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In den Wind hinaus

Amsterdam, Kalverstraat 18 3. Januar 1745

MINNIE BÜRSTETE vorsichtig den Puderzucker von der Mappe. Die anfängliche Schwangerschaftsübelkeit war weitgehend vorüber, und der Appetit einer hungrigen Eule war an ihre Stelle getreten, sagte ihr Vater.

»Eine Eule?«, hatte sie gesagt, und er hatte lächelnd genickt. Genau wie ihre Übelkeit war auch sein Schreck vorüber, und manchmal nahm sein Gesicht einen hingerissenen Ausdruck an, wenn sie ihn dabei ertappte, dass er sie beobachtete.

»Du siehst etwas zu essen an, ma chère, und drehst den Kopf hin und her, als ob du erwartest, dass es die Flucht ergreift, und dann stürzt du dich darauf, und – schluck! – ist es verschwunden.«

»Bah«, sagte sie jetzt und sah nach, ob noch Oliebollen in der Keramikdose waren, aber nein, sie hatte sie alle verputzt. Mortimer hatte seine Purzelbäume eingestellt und war eingedöst, wie er es meistens tat, wenn sie aß, doch sie hatte noch Hunger.

»Ist das Essen bald fertig?«, rief sie die Treppe hinunter. Nach Amsterdamer Art war das Haus lang und schmal; der Laden befand sich im Parterre, die Wohnräume darüber und die Küche im Keller. Seit einer Stunde kroch der herzhafte Geruch eines Brathuhns die Treppe herauf, und sie war trotz der Oliebollen ausgehungert.

Statt einer Antwort hörte sie die Schritte ihres Vaters die Treppe heraufkommen, begleitet von Keramik- und Zinn-Geklapper.

»Es ist noch nicht einmal Mittag«, sagte er nachsichtig und stellte ein Tablett auf die Ladentheke. »Bis zum Essen dauert es noch mindestens eine Stunde. Aber ich habe Kaffee und Honigbrötchen für dich.«

»Honig?« Sie schnupperte zufrieden. Obwohl ihr eigentlich nicht mehr übel wurde, reagierte sie nach wie vor heftig auf Gerüche, und der kräftige Duft nach Kaffee und frisch gebutterten Brötchen überwältigte sie.

»Das Kind ist ja inzwischen fast so groß wie du«, stellte ihr Vater mit einem Blick auf ihren runden Bauch fest. »Wann, sagst du, kommt es zur Welt?«

»In ungefähr drei Monaten«, sagte sie und griff nach einem Brötchen, ohne die Andeutung ihres Vaters zu beachten. »Und die Hebamme sagt, bis dahin wird es noch fast doppelt so groß.« Sie blickte auf Mortimer in seiner Kugel hinunter. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass das möglich ist, aber das hat sie gesagt.«

Ihr Vater lachte und beugte sich über die Theke, um die Hand leicht auf sein Enkelkind zu legen.

»Comment ça va, mon petit?«, sagte er.

»Warum glaubst du, dass es ein Junge ist?«, fragte sie, wich aber nicht zurück. Es rührte sie, wenn er mit dem Baby sprach; er tat es immer mit größter Zärtlichkeit.

»Nun, du nennst ihn – es – doch Mortimer«, sagte er und zog seine Hand mit einem kleinen Tätscheln zurück. »Das heißt doch wohl, dass du glaubst, dass es ein Junge ist.«

»Ich war nur so fasziniert von dem Spruch auf einer englischen Flasche mit einem Allheilmittel: Mortimers Lösendes, Auflösendes und Erlösendes Tonikum – entfernt Flecken aller Art: körperlich, emotional oder moralisch

Das ließ ihn stutzen; er war sich nicht sicher, ob sie einen Scherz machte. Sie rettete ihn, indem sie selber lachte, und schickte ihn mit einer Handbewegung wieder in die Küche. Sie liebte Sonntage, wenn Hulda, ihr Mädchen für alles, zu Hause bei ihrer Familie blieb und die beiden Snyders – William Snyder war der niederländische Nom de guerre ihres Vaters – sich selbst überließ. Ihr Vater war ein viel besserer Koch, und es war friedlich ohne Huldas aufdringliche Fragen und ihre wiederholten Anspielungen auf »nette junge Männer« unter der Klientel des Ladens, die vielleicht willens sein würden, eine junge Witwe mit Kind zu nehmen, wenn ihnen Mr Snyder ein hinreichend großzügiges Angebot machte …

Offen gestanden, traute sie ihrem Vater das durchaus zu. Doch er würde sie nie zu etwas drängen. Eigentlich glaubte sie, dass er sich nur ungern von ihr trennen würde – und von Mortimer erst recht.

