5Carlos Bistro war ein in die Jahre gekommenes Ladengeschäft. Die hochgefliesten Wände und der speckige, mit Rissen durchzogene Travertinboden ließen vermuten, dass hier einmal Lebensmittel verkauft worden waren. Es bestand nur aus einem einzigen Raum, der zur Straße hin zwei bodenhohe Fenster hatte, und einer gegenüberliegenden wuchtigen Holztheke. Die wiederum nahm so viel Platz ein, dass an Barhocker nicht zu denken war, wenn man die drei oder vier vor den Fenstern stehenden Tische erreichen wollte. Hinter der Theke lehnte ein gedrungener Endvierziger mit fliehender Stirn und fettigem, bis auf die Schultern hängendem Haar und starrte auf einen riesigen Fernseher, der über seinem Kopf montiert war. Was der Mann so gebannt verfolgte, ein Fußballspiel der Zweitliga, war schon mühelos vom Gehweg aus zu verstehen gewesen. Die Lautstärke war es wohl auch, wegen der er Giulias Eintreten nicht bemerkte. Dafür grüßten die meisten der anderen anwesenden Männer, überwiegend Handwerker, die ihre Mittagspause hier abhielten, freundlich. Auch Armando, der Postbote, war unter ihnen, wobei der sich ganz entgegen seiner sonstigen Art ein wenig wegduckte, als er Giulia erblickte. Offenkundig schien er Sorge zu haben, in der Öffentlichkeit von ihr angesprochen zu werden. Colico war am Ende eben auch nur ein Dorf, in dem die Leute redeten, ob es dafür einen Grund gab oder nicht. Ausnahmslos jeder der Gäste – und es waren fast mehr, als das Lokal fassen konnte – hatte einen Teller wunderbar duftender Lasagne vor sich, die, wie eine Schiefertafel am Eingang verkündete, heute als Mittagsgericht angeboten wurde.

Giulia hatte sich per SMS mit Elena hier verabredet, nachdem sie bei Pierantognetti fertig war, aber das war nicht einmal notwendig gewesen, denn sie wartete aufgrund des freundlichen Hinweises eines übereifrigen Armando bereits dort. Und so saß Elena, als Giulia eintrat, an einem kleinen Tisch vor einem der Fenster und las etwas auf ihrem iPad. Vor ihr standen ein Espresso-Gedeck und drei unangerührte Gläser Prosecco.

»Die Lasagne hier soll ausgezeichnet sein«, sagte Giulia, zog sich einen der freien Stühle heran und ließ sich darauf nieder. »Zumindest behauptet das dieser unangenehme Pierantognetti. Du musst sie womöglich also gar nicht mit so viel Prosecco herunterspülen.«

»Ach, da warst du so lange«, murmelte Elena, ohne von ihrem Tablet aufzusehen. »Hab keinen Hunger.«

»Nein. Ich habe mich noch im Hotel umgehört. Das Auto der Puppenspieler stand direkt vor der Tür, da sollte man doch meinen, dass irgendjemand etwas mitbekommen hat«, erklärte Giulia. Sie hatte den Bericht der ortsansässigen Carabinieri nach dem Gespräch mit der Zorzi am heutigen Morgen noch einmal ausführlich gelesen und war dabei über die fehlenden Zeugen gestolpert.

Schweigen.

»Ich könnte auch mit dem Wirt plaudern. Möglicherweise interessiert der sich für Ermittlungsarbeit«, frotzelte Giulia, weil Elena noch immer nicht von dem Gerät ablassen konnte.

»Und? Gibt es Zeugen?«, fragte Elena nölig und offenkundig nicht bei der Sache, während sie weiterhin unermüdlich mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand über das Display wischte. »Der Wirt wird dir sicherlich noch weniger folgen können. Er meint ja auch, ich sähe aus wie eine Frau, die gern Prosecco trinkt.«

Giulia grinste. »Der Mann verfügt über Menschenkenntnis.«

»Was gab es nun im Hotel?«, wollte Elena wissen.

»Nichts. Absolut gar nichts. Nicht einmal der Nachtportier will etwas bemerkt haben. Angeblich hat er einen Western geguckt«, sagte Giulia. »Er hat die Aussage, die ich im Protokoll der Kollegen lesen konnte, fast wortwörtlich wiederholt.«

Elena schaute kurz auf. Ihre rechte Braue hatte sie so weit nach oben gezogen, dass sie fast ihren fransigen Pony berührte. »Glaubst du das?«

Giulia zuckte mit den Schultern. »Es ist mitten in der Nacht, alle liegen in ihren Betten, die Fenster sind verbarrikadiert, die Klimaanlagen laufen … Mhm. Ich weiß es nicht.«

»Ich hätte eher gedacht, dass bei den vielen Fans, die die Puppenspieler haben, so einige mutige Retter dabei sind«, warf Elena ein.

