
Er warf ihr einen etwas seltsamen Blick zu, lächelte aber.
»Blumen legen genau die Farben und Düfte an, die sie brauchen, um die Insekten anzulocken, die sie befruchten. Unser Freund Satyrium hier«, er wies kopfnickend auf die grünen Pflänzchen, »ist auf die Dienste von Aasfliegen angewiesen. Kommt, diese hier duftet nach Kokosnüssen – habt Ihr schon einmal eine Kokosnuss gerochen?«
Sie ließen sich Zeit im Orchideenhaus – da sich die Menge so langsam bewegte, blieb ihnen kaum etwas anderes übrig –, und obwohl Minnie die exotische Pracht nur bedauernd hinter sich ließ, war sie doch erleichtert, das letzte Glashaus der Reihe bei ihrem Eintreten so gut wie verlassen vorzufinden. Verglichen mit der tropischen Hitze so vieler Körper, war es außerdem kühl, und sie holte tief Luft. Hier waren die Düfte subtiler und bescheidener, die Pflanzen klein und von gewöhnlichem Aussehen, und ganz plötzlich begriff sie Mr Bloomers Strategie.
Das Orchideenhaus diente als Sieb oder Barriere. Hier waren sie völlig allein, obwohl sie offen an einer Stelle standen, wo sie jeden Kommenden rechtzeitig sehen konnten, um zu belanglosem Geplauder zu wechseln.
»Zum Geschäft also?«, sagte sie, und wieder lächelte Mr Bloomer.
»Sehr wohl. Ihr zuerst oder ich?«
»Ihr.« Es würde ein Austausch sein, kein Verkauf, doch ihre Hälfte der Transaktion war konkret, die seine war es nicht. »Erzählt es mir«, sagte sie und konzentrierte sich auf sein Gesicht – ziemlich schmal, aber nicht unansehnlich; sie konnte Humor in den Fältchen an seinem Mund sehen.
»Seid Ihr Euch auch sicher, dass Ihr es behalten werdet?«, sagte er skeptisch.
»Gewiss doch.«
Er holte Luft, nickte kurz und begann zu sprechen.
Wieder nahm sie seinen Arm, und sie durchschritten die Gänge des Glashauses, durchquerten sonnige und schattige Stellen, während er ihr eine Vielzahl an Informationen anvertraute. Diese prägte sie sich ein, indem sie sie an ihn gerichtet wiederholte und hin und wieder um eine Erläuterung oder Wiederholung bat.
Das meiste hatte mit finanziellen Angelegenheiten zu tun, mit Banken, der Börse und Geldbewegungen – zwischen Personen und zwischen Ländern. Ein wenig Tratsch, aber nicht viel.
Das überraschte sie; die Information, um die es ihm ging, war rein politischer Natur, und zwar sehr spezifisch. Mr Bloomer jagte Jakobiten. Vor allem in England und Paris.
Ich weiß gar nicht, warum, hatte ihr Vater als Randbemerkung auf seiner Liste notiert. Es stimmt, Charles Stuart hat sich nach Paris begeben, aber das ist allgemein bekannt, und außerdem weiß jeder, dass es zu nichts führen wird; der Mann ist ein Idiot. Nun denn, man verdient kein Geld, indem man sich weigert, den Leuten zu verkaufen, was sie wollen.
Sie war erleichtert, als Mr Bloomer zum Ende kam. Seine Aufzählung war weder lang noch kompliziert gewesen, und sie war sich sicher, dass sie sich alle Namen und die nötigen Zahlen fest eingeprägt hatte.
»Nun gut«, sagte sie und zog ihre eigene Liste – versiegelt – aus der Geheimtasche, die in das Futter ihrer Jacke eingenäht war. Ihr Herz schlug schnell, und ihre Handfläche war ein wenig feucht, doch er schien keinen Argwohn zu schöpfen.
Eigentlich hatte sie ja auch nichts Falsches getan – sie betrog Mr Bloomer nicht. Nicht ganz. Alles auf ihrer Liste entsprach genau den Ausführungen ihres Vaters … nur dass sie, als sie ihre Reinschrift angefertigt hatte, Mr Frasers Namen und die Einträge über sein Kommen und Gehen und seine Kontakte mit Charles Stuart und seinen Anhängern ausgelassen hatte. Mr Fraser weckte einen besitzergreifenden, um nicht zu sagen, beschützenden Instinkt in ihr.