Sie schloss die Augen und genoss den Kontrast des bitteren Kaffees, gefolgt von einem Bissen des honigtriefenden Butterbrötchens. Wie durch den Kaffee angeregt, räkelte sich Mortimer plötzlich, soweit es ging, sodass sie keuchend ihren Bauch umklammerte.

»Du kleiner Bastard«, sagte sie zu ihm und verstummte dann, um den letzten Honigbissen herunterzuschlucken. »Entschuldige. Du bist kein Bastard.« Zumindest würde er für den Rest der Welt keiner sein. Er würde das posthume Kind des … Nun, sie hatte sich noch nicht endgültig entschieden. Im Moment war er das Kind eines spanischen Artilleriehauptmanns namens Mondragon, der auf einem praktischerweise obskuren Feldzug einem Fieber erlegen war, doch bis Mortimer alt genug war, um Fragen zu stellen, würde sie sich etwas Besseres einfallen lassen.

Vielleicht ein Deutscher; dort gab es genug kleine Herzogtümer und Fürstentümer, zwischen denen man eine irreguläre Geburt verstecken konnte – obwohl es die Deutschen mit der Registrierung ihrer Bürger ärgerlich genau nahmen. Italien … das war ein angenehm unmethodisches Land, und warm war es auch noch …

Nur Engländer würde er nicht sein. Sie seufzte und legte die Hand über den kleinen Fuß, der vorwitzig unter ihrer Leber herumbohrte. Es war zwar möglich, dass Mortimer ein Mädchen war, aber Minnie konnte ihn sich nur als männliches Wesen vorstellen. Weil sie nicht an ihn denken konnte, ohne an seinen Vater zu denken.

Vielleicht würde sie ja heiraten. Irgendwann.

Für solche Überlegungen war noch Zeit genug. Im Moment gab es eine Diskrepanz zwischen der Buchführung für September und Oktober, und sie nahm ein frisches Blatt Papier und griff nach ihrem Federkiel, um die drei verirrten Gulden aufzuspüren.

Nachdem sie diese eine halbe Stunde später dingfest gemacht und in die richtige Zahlensäule geschrieben hatte, räkelte sie sich stöhnend und hievte sich zum Stehen hoch. Ihr Bauch, der in letzter Zeit ohnehin oft seltsame Geräusche von sich gab, gurgelte ominös. Wenn das Essen noch nicht fertig war, würde sie eben …

Die Glocke über der Tür klingelte energisch, und sie hob überrascht den Kopf. Die frommen Protestanten Amsterdams würden am Sonntag im Leben nirgendwo anders hingehen als in die Kirche. Doch der Mann, der im Eingang stand, war weder Holländer, noch war er fromm. Er trug eine britische Uniform.

»Eure … Durchlaucht?«, sagte sie begriffsstutzig.

»Hal«, sagte er. »Mein Name ist Hal.« Dann sah er sie ganz und wurde so weiß wie der verschüttete Zucker auf der Ladentheke. »Großer Gott.«

»Es ist nicht das …«, begann sie und glitt hinter der Theke hervor, »was Ihr meint …«, endete sie schwach.

Es spielte keine Rolle. Er holte tief Luft und ging auf sie zu. Sie hörte dumpf, wie ihr Vater die Treppe heraufkam, doch sie sah nichts anderes als dieses porzellanweiße Gesicht, hin- und hergerissen zwischen Schock und Entschlossenheit.

Er erreichte sie, ging in die Knie und hob sie hoch.

»Großer Gott!«, sagte er erneut, diesmal als Reaktion auf ihr Gewicht, welches beträchtlich war. Mit zusammengebissenen Zähnen klammerte er sie fest an sich und bahnte sich seinen Weg durch den Laden, ohne allzu sehr ins Stolpern zu geraten. Er roch herrlich nach Lorbeerblättern und Leder.

Die Tür stand offen, weil Harry Quarry sie festhielt, und kalte Winterluft wehte herein. Harrys solides, kantiges Gesicht überzog sich mit einem breiten Grinsen, als er sie ansah.

»Freut mich, Euch wiederzusehen, Ms Rennie. Beeil dich, alter Knabe, es kommt jemand.«

»Minnie! Halt! Du –« Der Ruf ihres Vaters wurde vom Knallen der Ladentür abgeschnitten, und im nächsten Moment wurde sie ohne Umschweife in eine Kutsche gesteckt, die wartend dastand. Hal schoss hinter ihr hinein, und Harry hing noch halb im Freien und rief dem Kutscher etwas zu, ehe er sich ebenfalls hineinschwang und die Tür zuknallte.

»Minnie!« Der Ruf ihres Vaters war schwach, aber hörbar.