»Tja, womöglich haben ausgerechnet die einen gesegneten Schlaf«, entgegnete Giulia.

»Und wer hat die Karre dann gelöscht?«, wollte Elena wissen.

»Angeblich weiß das niemand«, antwortete Giulia. »Pierantognetti will am Morgen rausgekommen sein und sein Auto in dem jetzigen Zustand vorgefunden haben.«

»Ein schönes Märchen«, konstatierte Elena und widmete sich wieder ihrem Lieblingsspielzeug. »Aber es wurde doch gelöscht?«

»Nach allem, was Risos Leute sagen, ja«, entgegnete Giulia. »Vermutlich würde es ansonsten noch schlimmer aussehen.«

»Commissario. Ich bin Carlo.« Offenkundig hatte Carlo seinen neuen Gast doch bemerkt. Denn ohne dass Giulia es mitbekommen hatte, war er an ihren Tisch getreten. »Geht aufs Haus«, sagte er und stellte ihr ebenfalls ein Glas Prosecco hin. Giulias Einwand, dass sie keinen Perlwein bestellt hatte, konnte er nicht hören, da er schon wieder hinter seine Theke zurückgekehrt war. »Ich sehe also offenkundig auch aus wie eine Frau, die auf Prosecco steht«, scherzte sie.

»Wenn du zwei zurückschickst, bekommst du drei neue. Du solltest lieber daran nippen und dabei dankbar lächeln«, kommentierte Elena, die noch immer in ihr iPad vertieft war. »Ich glaube, das ist hier so etwas wie ein Wettbewerb. Wessen Glas du austrinkst, dessen Frau wirst du, oder so. Ich kenne die Regeln bei euch am See nicht.«

Giulia musste sich beim Anblick der etwas einfältig wirkenden Burschen, die sie einer wie der andere hemmungslos angafften, das Lachen verkneifen. Offenkundig hatte Carlo nicht so häufig weibliche Gäste, vor allem keine fremden. Oder die Männer hatten noch nie Polizistinnen gesehen, denn dass sich in dem kleinen Ort bereits herumgesprochen hatte, wer sie waren und was sie wollten, lag spätestens nach der Begrüßung durch Carlo auf der Hand.

»So oft scheinen die kein frisches Fleisch zu Gesicht zu bekommen«, redete Elena weiter.

Sie hatte es kaum ausgesprochen, da war Carlo zurück und schob ein weiteres Glas für Giulia über die Tischplatte. »Lasagne?«, fragte er.

»Was gibt es noch?«, wollte Giulia wissen.

»Lasagne«, entgegnete er mit dem Ausdruck von kindlichem Unverständnis.

»Na dann«, lächelte sie.

»Und Sie da?« Die Frage galt zweifelsohne Elena, aber er schaute nicht sie, sondern Giulia an.

»Keinen Hunger«, murmelte Elena, ohne weiter Notiz von dem Mann zu nehmen. Der Inhalt ihres iPads schien interessanter zu sein.

»Na, wenigstens eine. Das geht ja heute wieder schleppend«, nuschelte er und verschwand.

Giulia schaute in die Gesichter der Dutzenden zufrieden kauenden Gäste und freute sich innerlich über den seltsamen Humor ihrer Landsleute.

»Warst du nicht auch noch bei der Bürgermeisterin?«, fragte Elena noch immer ein wenig geistesabwesend.

»Du erinnerst dich, nicht schlecht«, kommentierte Giulia bissig.

Elena hob empört den Kopf. »Also erlaube mal, ich habe Hintergrundarbeit betrieben, vor allem mit deiner Freundin Tiziana …«

»Okay. Wie weit bist du mit Informationen zu den Grundbüchern?«, fiel Giulia ihr ins Wort. »Die Bürgermeisterin zumindest ist von ihrem Projekt hundertprozentig überzeugt. Wenn es nach ihr ginge, könnten bald die Bagger anrollen.«

»Na ja, dann ist sie entweder schlecht informiert oder furchtbar dummdreist«, entgegnete Elena. »Der Abt hat mit allem recht. Das Land gehört der Abtei. Daran gibt es nichts zu deuteln.«

»Keine Grauzone, gar nichts?«, fragte Giulia nach.

