17

Mit Glanz und Gloria

HAL VERLIEẞ SIR WILLIAM Yonges Amtsstube erhobenen Hauptes, und seine Stiefel schritten energisch über die Marmorfliesen. Er nickte dem Soldaten vor der Tür freundlich zu und schaffte es die Treppe hinunter, durch das Foyer und auf die Straße hinaus, ohne dass seine Würde einen Kratzer bekam. Harry wartete nervös auf der anderen Straßenseite.

Er sah, wie sich Harrys Gesicht bei seinem Anblick mit einem gewaltigen Grinsen überzog, und dann warf Harry den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Wolf – zur Verblüffung von Lord Pitt und seinen beiden Begleitern, die just in diesem Moment den Bordstein entlangkamen. Es gelang Hal gerade noch, sich vor ihnen zu verbeugen, dann hatte er die Straße überquert und hämmerte Harry überglücklich auf den Rücken und die Schultern. Einhändig, denn mit der anderen Hand hielt er die kostbare Patenturkunde an seine Brust geklammert.

»Gott! Wir haben es geschafft!«

»Du hast es geschafft!«

»Nein«, beharrte Hal und versetze Harry einen begeisterten Schubs. »Wir. Wir haben es geschafft. Sieh es dir an!« Er wedelte mit dem Dokument, das in einen Umschlag gehüllt und mit rotem Wachs versiegelt war, vor Harrys Nase. »Königliche Signatur und alles! Soll ich es dir vorlesen?«

»Ja, jedes Wort – aber nicht hier draußen.« Harry packte seinen Ellbogen und hielt eine vorüberfahrende Droschke an. »Komm, wir gehen ins Beefsteak, da können wir etwas trinken.«

Mr Bodley, der Steward des Herrenklubs, betrachtete sie wohlwollend, als sie in den Klub polterten und nach Champagner, Steaks und noch mehr Champagner riefen. Sekunden später saßen sie im verlassenen Speisesaal – schließlich war es elf Uhr morgens –, waren mit einer kalten Flasche ausgestattet und warteten auf ihre Steaks.

»… an diesem Tage gewährt durch Seine Königliche Majestät von Gottes Gnaden, George den Zweiten … o mein Gott, ich bekomme keine Luft … s-s-so etwas …«

Hal lachte. Er selbst hatte sich während der ganzen Zeit in Sir Williams Amtsräumen gefühlt, als steckte seine Brust in einer Schraubzwinge – doch die Zwinge hatte sich gelöst, als er das Patent mit dem unverwechselbaren königlichen Siegel gesehen hatte, und jetzt atmete er ungehindert wie ein Neugeborenes.

»Nicht wahr?« Er konnte es kaum ertragen, die Urkunde aus der Hand zu geben, und streckte jetzt den Zeigefinger aus, um voller Besitzerstolz die Unterschrift des Königs nachzuzeichnen. »Als ich dort hineingegangen bin, war ich mir sicher, dass mir Sir William irgendein Märchen als Begründung auftischen würde, warum man es mir verweigerte, und mich die ganze Zeit so betrachten würde, wie es die Leute tun, wenn sie glauben, man hat den Kopf verloren und könnte jeden Moment nach einer Axt greifen, um ihnen unerwartet den Schädel einzuschlagen. Nicht, dass ich mich nicht schon öfter genau so gefühlt hätte«, fügte er aufrichtig hinzu und leerte sein Glas. »Trink aus, Harry!«

Harry trank aus, hustete und schenkte nach.

»Also, wie war es denn nun? War Yonge freundlich, sachlich … was hat er gesagt?«

Hal runzelte die Stirn, während er geistesabwesend das Kribbeln der frischen Bläschen auf seiner Zunge genoss.

»Ganz freundlich … obwohl ich nicht genau sagen kann, wie er sich eigentlich verhalten hat. Jedenfalls nicht nervös. Und auch nicht so argwöhnisch, wie es Politiker in meiner Gegenwart oft sind, weil sie an Vater denken.«

Harry stieß einen leisen Kehllaut aus, mit dem er vollständiges Verständnis und Mitgefühl ausdrückte – er hatte Hal nach dem Selbstmord seines Vaters und während des ganzen darauffolgenden Schlamassels zur Seite gestanden. Hal lächelte seinen Freund an und hob sein Glas in schweigender Anerkennung.

»Was er gesagt hat … er hat mich sehr liebenswürdig begrüßt, mich zum Sitzen eingeladen und mir ein Johannisbeerplätzchen angeboten.«

Harry pfiff.