Mr Bloomer war kein Dummkopf; er öffnete das Dokument und las es mindestens zweimal durch. Dann faltete er es zusammen und lächelte sie an.
»Danke, meine Teure. Ein Vergnügen, mit Euch zu …«
Er brach plötzlich ab und wich ein wenig zurück. Sie drehte sich fragend um und sah den Soldaten, den Kampfhahn, aus dem Durchgang zum Orchideenhaus kommen. Er war allein, doch sein Rot und Gold ließen ihn leuchten wie einen tropischen Papagei, als er einen sonnigen Fleck durchschritt.
»Jemand, den Ihr kennt?«, fragte sie leise. Und zwar jemand, dem Ihr nicht begegnen möchtet, würde ich sagen.
»Ja«, erwiderte Mr Bloomer und zog sich in den Schatten eines Baumfarns zurück. »Würdet Ihr mir einen Gefallen tun, meine Teure? Verwickelt Seine Durchlaucht doch kurz in ein Gespräch, während ich mich entferne.«
Er wies kopfnickend in die Richtung des nahenden Soldaten, und als sie einen zögernden Schritt in diese Richtung tat, hauchte er ihr einen Kuss zu und trat hinter den Farn.
Ihr blieb keine Zeit, sich ihre Worte zurechtzulegen.
»Guten Tag«, sagte sie und neigte lächelnd den Kopf vor dem Offizier. »Ist es nicht angenehm hier nach all dem Gedränge?«
»Gedränge?«, sagte er mit etwas verwirrter Miene, dann klärte sich sein Blick und richtete sich zum ersten Mal auf sie. Sie begriff, dass er sie gar nicht gesehen hatte, bis sie ihn ansprach.
»Im Orchideenhaus«, sagte sie und wies kopfnickend auf den Eingang, durch den er gerade gekommen war. »Ich dachte, Ihr seid vielleicht genau wie ich hier, um dem türkischen Bad zu entkommen.«
Er schwitzte in der Tat sichtlich in seiner schweren Uniform, und eine Schweißperle rollte ihm über die Stirn. Er trug sein eigenes Haar – dunkel, sah sie, trotz der Überbleibsel des Reispuders, die noch daran hafteten. Er schien zu begreifen, dass er seine gesellschaftlichen Pflichten vernachlässigt hatte, denn er verneigte sich tief vor ihr, die Hand auf seinem Herzen.
»Euer Diener, Ma’am. Bitte verzeiht; ich war …« Er richtete sich auf und zeigte vage auf die Pflanzen ringsum. »Es ist kühler hier, nicht wahr?«
Mr Bloomer war nach wie vor in Sicht, neben der Tür, die zum Orchideenhaus führte. Zu ihrer Überraschung war er stehen geblieben, und sie stellte etwas verärgert fest, dass er ihre Unterhaltung belauschte – so belanglos sie auch war. Sie runzelte die Stirn in seine Richtung; er sah es und zog den Mundwinkel hoch.
Sie trat dichter an den Soldaten heran und berührte seinen Arm. Er erstarrte zwar kaum merklich, doch es war nichts Zurückweisendes in seiner Miene – eher das Gegenteil, was beruhigend war –, und sie sagte im Plauderton: »Kennt Ihr irgendwelche von diesen Pflanzen? Außer Rosen und Orchideen kenne ich leider gar nichts.«
»Ich kenne … ein paar davon«, sagte er. Er zögerte einen Moment, dann sagte er: »Eigentlich bin ich sogar hier, um mir eine bestimmte Blume anzusehen, die Seine Hoheit mir gerade ans Herz gelegt hat.«
»Oh, tatsächlich?«, sagte sie beeindruckt. Ihre Erinnerung an den Frosch mit dem ockerfarbenen Rock durchlief eine hastige Neueinschätzung, und sie fühlte sich etwas benommen bei dem Gedanken, dass sie dem Prinzen von Wales so nah gewesen war. »Äh … welche Blume war das; macht es Euch etwas aus, es mir zu erzählen?«
»Ganz und gar nicht. Bitte lasst sie mich Euch zeigen. Wenn ich sie denn finden kann.« Er lächelte unerwartet, verneigte sich erneut und reichte ihr seinen Arm, den sie mit einem kleinen Schauder nahm und damit Mr Bloomer den Rücken kehrte.