»Nichts«, antwortete Elena. »Alles sauber. Möglich ist natürlich, dass die Bürgermeisterin irgendwo noch ein Geheimdokument hat, aber sonst …«

»Aber was treibt sie dann zu diesem Projekt? Das ist doch politischer Selbstmord.« Auf Giulia wirkte das alles absolut absurd, vor allem nachdem sie die Dame vorhin erlebt hatte.

»Der Anwalt des Klosters hält es für Naivität«, erklärte Elena. »Meine Güte, war das ein Zirkus, bis ich den am Telefon hatte. Das Reden hatte der auch nicht erfunden.«

»Vielleicht ist sie manchmal zu arglos, oder sollte ich es eher oberflächlich nennen?«, sprach Giulia ihre Überlegungen laut aus. »In jedem Fall verkauft sie sich wie eine richtige Politikerin.«

»Pokerface?«, hakte Elena nach.

»So ungefähr, ziemlich abgebrüht, würde ich meinen«, entgegnete Giulia. »Das passt dann ja wohl kaum zu naiv.«

»Angeblich war die Pfirsichplantage schon immer mal ein Thema zwischen Kloster und Gemeinde«, redete Elena weiter. »Die Bürgermeisterin hat wohl nach ihrem Amtsantritt händeringend nach einem Projekt gesucht, am besten einem, das sie wirklich in die Annalen des Ortes eingehen lässt. Dass das mit dem Bau eines Luxushotels möglich sein soll, finde ich bemerkenswert, vor allem wenn man dafür ein Kloster angreift. Aus meiner Sicht kommt sie damit nicht in die Ehrengalerie, sondern in die Hölle.«

Giulia schmunzelte. »Okay, Naivität lasse ich gelten«, warf sie ein. »Mangelende Vorbereitung trifft es aber auch. Wenn Sie die Akten ordentlich studiert hätte … Mhm.«

Elena nickte. »Das sagt der Vertreter der Kirche auch. Sie ist wohl über das Ziel hinausgeschossen. Nun scheint sie aus der Nummer nicht mehr rauszukommen, also nicht allein.«

»Und dann führt sie lieber einen Rechtsstreit, den sie zweifelsohne verlieren wird«, schlussfolgerte Giulia.

»Genau. Der zieht sich in die Länge, bis niemand mehr daran denkt, und am Ende sind die anderen die Bösen«, bestätigte Elena.

»Und ihre Gemeinde entzweit sich zwischenzeitlich darüber«, sagte Giulia. »Das verstehe ich nicht. Das klingt wie ein schlechtes Spiel. So etwas riskiert man doch nicht.«

»Wenn man die Folgen abschätzen kann …«, antwortete Elena. »Möglicherweise spekuliert sie auch darauf, dass sich das alles verläuft. Normalerweise dauert es doch nicht lange, bis die Leute keine Lust mehr haben, auf die Straße zu gehen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. In ein paar Wochen steht niemand mehr unter ihrem Bürofenster, zumindest nicht wegen einer kirchlichen Pfirsichplantage.«

Giulia dachte an die Axt, mit der Pater Donato ermordet worden war. Sie hatte unter einem Pfirsichbaum gestanden. Das konnte doch kein Zufall sein? Vor allem weil der Mörder nach seiner Tat extra zu diesem Baum gegangen sein musste. Gut, es waren nur ein paar Meter Umweg, aber immerhin. Das ergab ohne das Politikum zwischen der Abtei und der Kommune keinen Sinn, und genau deswegen musste der Mord damit in Zusammenhang stehen. Vorausgesetzt, die Leute wussten nichts von den tatsächlichen Eigentumsverhältnissen und folgten der Bürgermeisterin unbesehen, was, den Demonstrationen nach zu urteilen, wahrscheinlich war.

»Du wirst staunen, was ich noch habe«, sagte Elena irgendwann und holte Giulia damit aus ihren Gedanken. Überaus zufrieden schob sie Giulia das iPad rüber. »Das ist viel spannender als die Kommunalpolitik des winzigen Colico.«

Giulia schaute etwas konfus auf das Sammelsurium aus bunten Bildern, das sich vor ihr auftat. »Was ist das?«, fragte sie.