Sie versuchte, den Kopf zu wenden und aus dem rückwärtigen Fenster zu schauen, doch dazu hätte sie aufstehen und sich ganz umdrehen müssen. Ehe sie auch nur darüber nachdenken konnte, hatte sich Hal aus seinem blauen Militärumhang gewunden und legte ihn ihr um. Die Wärme seines Körpers umfing sie, und sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von dem ihren entfernt, immer noch weiß, und auch die Wärme seines Atems auf ihrer Wange war weiß und wurde in der kalten Luft der Kutsche zu Nebel.

Seine Hände lagen auf ihren Schultern, um sie gegen das Auf und Ab zu stützen, und sie glaubte, er würde sie küssen, doch die Kutsche bog wankend um eine Ecke, und durch den Ruck landete er auf dem Sitz gegenüber neben Harry Quarry, der immer noch von einem Ohr zum anderen grinste.

Sie holte tief Luft und zog sich die Röcke über ihrem Bauch zurecht.

»Was glaubt Ihr, wohin Ihr mich bringt?«

Er hatte sie gebannt angestarrt, anscheinend jedoch, ohne sie wirklich zu sehen, denn er fuhr bei ihren Worten zusammen.

»Was?«

»Wohin bringt Ihr mich?«, wiederholte sie lauter.

»Ich weiß es nicht«, sagte er und richtete den Blick zur Seite auf Harry. »Wohin fahren wir?«

»Keizersgracht«, sagte Harry schulterzuckend. »Es heißt De Gevulde Gans

»Die gestopfte Gans? Ihr bringt mich zu einem Wirtshaus?« Sie hob unwillkürlich die Stimme.

»Ich bringe Euch zu Eurer Hochzeit«, sagte Hal und sah sie stirnrunzelnd an.

Er war sehr blass, und neben seinem Mund zuckte ein Muskel – das Einzige, was er nicht unter Kontrolle hatte, dachte sie. Nun, außer ihr natürlich.

»Ich habe eine Dame geheiratet, und sie ist zur Hure geworden. Ich kann mich nicht beklagen, wenn es diesmal umgekehrt ist.«

»Ihr glaubt, ich bin eine Hure, ja?« Sie wusste nicht, ob sie belustigt oder beleidigt sein sollte. Vielleicht beides.

»Schlaft Ihr immer mit Euren Opfern, Madam?«

Sie warf ihm einen langen, ungerührten Blick zu und verschränkte die Arme über ihrem runden Bauch.

»Ich habe nicht geschlafen, Durchlaucht, und wenn Ihr es getan hättet, wäre mir das, glaube ich, aufgefallen.«

 

DIE GESTOPFTE GANS war ein primitives Etablissement, vor dessen Eingangstreppe ein zerlumpter Betrunkener lag.

»Warum denn ausgerechnet hier?«, fragte sie Harry, während sie ihre Röcke raffte, um einem Häuflein Erbrochenem auf den Steinen auszuweichen, und einen Blick auf den schmierigen Türknauf warf.

»Der Ehemann der Wirtin ist Prediger«, führte er an und beugte sich vor, um ihr die Tür zu öffnen. »Und nimmt es angeblich nicht so genau.«

Mit Dingen wie einem Aufgebot, vermutete sie. Obwohl man das vielleicht nicht brauchte, wenn man im Ausland heiratete?

»Geh hinein«, sagte Hal ungeduldig hinter ihr. »Es stinkt hier draußen.«

»Und du glaubst, innen wird es besser sein?«, fragte sie und kniff sich vorsichtshalber die Nase zu. Aber er hatte recht: Der Wind hatte sich gedreht, und der Gestank des Betrunkenen traf sie mit voller Wucht.

»O Gott«, sagte sie, machte zielsicher auf dem Absatz kehrt und übergab sich auf der anderen Seite der Stufe.

»O Gott«, sagte Hal. »Das macht nichts, ich besorge dir etwas Gin. Jetzt geh um Gottes willen hinein.« Er zog ein großes weißes Taschentuch aus seinem Ärmel, wischte ihr energisch den Mund damit ab und schob sie durch die Tür.

Harry war schon vorgegangen und hatte die Verhandlungen eröffnet, in schlechtem, aber ausreichendem Holländisch, welchem er mit einer fetten Geldbörse nachhalf, die er laut klimpernd auf die Theke plumpsen ließ.

Hal, der anscheinend kein Holländisch sprach, unterbrach Harrys Unterhaltung mit der Wirtin hinter der Theke, indem er eine goldene Guinee aus seiner Tasche zog und sie auf die Theke warf.

»Gin«, sagte er.

