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Sinnt auf Rache

Verehrte Ms Rennie,

dürfte ich um die Ehre eines Zusammentreffens bitten, sobald es Euch möglich ist? Ich möchte Euch einen Auftrag vorschlagen, von dem ich glaube, dass er bestens zu Euren beachtlichen Talenten passt.

Euer ergebenster Diener

Edward Twelvetrees

MINNIE RUNZELTE DIE STIRN, als sie die Note las. Sie zwar lobenswert kurz, aber seltsam. Dieser Twelvetrees sprach ja sehr vertraulich von ihren »Talenten«; er wusste eindeutig, was es für Talente waren – und doch stellte er sich nicht vor, fügte keinen ihrer Klienten oder Kontakte als Referenz an. Es machte sie nervös.

Dennoch, die Note hatte nichts Bedrohliches an sich, und sie stand nun einmal für Aufträge zur Verfügung. Es würde wohl nicht schaden, ihn zu treffen. Sie würde schließlich in keiner Weise verpflichtet sein, seinen Auftrag anzunehmen, wenn sie das Gefühl hatte, dass etwas damit – oder mit ihm – nicht stimmte.

Sie zauderte, ob sie es ihm gestatten sollte, sie in ihren Räumen aufzusuchen – doch er hatte ja seine Note hierhergeschickt; er wusste offensichtlich, wo sie wohnte. Sie schrieb zurück und bot ihm an, ihn am nächsten Tag um drei Uhr zu sehen, nahm sich aber vor, einem der Brüder O’Higgins zu sagen, dass er etwas eher kommen und sich vorsichtshalber im Boudoir verstecken sollte.

 

»OH«, SAGTE SIE, als sie die Tür öffnete. »Das ist es also. Ich dachte doch, dass Euer Brief etwas Seltsames an sich hatte.«

»Wenn Ihr das als Affront empfindet, Ms Rennie, möchte ich mich entschuldigen.« Mr Bloomer – allem Anschein nach alias Mr Twelvetrees – trat ein, ohne eine Einladung abzuwarten, sodass sie gezwungen war, einen Schritt zurückzutreten. »Ich vermute aber, eine Frau von Eurer unzweifelhaften Vernunft und Erfahrung wäre vielleicht willens, mir eine professionelle List nachzusehen?«

Er lächelte sie an, und unwillkürlich erwiderte sie das Lächeln.

»Vielleicht«, sagte sie. »Ihr arbeitet also professionell, ja?«

»Das könnt Ihr doch am besten beurteilen«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung. »Wollen wir uns setzen?«

Mit einem kleinen Schulterzucken nickte sie Eliza zu, ein Tablett mit Erfrischungen hereinzubringen.

Mr Twelvetrees nahm zwar eine Tasse Tee und ein Mandelplätzchen entgegen, ließ jedoch das Letztere auf seiner Untertasse liegen, während die Erstere vor sich hin dampfte, ohne dass er auch nur darin rührte.

»Ich habe nicht vor, Eure Zeit zu verschwenden, Ms Rennie«, sagte er. »Als ich Euch im Glashaus der Prinzessin stehen gelassen habe, habe ich Euch – leider sehr rücksichtslos – der Gesellschaft Seiner Durchlaucht, des Herzogs von Pardloe, überlassen. Angesichts des Skandals, der seiner Familie anhaftet, ging ich damals davon aus, dass Ihr wüsstet, wer er ist, doch während ich Euch dabei beobachtete, wie Ihr mit ihm gesprochen habt, habe ich meine Meinung revidiert. Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr ihn nicht kanntet?«

»Ich kannte ihn nicht«, sagte Minnie, ohne eine Miene zu verziehen. »Doch es war auch kein Problem. Wir haben ein paar Freundlichkeiten ausgetauscht, dann bin ich gegangen.« Wie lange habt Ihr uns denn beobachtet?, fragte sie sich.

»Ah.« Er hatte den Blick nicht von ihrem Gesicht abgewendet, doch jetzt unterbrach er seine Inspektion, um Sahne und Zucker in seinen Tee zu geben und ihn umzurühren. »Nun denn. Der Auftrag, für den ich Eure Dienste in Anspruch nehmen möchte, hat mit diesem Herrn zu tun.«

»Ist das so«, sagte sie höflich und griff ihrerseits nach ihrer Tasse.

»Ich hätte gern, dass Ihr einige Briefe aus dem Besitz des Herzogs entwendet und sie mir zukommen lasst.«

Fast wäre ihr die Tasse aus der Hand gefallen, doch sie fasste in letzter Sekunde fester zu.

»Was denn für Briefe?« Jetzt wusste sie, was ihr an der Note so seltsam vorgekommen war. Twelvetrees. Das war der Name des Geliebten der Gräfin Melton: Nathaniel Twelvetrees. Dieser Edward war ganz offensichtlich mit ihm verwandt.

Und in ihrem Kopf hörte sie Oberst Quarrys Antwort auf ihre Frage, ob sie mit Nathaniel sprechen könnte: »Leider nicht, Ms Rennie. Mein Freund hat ihn erschossen.«

»Korrespondenz zwischen der verstorbenen Gräfin Melton und meinem Bruder Nathaniel Twelvetrees.«

Sie nippte an ihrem Tee und spürte Edwards Blick so heiß auf ihrer Haut wie den Dampf aus ihrer Tasse. Sie stellte die Tasse vorsichtig hin und blickte auf. Sein Gesicht trug eine Miene, wie sie sie von Falken kannte, die ihre Beute ins Visier nehmen. Doch es war nicht sie, die hier die Beute war.