»Das ist das vergangene Leben des Gianmarco Andrea Marafini«, flüsterte sie weit zu Giulia herübergebeugt. »Dottore Marafini.«

»Pater Gianmarco«, entgegnete Giulia kaum hörbar. Eines der Fotos, das Elena gefunden hatte, zeigte einen jungen Mann mit Doktorhut am Tag seines Abschlusses. Er lächelte so verwegen in die Kamera, wie es nur jemand tat, der überzeugt davon war, dass ihm die ganze Welt offenstand. Die bildschöne Frau, die sich schmachtend an ihn schmiegte, komplettierte diesen Schnappschuss des Ruhmes. Auf einer anderen Aufnahme sah man einen etwas älteren Gianmarco, wie er vom Chef der Gemelli-Klinik Rom, einem der renommiertesten Krankenhäuser Italiens, per Handschlag im neuen Amt begrüßt wurde. Das Foto war Teil eines Zeitungsartikels, der anlässlich seiner Ernennung als jüngster Chefarzt für Inneres erschienen war. Das lag keine fünf Jahre zurück. Es folgten Fotografien von Ärztekongressen, diverse Urlaubsschnappschüsse, auf denen hin und wieder auch das Gesicht der gleichen Frau auftauchte, und Fotos von dem ein oder anderen gesellschaftlichen Ereignisses Roms, auf dem das Paar offenbar zu den gern gesehenen Gästen gezählt hatte. Giulia ließ sich Zeit damit, den geheimnisvollen Gianmarco ein wenig besser kennenzulernen. Als sie meinte, alles gesehen zu haben, schob sie das Tablet ein wenig von sich weg und schaute Elena fragend an. »Woher hast du das alles?«

Elena genoss diese Frage sichtlich. »Ach, Commissario, es gibt da so etwas Modernes wie das Internet, und das Schöne ist, es vergisst nichts.«

Giulia nickte verhalten.

»Der Pater hatte mal eine eigene Facebook-Seite, und obwohl er die gelöscht hat, hat man hin und wieder das Glück, einen seiner Beiträge zu finden«, erklärte Elena. »Man muss nur seine alten Freunde aufstöbern, die seine Sachen geteilt haben.«

»Schon gut«, entgegnete Giulia und bemerkte eine Portion Lasagne und einen weiteren Prosecco neben sich. Carlo musste also noch einmal da gewesen sein. »Was stimmt mit diesem Wirt nicht?«, raunte sie Elena zu.

Die zuckte mit den Schultern. »Wenn du das nicht weißt.« Ohne Giulia um Erlaubnis zu bitten, zog sie den Teller samt Besteck zu sich herüber und begann damit, die oberste Schicht vorsichtig mit ihrer Gabel von dem Unterteil zu lösen.

Giulia ließ sie wortlos gewähren. »Gibt es hier eigentlich auch etwas anderes zu trinken?«, fragte sie und winkte in Richtung Bar. Carlo, der sich gerade nicht vom TV-Gerät lösen konnte, bemerkte sie nicht. Stattdessen winkte ihr ein glücklich strahlender Herr zurück, der am Tresen lehnend auf seine Rechnung wartete.

»Das gibt den nächsten Schaumwein«, witzelte Elena an ihrem Käse kauend.

»Kannst du sehen, wieso Gianmarco seinen Facebook-Auftritt gelöscht hat?«, fragte Giulia und griff sich eines der Prosecco-Gläser.

Elena verdrehte die Augen, nahm ihr Tablet und wischte darauf herum. »Wenn ich Zuckerberg heirate, dann können wir vielleicht darüber reden, aber bis dahin müssen wir uns so helfen«, sagte sie und schob Giulia das Teil zurück. »Ich schätze mal, vor etwa einem Jahr ist der schöne Pater aus der Öffentlichkeit verschwunden. Oder meinst du, Mönche tummeln sich in den sozialen Medien? Aber abgesehen davon habe ich noch das.« Sie hielt ihr das iPad direkt vor die Nase.

Giulia stach die Überschrift des Artikels, den Elena ihr aufgerufen hatte, sofort ins Auge. »Pharmaskandal«, sagte sie ungläubig.

»Mit fünfunddreißig Jahren war der Höhenflug zu Ende«, fasste Elena kurz zusammen. »Die Zeitungen müssen seinerzeit voll davon gewesen sein. Die römische Klatschpresse hat sich das Maul über den einstigen Star des Gemelli zerrissen. Angeblich sollen sogar Leute gestorben sein, nur weil er sich auf einen lukrativen Deal mit irgend so einem Großkonzern eingelassen hat. Die schreiben, die Medikamente seien noch nicht bis zum Ende erprobt gewesen und hätten angeblich irreversible Folgen für die Nieren gehabt.«

Giulia hielt im Trinken inne und schaute Elena mit großen Augen an. »Pater Donato«, sagte sie leise.

Elena nickte stumm.

»Gianmarco tut Buße«, murmelte Giulia, die das leere Glas noch in der Hand hielt.