Minnie hatte sich gleich nach ihrem Eintreten auf einen Hocker sinken lassen und saß mit geschlossenen Augen vornübergebeugt da, Hals Taschentuch fest in der Hand, während sie versuchte, nicht zu atmen. Doch im nächsten Moment durchschnitt der scharfe, reine Duft von Wacholder den mit einem Hauch von toter Ratte versetzten Mief des Wirtshauses. Sie schluckte, zwang sich, sich aufzurichten, und nahm den Becher mit Gin, den Hal ihr reichte.

Zu ihrer beträchtlichen Überraschung wirkte das. Die Übelkeit verschwand beim ersten Schluck, der Wunsch, sich auf den Boden zu legen, ließ nach, und innerhalb von Sekunden fühlte sie sich relativ normal – zumindest so normal, wie man sich fühlen konnte, wenn man im sechsten Monat schwanger und im Begriff war, Hal zu heiraten, dachte sie.

Der Geistliche, den man anscheinend aus dem Bett geholt hatte und der offensichtlich an einer extremen Form der Grippe litt, richtete seine verquollenen Augen von Hal auf Minnie und wieder zurück.

»Ihr wollt sie heiraten?« Der ungläubige Ton drang langsam und schleimig durch seine verstopften Atemwege.

»Ja«, sagte Hal. »Jetzt, wenn Ihr so freundlich wärt.«

Der Geistliche schloss ein Auge und sah ihn an, dann wandte er den Kopf langsam seiner Frau zu, die ungeduldig mit der Zunge schnalzte und sehr schnell etwas auf Holländisch sagte, gefolgt von einer entschiedenen Geste. Er zog den Kopf auf eine Weise ein, die andeutete, dass er solche Tiraden gewohnt war. Als sie verstummte, nickte er resigniert, zog ein nasses Taschentuch aus der Tasche seiner schlabberigen Kniehose und putzte sich die Nase.

Hal drückte Minnie fester die Hand; er hatte sie nicht losgelassen, seit sie das Wirtshaus betreten hatten, und sie zuckte, ohne jedoch zu ziehen. Er blickte auf sie hinunter.

»Entschuldigung«, sagte er und lockerte seine Umklammerung, ließ aber nicht los.

»Ze krijgt een kind«, sagte der Geistliche in tadelndem Ton.

»Das weiß ich«, sagte Hal und packte wieder fester zu. »Macht bitte schnell.«

»Warum?«, fragte Minnie, die sich provoziert fühlte. »Musst du noch irgendwohin?«

»Nein«, sagte er und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Aber ich will, dass das Kind legitim ist, und ich habe das Gefühl, dass du es jeden Moment gebären wirst.«

»Das werde ich nicht«, sagte sie beleidigt. »Du weißt genau, dass ich erst im sechsten Monat bin!«

»Du siehst aus wie ein …« Da er an diesem Punkt ihren Blick sah, schloss er abrupt den Mund, hüstelte und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf den Geistlichen. »Bitte fahrt fort, Sir.«

Der Mann nickte, putzte sich noch einmal die Nase und winkte seiner Frau, die sich bückte, um unter der Theke zu kramen, und schließlich ein eselsohriges Gebetbuch zum Vorschein brachte, dessen Umschlag voller Stockflecken war.

Sobald er diesen Talisman in der Hand hatte, schien der Priester Mut zu fassen und richtete sich ein wenig auf.

»Heeft u Zeugen?«, fragte er Hal.

»Ja«, sagte Hal ungeduldig. »Er ist … Harry? Verdammt, er ist nach draußen gegangen, um die Kutsche zu bezahlen. Hiergeblieben!«, befahl er Minnie, dann ließ er ihre Hand sinken und ging hinaus.

Der Geistliche sah ihm skeptisch hinterher, dann richtete er den Blick auf Minnie. Seine Nasenspitze war feucht und leuchtend rot, seine Wangen von kleinen Äderchen bläulich gefärbt.

»Wollt Ihr diesen Mann denn heiraten?«, fragte er. »Wie ich sehe, ist er reich, aber vielleicht besser einen armen Mann, der Euch gut behandeln wird?«

»Ze is zes maanden zwanger, idioot«, sagte die Frau des Geistlichen. »Is dat de schurk, die de vader is?« Sie nahm die Pfeife aus ihrem Mundwinkel und zeigte von der Tür zu Minnies Bauch. Ein heftiger Tritt des Insassen ließ Minnie aufstöhnen. Sie krümmte sich zusammen.

»Ja, dat is de schurk«, bestätigte sie der Frau und sah sich zur Tür um, in deren Fenster Hal als Schatten zu sehen war, gefolgt von einem größeren Schatten, der Harry sein musste.