»Verwickelt Seine Durchlaucht doch kurz in ein Gespräch …« Das war es, was er gesagt hatte: »Seine Durchlaucht.« Ihr letzter Aufenthalt in London war lange her, und sie hatte kaum Gelegenheit gehabt, englische Adelstitel zu benutzen, doch sie war sich beinahe sicher, dass man »Eure Durchlaucht« nur zu einem Herzog sagte.
Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu; er war zwar nicht sehr groß, überragte sie aber dennoch um einen guten Kopf. Jung allerdings … Sie hatte sich Herzöge (wenn sie überhaupt je darüber nachgedacht hatte) immer als gichtgeplagte alte Männer mit dicken Bäuchen und Kehllappen vorgestellt. Dieser hier konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein. Er war schlank, was der Angriffslust des Kampfhahns, die er ausstrahlte, keinen Abbruch tat, und er hatte ein sehr auffallendes Gesicht, doch er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und seine Wangen hatten Falten und Vertiefungen, die ihn älter erscheinen ließen, als er vermutlich war.
Plötzlich tat er ihr leid, und ihre Hand drückte seinen Arm, ohne dass sie es beabsichtigt hätte.
Er blickte überrascht auf sie hinunter, und sie riss ihre Hand fort und fischte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch, das sie sich an die Lippen presste, während sie einen Hustenanfall vortäuschte.
»Stimmt etwas nicht, Madam?«, fragte er besorgt. »Soll ich Euch …« Er drehte sich um und blickte zu der Tür, die zu den aneinandergereihten Glashäusern führte, dann wandte er sich mit höflicher Miene wieder zurück. »Ich fürchte, wenn ich Euch Eis holen würde, wäret Ihr tot, lange bevor ich zurück wäre. Soll ich Euch stattdessen auf den Rücken klopfen?«
»Das sollt Ihr nicht«, brachte sie heraus. Nachdem sie noch ein-, zweimal damenhaft gehüstelt hatte, betupfte sie sich die Lippen mit dem Taschentuch und steckte es ein. »Aber danke.«
»Keine Ursache.« Er verbeugte sich, ohne ihr jedoch den Arm noch einmal anzubieten. Stattdessen bedeutete er ihr kopfnickend, dass sie zu einem niedrigen Tisch voller herrlicher Porzellangefäße vorgehen sollte. Noch so ein Wunder, dachte sie angesichts des zarten blau-weißen und vergoldeten Porzellans. Jede einzelne dieser fein bemalten Schalen musste ein Vermögen kosten, und hier standen sie mit Erde gefüllt, um diese unauffälligen Blumen zu präsentieren.
»Diese hier?«, fragte sie und drehte sich zu Seiner Durchlaucht um – sollte sie ihn nach seinem Namen fragen? Ihm den ihren anbieten?
»Ja«, sagte er, obwohl sein Ton jetzt zögerlich schien, und sie sah, wie er kurz die Fäuste ballte, ehe er an die Tischkante trat. »Sie kommen aus China – eine … eine Rarität.«
Sie sah ihn an, überrascht über seinen heiseren Ton.
»Was sind es für Pflanzen, wisst Ihr das?«
»Sie haben einen chinesischen Namen … ich weiß ihn nicht mehr. Ich kenne einen Botanisten, einen Schweden … er nennt sie Chrysanthemen. Chrysos – das heißt Gold – und anth, anthemon. Bedeutet … Blume.«
Sie sah die Bewegung seiner Kehle über seinem Lederkragen, als er schluckte, und bemerkte alarmiert, dass er blass geworden war.
»Sir?«, sagte sie und griff zögerlich nach seinem Arm. »Geht es – geht es Euch nicht gut?«
»Doch, natürlich«, sagte er, doch er atmete schnell, und der Schweiß rann ihm über den Hals. »Ich … es … es geht gleich wie–« Plötzlich brach er keuchend ab und stützte sich schwerfällig auf den Tisch. Die Töpfe verrutschten ein wenig, und zwei der Gefäße stießen klirrend aneinander, ein schrilles Geräusch, das ihr unangenehm in die Zähne und unter die Haut fuhr.