»Na ja«, entgegnete Elena, »nach der Nummer ist er jedenfalls als Arzt verbrannt. Ansonsten womöglich auch. Da ist eine Flucht ins Kloster, noch dazu hier im Norden, nicht das Schlechteste, wenn man das mag.«

»Auf so etwas wäre ich nicht gekommen«, sagte Giulia. »Das ist ja schrecklich. Allerdings frage ich mich, wieso er nicht im Gefängnis sitzt? Es muss doch ein Strafverfahren gegeben haben.«

»Da du jetzt ohnehin keinen Hunger mehr hast, kann ich das sicher haben«, schmatzte Elena. »Wahnsinnig lecker, das Zeug. Auch wenn Carlo die gepflegte Unterhaltung nicht erfunden hat, Lasagne kann er.«

»Elena, hast du was zu einem Gerichtsverfahren gefunden?«, hakte Giulia etwas energischer nach.

Elena schüttelte kauend den Kopf. »In den Medien stand immer nur, dass sie ermitteln. Aber die Artikel sind wie gesagt schon älter. Über eine Verurteilung habe ich nichts gelesen, aber das muss ja nichts heißen. Bei der Staatsanwaltschaft brauche ich jedenfalls nicht anfragen, also nicht auf direktem Weg … Und dann auch noch in Rom.« Sie blies ihre Wangen auf. »Da können wir Jahre warten, bis wir eine Antwort bekommen.«

»Mhm.« Giulia wusste sehr wohl, wie schleppend und vor allem unwillig die Staatsanwaltschaften bei so einer Anfrage arbeiteten. Die reine Mutmaßung, dass Pater Gianmarco oder Gianmarco Andrea Marafini, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, in einen Mord verwickelt sein könnte, genügte da nicht. Sie brauchten schon etwas Handfestes. Und vor allem brauchten sie die Zorzi mit ihren hervorragenden Kontakten in die Hauptstadt.

Elena hing tief über ihrem Teller und wackelte begeistert mit ihrem Kopf, während sie inbrünstig kaute. »Das ist fantastisch. Ich verstehe überhaupt nicht, dass du nichts essen wolltest«, sagte sie.

Carlo schien das gehört zu haben, denn er ließ kurzzeitig von seinem Fußballspiel ab und nickte den beiden zufrieden zu.

Giulia stellte das leere Glas vor sich ab und griff, ohne darüber nachzudenken, zum nächsten. »Ein Arzt und ein Patient, der durch dessen Gier dem Tod geweiht ist, da liegt also die enge Verbindung zwischen den beiden«, murmelte sie.

»Dann ergibt es aber keinen Sinn, ihn umzubringen«, warf Elena ein. »Er stirbt ja ohnehin bald. Gianmarco kann fast die Tage zählen.«

Und wenn es gerade Sinn ergibt?, dachte Giulia. Pater Donato ist Gianmarcos personifiziertes schlechtes Gewissen. Er steht stellvertretend für womöglich viele andere falsch behandelte Patienten. Pater Donato jedoch verzeiht dem jungen, etwas zu ehrgeizigen Arzt. Mehr noch, er eröffnet ihm eine neue Perspektive im Leben. Nach allem, was sie über Donato gehört hatten, passte dieses Verhalten zu ihm. Gianmarco, der vermutlich vor den Trümmern seiner Existenz steht, lässt sich darauf ein. Er geht nach Piona, wohl wissend, dass Donato ihm folgen wird. Die beiden Männer werden womöglich sogar Freunde. Aber dann passiert etwas Unvorhergesehenes. Donatos Schwester Fiora taucht auf. Dem Familienunternehmen der Ogliaris geht es schlecht. Donato will ihr helfen, aber womit? »Schadensersatz«, sagte Giulia, das Ergebnis ihrer Überlegungen laut aussprechend. Was, wenn Donato plötzlich eine Entschädigung von Gianmarco wollte, auf die er vorher verzichtet hatte? Eventuell hat er ihm auch nur Vorwürfe gemacht. Jetzt, wo seine Schwester ihn dringend brauchte, konnte er ihr nicht beistehen. Donatos Sichtweise auf die Dinge könnte sich seit dem Besuch seiner Schwester verändert haben. Gianmarco, der vielleicht endlich sein Trauma überwunden hatte und irgendwo angekommen war, könnte die plötzliche Veränderung seines Freundes schwer zugesetzt haben. Irgendwann will er nur noch, dass dieser Albtraum aufhört, und schlägt zu. Dass er sich die Axt nicht direkt aus der Scheune geholt hatte, war allerdings verwunderlich. Auch die Sache mit dem Pfirsichbaum schien nicht zu passen.