»Mein Gott, welche Ehre. Ich habe gehört, dass er nur dem König und dem Premier Plätzchen gibt. Obwohl ich vermute, dass er der Königin auch eins geben würde, sollte sie ihn in seinem Unterschlupf besuchen.«

»Ich glaube, die Wahrscheinlichkeit ist gering.« Hal leerte die Flasche und wandte sich ab, um nach einer neuen zu rufen, doch Mr Bodley stand bereits mit dem Tablett neben ihm. »Oh, danke, Mr Bodley.« Er unterdrückte einen Rülpser und stellte fest, dass ihm zwar nicht schwindelig war, sein Kopf aber ein wenig zu schweben schien. »Glaubt Ihr, das Steak benötigt noch lange?«

Mr Bodley neigte vage den Kopf von rechts nach links.

»Ein wenig, Mylord. Aber der Koch hat herrliche Aalpastetchen, frisch aus dem Ofen – vielleicht könnte ich Euch damit locken, während Ihr wartet?«

Harry schnupperte die duftende Luft, die aus der Küche hereingeströmt kam, und schloss in seliger Vorfreude die Augen. Im Beefsteak wurden die Aalpasteten zusätzlich zu den üblichen Zutaten – Zwiebeln, Butter und Petersilie – auch mit Muskat und trockenem Sherry zubereitet.

»O Gott, ja.«

Hal lief bei diesem Gedanken das Wasser im Mund zusammen – doch gleichzeitig spannte sich sein Körper an. Harry öffnete die Augen und sah ihn überrascht an.

»Was ist los, alter Knabe?«

»Was? Nichts.« Mr Bodley hatte den Korken aus der Bleiversiegelung befreit und löste ihn jetzt geschickt mit einem leisen Plop, gefolgt vom Zischen aufsteigender Bläschen. »Danke, Mr Bodley. Ja, bitte die Aalpastete!«

Mr Bodley verschwand diskret in Richtung der Küche. »Aalpastete«, wiederholte Hal. »Das hat mich gerade an Kettrick’s erinnert … und an diese junge Frau.«

Der Gedanke an sie – gottverdammt, warum hatte er nicht einmal daran gedacht, sich ihren tatsächlichen Namen sagen zu lassen? Lady Bedelia Houghton, zum Kuckuck – löste den üblichen Schauder gemischter Gefühle aus. Lust, Neugier, Verärgerung … Sehnsucht? Er wusste nicht, ob er es so deutlich ausdrücken würde, aber er verspürte ein intensives Verlangen, sie wiederzusehen, und sei es nur, um herauszufinden, was zum Teufel sie tatsächlich im Schilde geführt hatte. Ein Verlangen, das durch sein Gespräch mit dem Sekretär jetzt noch intensiver wurde.

»Kettrick’s«, sagte Harry mit verständnisloser Miene. »Du meinst Kettrick’s Eel Pye House? Und welche junge Frau?«

Hal hörte etwas in Harrys Stimme und warf seinem Freund einen scharfen Blick zu.

»Das Mädchen, das ich beim Einbruch in meine Schreibtischschublade erwischt habe, während des Balls.«

»Oh, dieses Mädchen«, murmelte Harry und vergrub die Nase in seinem Glas.

Hal sah Harry noch schärfer an. Er hatte Harry nicht alles erzählt – nicht einmal ansatzweise, bei Gott –, doch er hatte ihm erzählt, dass ihn ihre Antworten zufriedengestellt hatten (eigentlich ganz und gar nicht, aber …) und dass er sie in einer Droschke heimgeschickt und sie um ihre Adresse gebeten hatte, die sie ihm gegeben hatte.

Nur, um dann festzustellen, dass besagte Adresse gar nicht existierte, und als er den Droschkenkutscher ausfindig gemacht hatte, einen irischen Gauner, hatte ihm der Mann erzählt, das Mädchen hätte über Hunger geklagt – das stimmte; er hatte ihr Magenknurren gehört, als er … o Jesus – und ihn gebeten, sie kurz bei Kettrick’s abzusetzen. Das hatte er getan, und das Mädchen war prompt durch das Haus gegangen, zur Hintertür hinaus und auf Nimmerwiedersehen in einer Seitengasse verschwunden.

Was Hal für interessant genug hielt, dass es Harry durchaus hätte im Gedächtnis bleiben können. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er Harry mehrfach von dem Mädchen und seinen Versuchen, sie wiederzufinden, erzählt hatte.

»Hmpf«, sagte er, trank noch etwas und schüttelte seinen benebelten Kopf. »Nun, sei’s drum … es war ein freundliches Gespräch, sehr freundlich, obwohl sich Sir William die ganze Zeit etwas … merkwürdig … verhalten hat. Sehr ernst – weshalb ich dachte, es würde auf eine Ablehnung hinauslaufen –, aber auch … mitfühlend.«

»Tatsächlich?« Harrys dichte Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Was meinst du, warum?«

Ratlos schüttelte Hal erneut den Kopf.