»Vielleicht solltet Ihr Euch besser setzen«, sagte sie. Sie nahm ihn beim Ellbogen und versuchte, ihn einen Schritt zurückzuschieben, damit er nicht kopfüber in Hunderte Pfund kostbarsten Porzellans und seltener Blumen stürzte. Er stolperte rückwärts und ging auf dem Kies in die Knie, an ihre Arme geklammert, ein schweres Gewicht. Sie sah sich nervös nach Hilfe um, doch außer ihnen war niemand in dem Glashaus. Mr Bloomer war verschwunden.
»Ich …« Er würgte, hustete kräftiger, holte keuchend Luft. Seine Lippen waren blau angehaucht, was ihr Angst machte. Seine Augen waren zwar offen, doch sie hatte das Gefühl, dass er nichts sehen konnte; er ließ sie los und tastete blindlings an seinen Rockschößen herum. »Brauche …«
»Was ist es? Habt Ihr es in der Tasche?« Sie bückte sich, schob seine Hand beiseite, tastete sich durch den Stoff und spürte einen Gegenstand. In seinem Rockschoß befand sich eine kleine Tasche, und ihr fuhr der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich ihre erste Berührung eines Männerhinterns ein wenig anders vorgestellt hatte, doch sie fand den Weg in die Tasche und zog eine Schnupftabaksdose aus blauem Email hervor.
»Ist es das, was Ihr wollt?«, fragte sie skeptisch und hielt ihm die Dose hin. Schnupftabak schien ihr nun wirklich das Letzte zu sein, was einem Mann in seinem Zustand helfen konnte …
Er nahm ihr die Dose mit zitternden Händen ab und versuchte, sie zu öffnen. Sie nahm sie wieder an sich und öffnete sie für ihn, nur um ein verkorktes Fläschchen darin zu finden. Weil sie keine Ahnung hatte, was sie tun sollte – wieder richtete sie den Blick panisch auf den Eingang, doch es tauchte keine Hilfe auf –, nahm sie das Fläschchen in die Hand, zog den Korken heraus und fuhr keuchend zurück, als ihr brennende Ammoniakdämpfe entgegenstiegen.
Sie hielt ihm das Fläschchen an die Nase, und er keuchte ebenfalls, nieste – ihr auf die Hand –, dann packte er ihre Hand, hielt sich das Fläschchen dichter an die Nase und tat einen heroischen Atemzug, ehe er es fallen ließ.
Er setzte sich schwerfällig auf den Kies, beugte sich vornüber und keuchte, prustete und schnappte nach Luft, während sie sich unauffällig die Hand an ihrem Unterrock abwischte.
»Sir … ich gehe jetzt Hilfe suchen«, sagte sie und machte Anstalten zu gehen, doch seine Hand kam angeschossen und packte den Stoff ihres Rockes. Er schüttelte wortlos den Kopf, doch nach ein paar Sekunden bekam er genug Luft, um zu sagen: »Nein. Ist … gleich … gut.«
Das bezweifelte sie sehr. Dennoch, sie wollte auf gar keinen Fall Aufsehen erregen, und auch wenn es ihm zwar, genau gesagt, nicht besser ging, so schien er doch weniger in Gefahr zu sein, auf der Stelle zu sterben.
Sie nickte unsicher, obwohl sie nicht glaubte, dass er sie sah, und nachdem sie sich einen Moment hilflos umgesehen hatte, setzte sie sich vorsichtig auf die Kante eines Hochbeets voller Pflanzen, die wie Nadelkissen aussahen – von Exemplaren, die in ihre Hand gepasst hätten (hätten sie nicht ganz so viele Stacheln gehabt) bis hin zu solchen, die um einiges größer waren als ihr Kopf. Ihr Korsett engte sie ein, und sie versuchte, langsamer zu atmen.
Als ihre Panik nachließ, kam ihr das entfernte Geplauder im Orchideenhaus zu Bewusstsein, das just in diesem Moment deutlich lauter und schriller geworden war.
»Fred … rick«, sagte die zusammengekauerte Gestalt zu ihren Füßen.
»Was?« Sie beugte sich vor, um ihn anzusehen. Seine Farbe war immer noch ungesund, und er atmete geräuschvoll, doch immerhin atmete er.