»Schadensersatz?«, fragte Elena, »Meinst du? Mhm. Möglich ist es. Natürlich nur, wenn die Sache nicht ausgeurteilt ist.«

»Auch so. Die beiden hätten sich privat einigen können. Das kriegst du raus«, sagte Giulia.

»Aber woher soll Gianmarco das Geld dafür haben?«, hakte Elena ein. »Wenn er seinen Job verloren hat …«

»Auch das kriegst du raus.« Giulia nickte Elena auffordernd zu. »Fang bei seinen Eltern an. Nach allem, was du mir gerade gezeigt hast, gehören die Marafinis zur römischen Oberschicht.«

»Und was machst du so lange?«, wollte Elena mit gespielter Empörung wissen. »Während ich mich verausgabe.«

»Ich besuche den Abt und stelle ihm ein paar Fragen, zum Beispiel warum Gianmarco noch immer Gianmarco heißt, obwohl ein Mönch doch eigentlich mit dem Ablegen seines Ordensgelübdes alles Weltliche hinter sich lässt. Aber vorher versuche ich, bei Carlo einen Espresso zu ergattern. Vielleicht tauscht auch einer der Gäste seinen gegen einen Prosecco.«

***

»Nach einem langen, beschwerlichen Arbeitstag bei der Kriminalpolizei geht doch nichts über ein anständiges Essen und einen guten Schluck Wein.« Carmelo Riso stand breitbeinig in der Tür des Bistros und genoss sichtlich seinen Auftritt, zumindest bis zu jenem Moment, in dem er Giulia und Elena entdeckte.

»Giuli«, rief er mit erhobener Hand, weniger aus Freundlichkeit, sondern eher darum bemüht, die peinliche Situation zu überspielen. Noch in der Bewegung begriffen blieb sein Blick an den fünf Prosecco-Gläsern auf dem Tisch der beiden hängen. Er stutzte unübersehbar und wandte sich genant ab.

»Er hat noch nicht einen Fuß in die Questura gesetzt, da weiß jeder von deinem Alkoholproblem«, spöttelte Elena, wobei sie ihre drei unangerührten Gläser vorsichtig zu Giulia hinüberschob. »Ich habe damit nichts zu tun.«

»Sollte er heute überhaupt noch ins Büro fahren«, gab Giulia zurück. »Nach dem langen Arbeitstag.« Sie deutete mit vor den Mund gehaltener Faust ein Aufstoßen an. »Hicks.«

»Es ist zwei Uhr nachmittags«, antwortete Elena amüsiert. »Eben«, erwiderte Giulia. »Ich vermute mal, er wird seine Frau Tilda aufsuchen, und dann melden die beiden sich für einen Puppenspielerkurs an.«

»Haben die den nicht schon gemacht?«, wollte Elena spitzzüngig wissen.

Die Eheleute Riso waren gemeinhin bekannt für ihre vielfältigen Interessen und die Kurzlebigkeit der Begeisterung, mit der sie diesen nachgingen. Gestern war es Ballettunterricht, heute tibetanische Gesänge und morgen veganes Kochen, die Risos waren umtriebig. Und sie stürzten sich in all diese Beschäftigungen mit einer Intensität, als gäbe es kein Morgen mehr, zumindest solange das Strohfeuer loderte. Carmelo ließ dafür sogar alles stehen und liegen, insbesondere seine beruflichen Verpflichtungen.

Giulia lachte auf. »Nein, das war der Nähkurs für voll recyclingfähige Teddybären«, jauchzte sie.

Elena wollte etwas darauf erwidern, aber weil es an ihrem Tisch die einzig noch freien Plätze gab, die von den Kollegen gerade angesteuert wurden, biss sie sich glucksend auf die Zunge.

»Das ist heute wieder ein Stress, vor allem nach dem Sonntagsdienst«, erklärte Riso unter angestrengtem Schnaufen. »Und wenn man so unter Zeitdruck steht.« Er machte ein Gesicht, als ob er sich selbst bedauerte. »Irgendwann muss ich kürzertreten. Das steht fest.«

Marco und Anteo, seine Mitarbeiter, schauten sich nur betreten an.

»Lasagne?« Carlo stand wieder unbemerkt neben dem Tisch. Sein Fernsehkonsum schien angesichts der drei neuen Gäste ins Hintertreffen geraten zu sein. Er witterte ein außerplanmäßiges Geschäft. Das konnte man ihm an der Nasenspitze ansehen. Den Prosecco, den er wie nebenbei vor Giulia abgestellt hatte, beachtete sie schon überhaupt nicht mehr.