»Ich weiß es nicht. Nur … zum Schluss, als er mir die Urkunde gegeben und mir gratuliert hatte, hat er mir die Hand geschüttelt und sie einen Moment festgehalten, und er hat mir … mit einem knappen Wort … zu meinem Verlust kondoliert.« Er hatte gedacht, er hätte seine Gefühle gut im Griff, doch der Stich war so schmerzhaft wie eh und je, und er musste sich räuspern.

»Er wollte gewiss nur Anstand zeigen«, sagte Harry schroff. Fasziniert beobachtete Hal, wie ihm die Farbe über den Hals in die Wangen stieg.

»Ja«, sagte er und lehnte sich zurück, beiläufig, das Glas in der Hand, ohne jedoch den Blick von Harry abzuwenden. »In dem Moment war ich so froh, dass es mich auch nicht gestört hätte, wenn er mir gesagt hätte, ein Krokodil hätte meinen Fuß gepackt, aber nüchterner betrachtet …«

Bei diesen Worten johlte Harry leise, versank dann aber wieder in seinem Glas, den Blick auf das Tischtuch gerichtet. Die Röte hatte seine Nase erreicht, welche jetzt schwach leuchtete.

»Ich habe mich – tatsächlich gerade im Augenblick – gefragt, ob es vielleicht eine versteckte Anspielung auf diese verflixte Petition gewesen ist. Du weißt schon, die, die Reginald Twelvetrees vorgebracht und in der er behauptet hat, ich hätte seinen Bruder ermordet, weil ich von Sinnen war.«

»Er … hat die Petition nicht ausdrücklich erwähnt?«

Hal schüttelte den Kopf. »Nein.«

In diesem Moment kamen die dampfenden, köstlichen Pasteten, und erst einmal herrschte Schweigen.

Hal wischte den letzten Saft mit einem Stück Brot aus der Schale, kaute selig, schluckte, dann öffnete er die Augen und richtete den Blick direkt auf Harry.

»Was zum Teufel weißt du über diese Petition, Harry?«

Er kannte Harry Quarry, seit dieser zwei und er fünf Jahre alt war. Harry konnte lügen, wenn er gewarnt war und Zeit hatte, sich vorzubereiten, doch Hal konnte er nicht anlügen, und das wusste er auch.

Harry seufzte, schloss die Augen und überlegte, dann öffnete er vorsichtig ein Auge. Hal zog beide Augenbrauen hoch und legte die Hände flach auf den Tisch, um anzuzeigen, dass er weder vorhatte, auf Harry einzuschlagen, noch, ihn zu erwürgen. Harry senkte den Blick und biss sich auf die Unterlippe.

»Harry«, sagte Hal leise. »Was auch immer du getan hast, ich verzeihe dir. Erzähl es mir nur einfach, ja?«

Harry blickte auf, nickte, holte tief Luft und erzählte es ihm.

»Irrumabo«, sagte Hal eher erstaunt als wütend. »Aber du sagst, du hast ihr nicht aufgetragen, die Briefe zu stehlen …«

»Genau. Das schwöre ich, Hal.« Die Röte begann nachzulassen. »Ich meine … ich kannte doch … deine Gefühle …«

»Ich glaube dir.« Hal fühlte sich selbst ein wenig erhitzt und wandte den Blick ab. Mr Bodley näherte sich mit frischen Tellern und Besteck, gefolgt von einem der Kellner des Klubs, der feierlich eine Platte vor sich hertrug, auf der es brutzelte.

Sie sagten nichts, während die Steaks – begleitet von einem Berg wilder Pilze, garniert mit kleinen gekochten Zwiebeln und glänzend vor Butter – aufgetragen wurden. Hal sah zu, roch an dem Gericht, stieß die angebrachten Beifallslaute in Mr Bodleys Richtung aus und bat um eine Flasche guten Bordeaux. All dies geschah jedoch vollkommen automatisch; seine Gedanken waren in der Bibliothek am Abend des Balls.

»Ich wollte nicht, dass Ihr verletzt werdet.« Er konnte ihre Miene bei diesen Worten noch vor sich sehen, und er glaubte ihr noch genauso wie damals, als der Schein des Feuers in ihren Augen geleuchtet hatte, auf ihrer Haut, in den Falten ihres grünen Kleides. »Soll ich es Euch beweisen?«

Und dann hatte sie es ihm bewiesen. Ein heftiger Schauer durchfuhr ihn bei der Erinnerung daran.