Die Männer traten mit einem Schwall kalter Winterluft ein, und die Frau wechselte einen Blick mit ihrem Mann. Beide zuckten mit den Schultern, und der Geistliche öffnete das Buch und fing an, hilflos darin herumzublättern.

Harry lächelte Minnie beruhigend zu und tätschelte ihr die Hand, ehe er sich standhaft an Hals Seite aufbaute. Seltsamerweise fühlte sie sich tatsächlich beruhigt. Wenn ein Mann wie Harry Hals Freund war, dann traf ihr Eindruck von ihm ja vielleicht – nur vielleicht – zu.

Nicht, dass das jetzt irgendetwas ändern würde, dachte sie, und ein seltsam angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken. Sie fühlte sich, als sei sie im Begriff, von einer Klippe zu springen, und spürte, wie sich ein großes Flügelpaar in ihrem Rücken ausbreitete, just als sie in den Wind hinausblickte.

»Wat zijn uw volledige namen, alsjeblieft?«

Die Wirtin hatte ein schäbiges Registerbuch hervorgeholt – es konnte genauso gut das Abrechnungsbuch für das Wirtshaus sein, dachte Minnie beim Anblick der fleckigen Seiten. Doch die Frau schlug eine saubere, leere Seite am Ende des Buches auf und tauchte ihren Federkiel erwartungsvoll in die Tinte.

Eine Sekunde war Hals Miene verständnislos, dann sagte er entschlossen: »Harold Grey.«

»Nur zwei Namen?«, sagte Minnie überrascht. »Keine Titel?«

»Nein«, sagte er. »Es ist nicht der Herzog von Pardloe oder auch nur der Graf von Melton, den du heiratest. Nur ich. Tut mir leid, wenn ich dich enttäusche, falls du das gedacht hast«, fügte er in einem Ton hinzu, der tatsächlich bedauernd klang.

»Nicht doch«, sagte sie höflich.

»Mein zweiter Vorname ist Patricius«, platzte er heraus. »Harold Patricius Gerard Bleeker Grey.«

»Tatsächlich?«

»Ik schrijf dat niet alles op«, wandte die Frau ein.

»Bleeker – dat is Nederlands«, sagte der Geistliche überrascht und beifällig. »Kommt Eure Familie aus Holland?«

»Die Großmutter meines Vaters«, sagte Hal nicht minder überrascht.

Die Frau zuckte mit den Schultern und murmelte beim Niederschreiben die Worte »Harold … Bleeker … Grey« vor sich hin. »En nu?«, fragte sie und blickte zu Minnie auf.

Minnie hätte nicht gedacht, dass ihr Herz noch schneller schlagen könnte, doch sie irrte sich. Trotz ihres losen Korsetts wurde ihr schwindelig, und ehe sie genug Luft zum Sprechen holen konnte, kam Hal zu Hilfe.

»Sie heißt Wilhelmina Rennie«, sagte er zu der Frau.

»Tatsächlich heißt es Wilhelmina Wattiswade«, sagte sie, als sie endlich Luft bekam. Hal blickte stirnrunzelnd auf sie hinunter.

»Wattiswade? Was heißt Wattiswade?«

»Nicht was«, sagte sie übertrieben geduldig. »Wer. Nämlich ich.«

Dies schien zu viel für Hal zu sein, der den Blick hilfe suchend auf Harry richtete.

»Sie meint, ihr Name ist nicht Rennie, alter Knabe. Er ist Wattiswade.«

»Kein Mensch heißt Wattiswade«, widersprach Hal und richtete das Stirnrunzeln wieder auf Minnie. »Ich heirate dich nicht unter falschem Namen.«

»Ich heirate dich auch nicht unter falschem Namen!«, sagte sie. »Gah!«

»Was …«

»Dein verdammtes Baby hat mich in die Leber getreten!«

»Oh.« Hal sah etwas verlegen aus. »Du meinst also, dein Name ist tatsächlich Wattiswade?«

»Ja.«

Er holte tief Luft.

»Also schön. Wattiswade. Warum – ach, egal. Du wirst mir später erzählen, warum du dich Rennie genannt hast.«

»Nein, das werde ich nicht.«

Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, und sie konnte sehen, wie er – ausnahmsweise – abwägte, ob er etwas sagen sollte. Doch dann verloren seine Augen den Ausdruck eines Mannes, der ein Selbstgespräch führt, und richteten sich auf sie.

»Also schön«, sagte er leise und hielt ihr die Hand mit der Handfläche nach oben hin.

Sie holte noch einmal Luft, blickte in die Leere hinaus und sprang.