»Prinz …« Er wedelte mit der Hand in die Richtung der Stimmen.
»Oh.« Sie vermutete, dass er meinte, der Prince of Wales sei gekommen, um die Orchideen zu betrachten, und hätte damit den Anstieg des Geräuschpegels nebenan verursacht. In diesem Fall, so dachte sie, waren sie vermutlich zunächst vor Unterbrechungen sicher – niemand würde Seine Königliche Hoheit stehen lassen, um sich Nadelkissen und chinesische … was-auch-immer-sie-waren anzusehen.
Seine Durchlaucht hatte die Augen geschlossen und schien sich aufs Atmen zu konzentrieren, was sie für eine gute Idee hielt. Weil sie gern etwas anderes getan hätte, als den armen Mann anzustarren, richtete sie sich auf und ging zu den Porzellanschüsseln hinüber.
Vorhin hatte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Porzellan gegolten, doch jetzt betrachtete sie den Inhalt der Schalen. Chrysanthemen, hatte er gesagt. Die meisten der Blüten waren eher klein, bauschige Blütenkugeln in Cremeweiß oder Gold mit langen Stielen und dunkelgrünen Blättern. Eine jedoch hatte einen hübschen Rost-Ton, und wieder eine andere Schale enthielt eine Masse kleiner Purpurblüten. Dann sah sie eine größere Version in Schneeweiß und begriff, was sie vor sich hatte.
»Oh«, wiederholte sie leiser und atmete die Blume ein. Der Duft war rein und frisch und erinnerte sie an kalten Wind, klaren Himmel und hohe Berge.
»Chu«, sagte der Mann, der hinter ihr auf dem Kies saß.
»Gesundheit«, sagte sie geistesabwesend. »Geht es Euch besser?«
»Die Blumen. Sie heißen Chu. Auf Chinesisch. Ich entschuldige mich.«
Das bewog sie, sich umzudrehen. Er hatte sich auf ein Knie hochgerappelt, wankte aber ein wenig, während er seine Kraft zusammennahm, um aufzustehen. Sie streckte die Hand aus und fasste die seine, so fest sie konnte. Seine Finger waren kalt, doch sein Griff war fest. Er sah überrascht aus, nickte aber und stolperte dann mit einem keuchenden Atemzug zum Stehen hoch, um im selben Moment ihre Hand loszulassen.
»Ich entschuldige mich«, sagte er erneut und neigte den Kopf ein paar Zentimeter. Mehr als das, und er wäre wieder hingefallen, dachte sie und hielt sich beklommen bereit, ihn aufzufangen, falls das geschah. »Dafür, dass ich Euch Unannehmlichkeiten gemacht habe, Madam.«
»Keine Ursache«, sagte sie höflich. Sein Blick schien verschwommen, und sie konnte seinen Atem in seiner Brust ächzen hören. »Äh … was zum Teufel ist gerade mit Euch geschehen? Falls Euch die Frage nicht stört?«
Er schüttelte den Kopf, dann hielt er abrupt inne, die Augen geschlossen.
»Ich … nichts. Ich hätte nicht hier hereinkommen sollen. Hätte es besser wissen sollen.«
»Ich glaube, Ihr fallt gleich wieder«, sagte sie und nahm ihn erneut bei der Hand, um ihn zu dem Hochbeet zu führen, wo sie ihn sich hinsetzen ließ und sich neben ihn setzte.
»Ihr hättet zu Hause bleiben sollen«, sagte sie tadelnd, »wenn Ihr gewusst habt, dass Ihr krank seid.«
»Ich bin nicht krank.« Er fuhr sich mit zitternder Hand über das verschwitzte Gesicht und wischte sie dann achtlos an seinen Rockschößen ab. »Ich … es war nur …«
Sie seufzte und blickte zum Eingang, dann hinter sich. Es gab keinen anderen Ausgang, und das Stimmengewirr im Orchideenhaus war unverändert laut.
»Es war nur was?«, sagte sie. »Ich werde Euch nicht jedes Wort einzeln entlocken. Sagt mir, was mit Euch los ist, sonst gehe ich hinüber und hole Seine Hoheit, damit er sich um Euch kümmert.«
Er warf ihr einen erstaunten Blick zu, dann fing er an zu lachen. Und zu keuchen. Er verstummte, hob die Faust an seinen Mund und versuchte hechelnd, wieder zu Atem zu kommen.