»Was gibt es noch?«, fragte Riso, bevor jemand anderes etwas sagen konnte.

»Lasagne«, entgegnete Carlo, und es klang wie eine Kampfansage.

Den beiden Kriminaltechnikern schien das nichts auszumachen, im Gegenteil.

Nur Riso war unschlüssig. »Ohne Zusatz von Eiern und Nüssen?«, fragte er den Wirt. »Ungeschälte Tomaten vertrage ich auch nicht so gut. Sind welche drin?«

Carlo drehte sich zur Küchentür um, als bekäme er dort die Antwort auf diese Fragen, und wendete sich im nächsten Augenblick wieder langsam Riso zu. »Also dreimal Lasagne«, sagte er entschlossen.

»Mhm. Und Ihren Hauswein, einen roten«, bestellte Riso. »Ein halbes Glas, sonst werde ich zu müde.« Beim letzten Satz checkte er schon die Nachrichten auf seinem Mobiltelefon.

Carlo richtete seine ungläubigen Augen auf Giulia. Die zuckte nur mit den Schultern. Schließlich stapfte er davon, und man hörte ihn irgendetwas Unflätiges murmeln.

»Habt ihr noch etwas?«, fragte Giulia den Kriminaltechniker Marco, der neben ihr saß.

Der verneinte zurückhaltend. »Nur Zweifel«, sagte er.

»In welcher Hinsicht?«, wollte Giulia wissen.

»Wenn sich Ihre komplette Existenz in einem Kleinbus befände, kämen Sie dann auf die Idee, ein Fenster offen zu lassen?«

»Mhm. Das kann auch Schusseligkeit gewesen sein«, entgegnete Giulia.

Den Kollegen schien das nicht zu überzeugen. »Bei dem Wind, den der Mann um seine Ausrüstung gemacht hat, vor allem um seine Puppen, mag ich das nicht so richtig glauben. Wenn Sie mich fragen, ist der Typ nicht koscher. Der steht noch immer vor dem Hotel und blafft die Leute an. Wieso sieht er nicht zu, dass er nach Hause kommt? Ich meine, die Übernachtungen kosten doch etwas, und er wird ja kaum seine Tournee fortsetzen können, so ohne Darsteller.« Giulia war es, als ob er ein wenig die Nase rümpfte. »Stattdessen hat man den Eindruck, er genießt die Show sogar, zumindest scheint er den Anschlag als eine Werbung für sich und seinen Kindergarten …« Der Mann biss sich auf die Lippen und schaute unsicher zu Riso. »Na ja, sein Theater zu begreifen.«

Giulia hörte sich alles schweigend an.

Carlo brachte den Wein. Einen Prosecco hatte er auch dabei.

»Seine Schwester ist noch schlimmer«, mischte sich sein Kollege Anteo ein. »Die ist richtig hysterisch geworden, als wir den Bus auseinandergenommen haben.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Dabei war der ganze Müll doch ohnehin hinüber. Und alles, was die Flammen nicht plattgemacht haben, hat dann das Wasser erledigt. Bei den Mengen muss einer einen Schlauch in den Wagen gehalten haben.«

»Seltsame Leute«, bestätigte Marco. »Aber das hat mir meine Freundin schon erzählt. Die hat das Teatro mal in Lecco erlebt. Da hat der Veranstalter mit Mühe und Not ein paar aufgebrachte Gäste zurückhalten können. Die hatten den Burschen schon am Kragen und hätten ihn vermutlich windelweich geprügelt. Und seine Schwester hatte nichts Besseres zu tun, als das Ganze noch anzuheizen.«

»Dann würde es mich nicht wundern, wenn die Nachbarschaft erst einmal in aller Ruhe zugeguckt hätte, wie das mobile Teatro abfackelt«, erwiderte Anteo. »Bei der engen Bebauung fällt so ein Feuer doch auf, das Licht, der Gestank, und immerhin sind auch einige Scheiben zerborsten …«

Marco nickte.