»Cunnegunda«, sagte sie und legte ihre Hand in die seine. »Minerva Cunnegunda Wattiswade.«

Er sagte nichts, doch sie konnte spüren, wie er sacht vibrierte. Sie vermied es sorgsam, ihn anzusehen. Harry schien über irgendetwas mit der Frau zu diskutieren – es ging darum, dass sie einen zweiten Zeugen brauchten, dachte sie, doch sie konnte sich nicht genügend konzentrieren, um die Worte auszumachen. Der Geruch nach Tabakrauch und altem Schweiß ließ ihr die Galle wieder hochkommen, und sie schluckte ein paarmal krampfhaft.

Also schön. Sie hatten beschlossen, dass Mrs Ten Boom die zweite Zeugin sein konnte. Mortimer schlug einen Purzelbaum und landete hart. Der Schweiß war Minnie an den Schläfen ausgebrochen, und ihre Ohren fühlten sich heiß an.

Plötzlich wurde sie von der Angst gepackt, dass ihr Vater jeden Moment zur Tür hereingeplatzt kommen könnte. Sie hatte keine Angst, dass er die spontane Zeremonie aufhalten würde; sie war sich sicher, dass Hal das nicht zulassen würde – und diese Gewissheit gab ihr Kraft. Dennoch … sie wollte ihn nicht hier haben. Dies gehörte nur ihr.

»Schnell«, sagte sie leise zu Hal. »Bitte schnell.«

»Weiter«, sagte er in einem Ton zu dem Geistlichen, der zwar nicht sonderlich laut war, aber keine Widerrede zuließ. Reverend Ten Boom kniff die Augen zusammen, hustete und öffnete sein Buch.

Es war alles auf Holländisch; sie hätte den Worten folgen können, doch sie tat es nicht – was ihr in den Ohren widerhallte, waren die niemals ausgesprochenen Sätze aus den Briefen.

Nicht Esmés Briefe – seine. Briefe an eine tote Frau, geschrieben in leidenschaftlichem Schmerz, in Wut und Verzweiflung. Er hätte sich genauso gut mit der Feder in das Handgelenk stechen und diese Worte mit Blut schreiben können. Sie blickte zu ihm auf, weiß jetzt wie der Winterhimmel, als wäre ihm alles Blut aus dem Körper gelaufen und hätte ihn leer zurückgelassen.

Doch seine Augen waren durchdringend blau, als er ihr jetzt das Gesicht mit den dunklen Brauen zuwandte, und das Feuer in ihm brannte unvermindert.

Du hattest ihn nicht verdient, dachte sie, an die abwesende Esmé gewandt, und legte ihre freie Hand auf ihren sanft rumorenden Bauch. Aber du hast ihn geliebt. Keine Sorge, ich werde für die beiden da sein.

Anmerkung der Autorin

Falls Sie »Das Zeiträtsel« von Madeleine L’Engle nicht schon in Ihrer Jugend gelesen haben, ist es nicht zu spät. Es ist eine tolle Geschichte, die ich wärmstens empfehle. Falls Sie es jedoch gelesen haben, erinnern Sie sich bestimmt an eine Zeile, die Kult geworden ist: Es gibt natürlich einen Tesserakt.

Einen Tesserakt gibt es tatsächlich, sowohl als geometrisches wie auch als wissenschaftliches Modell: Grob gesagt, ist es ein vierdimensionales Konstrukt, in dem die vierte Dimension die Zeit ist. Schriftsteller benutzen ihn als Mittel, um zwei separate Raum-Zeit-Linien zusammenzubringen, indem sie die lineare Zeit dazwischen umgehen. So viel praktischer als eine sperrige alte Zeitmaschine.

Nun ist es allgemein bekannt, dass ich mir das Alter meiner Figuren nicht merken kann. Ich habe nur eine ganz vage Vorstellung davon, wie alt irgendjemand in diesen Geschichten zu einem bestimmten Zeitpunkt ist; normalerweise weiß ich nicht, wann sie Geburtstag haben, und eigentlich interessiert es mich auch nicht. Das treibt sowohl meine Redakteurin als auch die Besesseneren unter meinen Lesern zum Wahnsinn, und sie werden über das, was ich jetzt sagen werde, nicht glücklich sein, aber es geht wirklich nicht anders.

Als ich Die Fackeln der Freiheit geschrieben habe, habe ich Hal und Minnies kleinen Söhnen einfach irgendein Alter gegeben, weil ich nie gedacht hätte, dass wir sie noch einmal wiedersehen, ehe sie erwachsen sind (inzwischen sind wir ihnen in Echo der Hoffnung und in Ein Schatten von Verrat und Liebe tatsächlich allen als Erwachsenen begegnet).