»Wenn Ihr es unbedingt wissen müsst …«, sagte er und schnappte nach Luft, »mein Vater hat sich im Konservatorium unseres Hauses erschossen. Heute … vor drei Jahren. Ich … habe ihn gefunden. Seine Leiche. Unter dem Glas, zwischen den Pflanzen, das … das Licht …« Er blickte zu den Glasscheiben auf, durch die ihn die Sonne blendete, und schloss kurz die Augen. »Es … war verstörend. Ich wäre heute nicht hierhergekommen, nur hat mich Seine Hoheit eingeladen, und ich musste ihn dringend sehen.« Seine Augen, blutunterlaufen, tränend, sahen sie direkt an. Sie waren blau, blassblau.
»Falls Ihr die Geschichte tatsächlich noch nicht gehört haben solltet: Mein Vater wurde des Hochverrats beschuldigt; er hat sich am Abend vor seiner geplanten Verhaftung erschossen.«
»Wie absolut furchtbar«, sagte Minnie entsetzt. Furchtbar in mehrerlei Hinsicht – nicht zuletzt, weil ihr klar wurde, dass dies der Herzog von Pardloe sein musste, der Mann, den ihr Vater als mögliche … Quelle in Betracht zog. Sie vermied es, das Wort »Opfer« auch nur zu denken.
»Das war es. Wie sich herausstellte, war er kein Verräter, aber das ändert nichts. Die Familie war natürlich entehrt. Sein Regiment – das er selbst ins Leben gerufen hatte – wurde aufgelöst. Ich habe vor, es wieder zu formieren«, sagte er schlicht und sachlich und wischte sich erneut mit der Hand über das Gesicht.
»Habt Ihr denn kein Taschentuch? Hier, nehmt meins.« Sie wand sich auf den rauen Steinen, bis sie ihre Tasche fand.
»Danke.« Er wischte sich gründlicher über das Gesicht, hustete einmal und schüttelte den Kopf. »Ich brauche Unterstützung – Rückhalt von höchster Stelle – für dieses Unterfangen, und einem Freund ist es gelungen, eine Begegnung mit Seiner Hoheit zu arrangieren, welcher auch so freundlich war, mich anzuhören. Ich glaube, er wird mir helfen«, fügte er nachdenklich hinzu. Dann sah er sie an und lächelte reumütig. »Es wäre meiner Sache aber nicht dienlich, wenn er mich gleich nach unserer Unterredung zuckend wie einen Wurm auf dem Boden fände, nicht wahr?«
»Nein, das sehe ich ein.« Sie überlegte einen Moment, dann wagte sie eine vorsichtige Frage. »Das Riechsalz …« Sie zeigte auf das Fläschchen, das ein paar Schritte entfernt auf den Boden gefallen war. »Wird Euch öfter schwindelig? Oder hattet Ihr nur … das Gefühl, dass Ihr es heute benötigen könntet?«
Er presste die Lippen fest aufeinander, doch er antwortete.
»Nicht oft.« Er richtete sich zum Stehen auf. »Jetzt geht es mir wieder gut. Es tut mir leid, dass ich Euch den Tag verdorben habe. Möchtet Ihr …« Er zögerte und blickte in Richtung des Orchideenhauses. »Möchtet Ihr, dass ich Euch Seiner Hoheit vorstelle? Oder Prinzessin Augusta, wenn Ihr wollt; ich bin mit ihr bekannt.«
»Oh. Nein, nein, es ist schon gut«, sagte Minnie hastig und erhob sich ebenfalls. Ganz abgesehen davon, dass es nicht zu ihren Wünschen zählte, dass ein Prinz von ihr Notiz nahm, konnte sie sehen, dass ihm alles andere als danach zumute war, sich in seinem mitgenommenen, zitternden, keuchenden Zustand auch nur in die Nähe von Menschen zu begeben. Dennoch nahm er sich vor ihren Augen zusammen und richtete sich entschlossen auf. Er hustete erneut und schüttelte hartnäckig den Kopf, um den Husten abzustellen.