»Ist dir nicht gut, alter Knabe?« Harry betrachtete ihn nervös, eine Gabel voll Steak auf halbem Weg zu seinem Mund.

»Ich … doch«, sagte er abrupt. »Aber sie hat ja Esmés … ich meine, die Briefe nicht aus meinem Schreibtisch gestohlen; sie hat sie zurückgelegt. Ich weiß es genau; ich habe gesehen, wie sie die Schublade geschlossen hat, ehe sie mich gesehen hat. Sie hat sie also nicht an Sir William gesendet, da bin ich mir sicher.«

Harry nickte langsam. »Die … Andeutung widerstrebt mir zwar«, sagte er mit unglücklicher Miene. »Ich meine – ich habe ihr vertraut, so töricht das gewesen sein mag. Aber könnte sie … Kopien vielleicht? Denn so, wie du Yonges Verhalten beschreibst …«

Hal schüttelte den Kopf.

»Ich würde schwören, dass es nicht so ist. Die Art, wie sie … Nein, gewiss nicht. Schon deshalb, weil …« Er zögerte, doch es war schließlich Harry. Er schluckte und fuhr fort, den Blick auf seinen Teller geheftet, doch mit fester Stimme. »Wenn Sir William diese Briefe gesehen hätte, hätte er mir nicht ins Gesicht blicken können, geschweige denn, sich so zu verhalten, wie er es getan hat. Nein. Irgendetwas hat ihn davon überzeugt, dass ich einen Grund hatte, Twelvetrees herauszufordern, da bin ich mir sicher – aber Gott allein weiß, was es war. Vielleicht hat … hat sie … jemanden gefunden, der von der Affäre wusste …« Das Blut brannte ihm in den Wangen, und er hatte die Gabel so fest umklammert, dass sich das Muster in seine Handfläche bohrte. »Wenn jemand mit einem guten Leumund es beschworen hat …«

Harry atmete aus und nickte.

»Du hast recht. Und … das ist es, worum ich sie gebeten habe. Also … diskret, meine ich. Äh … es tut mir leid.«

Hal nickte, konnte aber nicht sprechen. Er verzieh Harry, doch der Gedanke, dass jemand – jemand, den er nicht kannte – davon wusste … Einen Moment hatte er das heftige Bedürfnis, eine Kerze aus dem Wandhalter zu nehmen und seinen Kopf in Brand zu setzen, um den Gedanken auszulöschen, doch stattdessen schloss er die Augen und atmete einige Momente tief ein und aus. Die Enge in seiner Brust begann nachzulassen.

Nun denn. Jetzt war nichts daran zu ändern. Und das Regiment war gerettet. Er spürte einen Hauch seiner ursprünglichen Euphorie zurückkehren und öffnete die Augen. Ja, bei Gott, das war es. Hier lag die Urkunde mit Glanz und Gloria vor ihm auf dem Leinentuch.

Er löste die Faust mit der Gabel, zwang sich, das Messer zu ergreifen, und schnitt in sein Steak. Heißer roter Saft lief heraus, und in seinem Kopf sah er den kleinen Blutfleck auf dem weißen Kaminläufer. Ihm wurde heiß, als hätte er seinen Kopf in Brand gesetzt.

»Eines könntest du tun, Harry … wenn du so gütig wärst …«

»Alles, was du willst, alter Knabe.«

»Hilf mir, sie zu finden.«

Harry hielt inne, die Gabel vor dem halb geöffneten Mund.

»Natürlich«, sagte er langsam und ließ die Gabel sinken. »Aber …« Aber, sagte sein Gesicht, sie suchten sie doch schon seit drei Wochen. Sie war verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

Hal lachte plötzlich. Mr Bodley war mit dem Bordeaux erschienen, und neben ihm stand ein volles Glas.

»Zum Henker mit allen Twelvetrees!«, sagte Harry und hob sein Glas. Hal erwiderte den Salut und trank in tiefen Zügen. Es war ein herrlicher Wein, dunkel, kräftig, mit Aromen von Kirschen und gebuttertem Toast. Noch eine Flasche davon – nun, vielleicht zwei –, und er würde sich vielleicht imstande fühlen, die Lage zu bewältigen.

»Eines hat mein Vater immer zu mir gesagt, Harry: ›Sie können dich nicht besiegen, wenn du nicht aufgibst.‹ Und«, sagte er und hob das Glas in Richtung seines Freundes, »ich gebe nicht auf.«

Harrys Miene erhellte sich; er sah Hal mit einem schiefen Lächeln an und prostete zurück. »Nein«, sagte er. »Gott steh uns bei, das tust du nicht.«