Außerdem habe ich in Die Fackeln der Freiheit einfließen lassen, dass Jamie Minnie schon vor ihrer Hochzeit begegnet war, in Paris, und dass sie im Rahmen der damaligen Jakobitenverschwörung miteinander zu tun gehabt hatten. Das ist wichtig, weil es sowohl etwas mit ihren Charaktereigenschaften als auch mit ihrer daraus folgenden Handlungsweise zu tun hat.

Und ich habe es zugelassen, dass Minnie Lord John erzählt, unter welchen Umständen es zu ihrer Heirat mit Hal gekommen ist. Das ist ebenfalls wichtig, weil es etwas über die Beziehung zwischen Minnie und Hal aussagt und darüber, warum er später in der Handlung ausgerechnet sie um Hilfe in Spionagefragen bittet.

Diese beiden Tatsachen sind also wichtig. Wie alt die Kinder sind, ist nicht wichtig.

Natürlich wollte ich Minnies Bekanntschaft mit Jamie Fraser erwähnen, als ich mich nun in die Vergangenheit begeben habe, um von Minnies und Hals Anfängen zu erzählen. Okay, das musste ich irgendwann im Jahr 1744 ansiedeln, als die Frasers als Verschwörer in Paris waren.

Minnies Schwangerschaft und die bevorstehende Geburt ihres ersten Sohns Benjamin hat viel mit ihrer Heirat und mit dem zu tun, was sie darüber empfindet. Ergo muss Benjamin irgendwann im Jahr 1744 gezeugt worden sein.

Diejenigen unter meinen Lesern, die es besonders genau nehmen, werden sofort gemerkt haben, dass Benjamin nicht im Jahr 1760 in Die Fackeln der Freiheit acht Jahre alt gewesen sein kann, wenn er 1744 gezeugt und 1745 geboren worden ist. Das ist er aber.

Es liegt auf der Hand, dass die einzige Möglichkeit, Benjamins Alter zu rechtfertigen – genauso wie das seiner Brüder Henry und Adam –, in der logischen Schlussfolgerung besteht, dass sich irgendwann zwischen Die Fackeln der Freiheit und der Entstehung von Minervas Geheimnis ein Tesserakt ereignet haben muss – und bei unserer nächsten Begegnung mit den Jungen sind sie alle erwachsen, und es spielt keine Rolle mehr. Glücklicherweise vertraue ich voll auf die geistige Kapazität meiner Leser, dieses Konstrukt zu verstehen und die Geschichte ohne weiteres sinnloses Kopfzerbrechen zu genießen.

 

HARRY QUARRY TAUCHT das erste Mal (flüchtig) in Ferne Ufer auf, als Gefängnisverwalter von Ardsmuir, der Lord John seine Amtsgeschäfte übergibt, als man diesen infolge eines Skandals aus London in die entlegenen Highlands entsendet. Er erscheint auf nicht mehr als ein oder zwei Seiten, und der wichtigste Grund dafür war (für mich), Lord John davon in Kenntnis zu setzen, dass sich Jamie Fraser unter den Gefangenen befindet.

Nun ist Harry aber ein Pilz. Eine dieser Figuren, die einfach auftauchen und jede Szene an sich reißen, in der sie auftreten. Er blieb nicht in der Versenkung. Als ich – ein paar Jahre später – Das Meer der Lügen geschrieben habe (in der Annahme, es sei eine Kurzgeschichte), kehrte Harry zurück. Auch diesmal verhalf er Lord John zu wichtigem Wissen und benahm sich wie ein Freund der Familie.

Was er, wie sich herausstellte, auch war. Harrys Beziehung zur Familie Grey hat sich langsam entwickelt, während sie rückwärts erzählt wird, und die frühere Phase dieser Beziehung sehen wir in Minervas Geheimnis. Diese Geschichte spielt 1744/1745. Zu diesem Zeitpunkt ist Harold Grey, Herzog von Pardloe (obwohl er sich weigert, diesen Titel anzuerkennen oder zu tragen), Graf Melton und Lord Johns älterer Bruder, ungefähr fünfundzwanzig und versucht, das Regiment seines Vaters wieder aufzubauen, das in der Folge des Skandals um den Tod seines Vaters (Die Sünde der Brüder) aufgelöst wurde.

Dort erfahren wir, dass Hal und Harry seit ihrer Kindheit befreundet sind und dass Harry Hal bei der Herkulesaufgabe zur Seite steht, sein Regiment aufzubauen, während er um seine Frau und sein ungeborenes Kind trauert. Mit anderen Worten, ein sehr enger Freund.

Daher könnte der aufmerksame Leser fragen, warum Harry scheinbar ein Fremder war, als er John in Ardsmuir begegnet ist. Nun, abgesehen von Trivialitäten wie der Tatsache, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht das Geringste über ihn wusste … werfen wir doch einen kurzen Blick auf den persönlichen und gesellschaftlichen Werdegang der Brüder Grey.