»Euer Freund«, sagte er und wechselte entschieden das Thema, »kennt Ihr ihn gut?«
»Mein Fr– oh, der, äh, Herr, mit dem ich mich vorhin unterhalten habe?« Anscheinend war Mr Bloomer doch nicht schnell genug verschwunden. »Er ist nicht mein Freund. Ich bin ihm bei den Euphorbien begegnet«, sagte sie mit einer Geste, als wäre sie mit den Euphorbien auf Du, »und er hat angefangen, mir von den Blumen zu erzählen. Also sind wir ein Stück zusammen gegangen. Ich weiß noch nicht einmal, wie er heißt.«
Das brachte ihr einen scharfen Blick ein, doch es war schließlich die Wahrheit, und anscheinend wirkte ihr unschuldiger Blick überzeugend.
»Ich verstehe«, sagte er, und es war offensichtlich, dass er einiges mehr verstand als Minnie. Er überlegte einen Moment, dann fasste er seinen Entschluss.
»Ich kenne ihn«, sagte er bedächtig und wischte sich über die Nase. »Und es läge mir zwar fern, Euch zu diktieren, wie Ihr Euch Eure Freunde aussuchen sollt, aber ich glaube, dass er kein guter Umgang ist. Solltet Ihr ihn wiedersehen, meine ich.« Er verstummte und überlegte, doch das war alles, was er zu Mr Bloomer zu sagen hatte. Minnie hätte gern Bloomers richtigen Namen erfahren, doch sie hatte nicht das Gefühl, dass sie danach fragen sollte.
Es folgte eine kurze, beklommene Pause, während sie einander halb lächelnd ansahen und nachdachten, was sie als Nächstes sagen sollten.
»Ich …«, begann Minnie.
»Ihr …«, begann er.
Beide lächelten jetzt von Herzen.
»Was?«, fragte sie.
»Ich wollte sagen, dass ich glaube, dass der Prinz die Orchideen jetzt wohl wieder ihrem Schicksal überlassen hat. Ihr solltet gehen, ehe jemand hereinkommt. Ihr solltet nicht ohne Begleitung in meiner Gesellschaft gesehen werden«, fügte er ausgesprochen steif hinzu.
»Nicht?«
»Nein«, sagte er, und sein Ton war sanfter, bedauernd, aber nach wie vor entschlossen. »Nicht, wenn Ihr den Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz hegt. Was ich über meinen Vater und meine Familie gesagt habe, war ernst gemeint. Ich habe zwar vor, es zu ändern, aber im Moment …« Er nahm ihre Hände, zog sie zu sich und drehte sich so, dass sie beide dem Durchgang zu den Orchideen zugewandt standen. Er hatte recht; die Gespräche dort summten jetzt nur noch leise bedrohlich wie Hummeln.
»Danke«, sagte er noch leiser. »Ihr seid sehr gütig.«
Er hatte etwas Reispuder auf der Wange; sie stellte sich auf die Zehenspitzen, wischte darüber und zeigte ihm den weißen Fleck auf ihrem Daumen.
Er lächelte, griff wieder nach ihrer Hand, und zu ihrer Überraschung küsste er ihre Daumenspitze.
»Geht«, sagte er sehr leise und ließ ihre Hand los. Sie holte tief Luft und machte einen Hofknicks.
»Ich … nun gut. Ich bin … sehr froh, Eure Bekanntschaft gemacht zu haben, Eure Durchlaucht.«
Sein Gesicht veränderte sich wie der Blitz, und sie erschrak fürchterlich. Genauso schnell hatte er es – was auch immer »es« war – wieder unter Kontrolle und war wieder der zivile Offizier des Königs. Während dieses Sekundenbruchteils jedoch war er der pure Kampfhahn gewesen, tobend bereit, sich auf den Feind zu stürzen.
»Nennt mich nicht so. Bitte«, fügte er hinzu und verbeugte sich formell. »Ich habe den Titel meines Vaters nicht übernommen.«
»Ich … ja, ich verstehe«, sagte sie immer noch erschüttert.
»Das bezweifle ich«, sagte er leise. »Lebt wohl.«
Er wandte ihr den Rücken zu, ging einige Schritte auf die Porzellanschalen und ihre rätselhaften Blumen zu, richtete den Blick darauf und blieb stehen.
Minnie hob ihren Fächer und den Sonnenschirm vom Boden auf und floh.