»Das könnte möglich sein«, sagte sie kühl, obwohl ihr Herz merklich schneller schlug. »Doch verzeiht mir – seid Ihr sicher, dass diese Korrespondenz existiert?«

Er stieß ein kurzes Lachen aus, ohne jeden Humor.

»Sie hat existiert, dessen bin ich sicher.«

»Gewiss«, sagte sie höflich. »Doch wenn diese Korrespondenz von der Art ist, die Ihr wohl vermutet – ich habe gewisse Spekulationen gehört –, hätte der Herzog derartige Briefe nach dem Tod seiner Frau nicht verbrannt?«

Mr Twelvetrees zog eine Schulter hoch und ließ sie fallen, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Möglich«, sagte er. »Und Eure erste Aufgabe wäre es natürlich, herauszufinden, ob dies der Fall ist. Doch ich habe Grund zu der Annahme, dass die Korrespondenz noch existiert – und wenn dem so ist, will ich sie haben, Ms Rennie. Und ich werde dafür bezahlen. Großzügig.«

 

ALS SICH DIE TÜR hinter Edward Twelvetrees schloss, blieb sie einen Moment lang reglos stehen, bis sie hörte, wie sich auf der anderen Seite des Flurs die Tür ihres Boudoirs öffnete.

»Das ist ja ein komischer Vogel«, stellte Rafe O’Higgins mit einem Kopfnicken in Richtung der geschlossenen Tür fest. Eliza, die hereingekommen war, um das Tablett mitzunehmen, nickte nüchtern und zustimmend.

»Rache«, sagte sie. »Sinnt auf Rache. Aber wer könnt’s ihm verübeln?«

Wer, in der Tat?, dachte Minnie und verkniff sich das Lachen. Weniger humorvoll als vielmehr nervös.

»Aye, vielleicht«, sagte Rafe. Er ging zum Fenster, hob die Kante des blauen Samtvorhangs und blickte aufmerksam auf die Straße, wo vermutlich gerade Edward Twelvetrees in der Ferne verschwand. »Ja, ich würde sagen, Euer Mann sinnt auf Rache. Aber was glaubt Ihr, was er mit den Briefen vorhat, wenn es sie gibt?«

Es folgte kurzes Schweigen, während sie alle drei über die Möglichkeiten nachdachten.

»Sie drucken lassen und für einen Halfpenny verkaufen?«, meinte Eliza. »Damit könnte er gutes Geld verdienen.«

»Vom Herzog könnte er viel mehr bekommen«, sagte Rafe und schüttelte den Kopf. »Erpressung, aye? Wenn die Briefe brisant genug sind, würde Seine Durchlaucht jede Summe zahlen, um genau das zu verhindern.«

»Vermutlich«, sagte Minnie geistesabwesend, obwohl der Nachhall ihrer Unterredung mit Oberst Quarry weitere Vorschläge übertönte.

»… er benötigt den Beweis aus … aus einem juristischen Grund, und es kommt für ihn nicht infrage, dass jemand die Briefe seiner Frau liest, obwohl das Urteil der Öffentlichkeit sie nicht mehr treffen kann und es katastrophale Folgen für ihn haben kann, wenn die Affäre nicht bewiesen wird.«

Was, wenn die Kunst der Numerologie diesmal irrte und Harry Quarry doch keine unverblümte, durchschaubare Vier war? Was, wenn seine Sorge um Lord Melton nur gespielt war? Twelvetrees hatte sie gerade ganz offen für seine Zwecke eingespannt; was, wenn Quarry auf dasselbe aus war, aber ein doppeltes Spiel spielte?

Wenn ja … spielten die beiden Männer das gleiche Spiel? Und wenn ja, steckten sie unter einer Decke, oder waren sie Gegenspieler, ob mit Wissen des jeweils anderen oder nicht?

Sie führte sich Quarry vor Augen, spielte ihre Gespräche noch einmal durch und analysierte sie Wort für Wort, während sie im Kopf das Spiel der Emotionen in seinem breiten, auf raue Weise attraktiven Gesicht beobachtete.

Nein. Einer der Eckpfeiler ihres Familienmottos lautete zwar: »Vertraue niemandem«, doch man musste Urteile fällen. Und sie war sich so sicher wie nur möglich, dass Harry Quarrys Motiv das war, was er gesagt hatte: seinen Freund zu schützen. Und schließlich … war Harry Quarry nicht nur von der Existenz der Briefe überzeugt, sondern war sich zudem einigermaßen sicher, wo sich diese befanden. Natürlich hatte er sie nicht gebeten, die Briefe zu stehlen, nicht ausdrücklich, doch das war auch alles gewesen, was er nicht getan hatte.

Sie hatte Edward Twelvetrees nicht mehr versprochen, als dass sie versuchen würde herauszufinden, ob die Briefe existierten; falls ja, hatte sie gesagt, konnten sie über weitere Konditionen sprechen.

Nun denn. Zumindest der nächste Schritt lag auf der Hand.

»Rafe«, sagte sie und unterbrach Rafe und Eliza bei einem Streitgespräch, ob Mr Twelvetrees eher Ähnlichkeit mit einem Frettchen oder einem Obelisken hatte (sie vermutete, dass ein Basilisk gemeint war, verschwendete aber keine Zeit damit, es herauszufinden). »Ich habe eine Aufgabe für Euch und Mick.«