Hal ist neun Jahre älter als Lord John. Da die Greys der absoluten Oberklasse angehören, dürften ihre Kinder bis zum Alter von sechs oder sieben mehr oder weniger in der Obhut ihrer Kindermädchen aufgewachsen sein, um sich dann zwar dem Familienleben anzuschließen, jedoch immer noch ein Stück weit abgesondert und von einem Tutor oder einer Gouvernante betreut. Als Lord John dem Kinderzimmer entwächst, ist Hal fünfzehn – beinahe ein Erwachsener – und er besucht entweder eins der englischen Eliteinternate (vermutlich Westminster) oder sammelt im Regiment seines Vaters erste Militärerfahrung. Jedenfalls lebt er nicht zu Hause; seinen kleinen Bruder sieht er kaum – und John und Harry dürften sich kaum kennen.

Als Lord John zwölf Jahre alt ist, wird sein Vater ermordet (obwohl man es zunächst für Selbstmord hält), und Hal, der einundzwanzig und frisch verheiratet ist, wird abrupt zum Familienoberhaupt. Da er um die Sicherheit besagter Familie bangt (ob Selbstmord oder Mord, der Tod des Herzogs hat mit einer Verschwörung zu tun, die möglicherweise viel weiter reicht), schickt Hal seine Mutter nach Frankreich und vertraut seinen jüngeren Bruder dem langweiligen, aber verlässlichen Schutz der schottischen Verwandtschaft in Aberdeen an.

Das Regiment des verstorbenen Herzogs wurde aufgelöst; Hal begreift, dass er den Skandal um den Tod seines Vaters nur überwinden kann, indem er es wieder ins Leben ruft und durch den Dienst am Königreich langsam die Familienehre wiederherstellt. Also beginnt er mit dieser Aufgabe, seinen guten Freund Harry an seiner Seite, während John (getrost und gefahrlos) in Aberdeen vor sich hindümpelt. Mit anderen Worten sehen sich John und Harry während seiner zwei Jahre in Aberdeen nicht, auch wenn Hal ihn möglicherweise hin und wieder erwähnt.

Nach seiner Rückkehr nach England dürfte auch John prompt in ein Internat geschickt worden sein. Auch hier hat er vermutlich von seinem Bruder gehört oder Besuch bekommen, doch Harry hat er nicht gesehen.

Die nächste Möglichkeit könnte sich wohl ergeben, als er mit sechzehn in Hals Regiment eintritt und am Jakobitenfeldzug in den Highlands teilnimmt. Zu diesem Zeitpunkt befehligt Harry sein eigenes Bataillon und steht zwar gewiss in enger Verbindung mit Hal (und gewiss sieht er auch John von Zeit zu Zeit), doch nennenswerten Kontakt zwischen Harry und John gibt es nicht.

Ich bin mir nicht sicher, was genau Harry nach diesem Feldzug zugestoßen ist – vielleicht werden wir es in einer zukünftigen Geschichte erfahren –, doch er verlässt Hals Regiment, wenn auch einvernehmlich. Kontakt mit John hat er nach wie vor nicht. Und was auch immer Harry angestellt hat, es hat offensichtlich Komplikationen nach sich gezogen, sonst wäre er nicht in Ardsmuir gelandet.

Als John also in Ardsmuir eintrifft, weiß er zwar, wer Harry ist, doch persönlich kennt er ihn kaum. Und als wir sie in Ferne Ufer zusammen sehen, empfängt Harry John sehr förmlich – wenn auch freundlich und mit warnenden Ratschlägen bezüglich des Postens und einer Liste der örtlichen Schnapshändler –, wie es sich geziemt, wenn ein Offizier einem anderen das Kommando überlässt.

 

AN EINER STELLE der Geschichte sinniert Minnie über die subtile Farbe ihres grünen Seidenkleides nach und erwähnt dabei in Gedanken ihre Bekanntschaft mit einem gewissen Mr Vernet, einem Walmaler.

Walmalerei war im achtzehnten Jahrhundert tatsächlich eine Mode: Es herrschte große Nachfrage nach der Produktion romantisch verwässerter Abenteuergemälde, daher gab es Spezialisten für deren Herstellung. Claude Joseph Vernet war ein historischer Künstler, dessen Werk weitgehend in Meeresgemälden bestand, von denen viele auch Wale enthielten. Das dürfte ihn natürlich auch zum Experten für die Farbabstufungen des Wassers gemacht haben und ihn in die Lage versetzt haben, Minnie von der bedeutungsschwangeren Flüchtigkeit der grünen Farbe zu erzählen, deren Pigmente schneller verblassen als die haltbareren Blau- und Grautöne.