Dann schauten beide fragend zu Giulia. Die dachte an die Aussagen des Nachtportiers und schwieg. Wenn das Feuer auf diese Weise gelöscht worden war, konnte es nur jemand aus der direkten Nachbarschaft gewesen sein, zwanzig, maximal fünfzig Meter entfernt. Kriegte man das unbemerkt hin? Und vor allem: Wieso hat derjenige nicht im Hotel Bescheid gesagt? Jeder wusste, dass der Bus den Puppenspielern gehörte, noch dazu, da alle Seiten des Wagens mit entsprechender Werbung beklebt waren. Giulia wurde das Gefühl nicht los, dass der Portier log. Abgesehen davon verfügten Hotels für gewöhnlich auch in ihrem Empfangsbereich über Feuerlöscheinrichtungen. Für den Mann wäre es dementsprechend ein Leichtes gewesen, zu helfen und den Besitzer des Autos zu informieren. Warum er stattdessen vorgab, ahnungslos zu sein, konnte sie nicht verstehen.

»So!« Riso legte sein Handy auf den Tisch und lächelte zufrieden in die Runde. »Nächste Woche sind Tilda und ich im Puppenspielerkurs bei Romualdo Pierantognetti. Er hat extra für mich ein Zeitfenster aufgetan. Und das für einen Spottpreis. Dreihundert Euro für achtzig Minuten. Tilda wird begeistert sein.« Er hatte nicht zugehört, aber das war nichts Neues.

»Geschäftstüchtig ist er ja«, bemerkte Elena nüchtern.

Und dreist auch, dachte Giulia. Immerhin sollte man meinen, dass so ein Kurs auch Puppen brauchte. Aber so clever wie die Puppenspieler waren, würde er Riso dieses Manko ausschweifend und absolut glaubhaft begreiflich machen, und der würde sich damit auch noch gut fühlen.

Riso entgegnete nichts, sondern stand auf, nahm sein Handy und verließ das Bistro.

»Er ruft Tilda an«, bemerkte Marco grinsend. »Die Überraschung muss verkündet werden.«

»Habt ihr es geschafft, Cotoletto anzusehen?«, beeilte sich Giulia zu sagen. Sie wusste, dass die Männer sich im Beisein ihres Chefs mit etwaigen Aussagen immer zurückhalten würden. Sie ließen ihm, wie es sich gehörte, nicht nur den Vortritt, sondern sie achteten auch peinlich genau darauf, ihn nicht in seiner Unwissenheit bloßzustellen. Nur nützte das Giulia wenig. Sie brauchte die Ergebnisse zügig und nicht erst dann, wenn Riso einfiel, dass er ihr noch etwas schuldig war.

Die beiden Männer warfen sich einen wenig überraschten Blick zu. »Der Bericht liegt seit heute früh beim Chef«, sagte Marco. »Auch über die Spurenlage im Kloster. Wir haben extra Überstunden gemacht.«

»Was steht drin?«, fragte Elena weit über den Tisch gebeugt.

»Wer oder was ist überhaupt Cotoletto?«, fragte Anteo.

»Handpuppe im Drachenkostüm«, entgegnete Elena, die gerade die verbliebene Soße auf dem Teller mit ihrem Löffel aufnahm. »Der ist hier am See mindestens so bekannt wie George Clooney.«

»Mhm.« Die Männer schienen nicht so recht überzeugt.

»Fingerabdrücke auf Plüsch? Na ja,«, sagte schließlich Marco und schüttelte dabei den Kopf.

»Irgendetwas anderes?«, hakte Giulia ungeduldig nach.

»Ein paar Fusseln, aber das ist müßig«, antwortete er, wobei er seine Stirn so sehr in Falten legte, dass man ihm ansehen konnte, dass er die Handpuppe überhaupt nicht mehr auf dem Schirm hatte.

»Auf den Augen«, half ihm Anteo auf die Sprünge.

»Ach so«, entgegnete Marco und tippte sich mit dem Schaft seines Messers an die Stirn. »Jemand hat die Glasaugen dieses Tierchens geküsst. Wir haben Abdrücke von Lippen gefunden.«

Elenas ungestümes Lachen hallte durch das ganze Bistro, was die Aufmerksamkeit sämtlicher Anwesenden auf ihren Tisch lenkte.

»Seid ihr sicher?«, fragte Giulia.

»Mit Lipgloss«, bestätigte Marco, wobei er aussah, als hätten ihn Giulias Zweifel ein wenig beleidigt.

»Ich staune nur, was ihr alles findet«, gab Giulia beschwichtigend zurück.

Die Kollegen nickten zufrieden. »Dafür gibt es aber keine Datenbank, das kommt einfach zu selten vor«, sagte Anteo.

»Obwohl Lippenabdrücke ebenfalls individuell sind, also Commissario, wir brauchen nur Gegenproben«, schmunzelte Marco.

»Dann musst du jetzt Kussproben nehmen, Commissario«, witzelte Elena.

Giulia war nicht zum Lachen zumute. Sie fragte sich, mit was für Absonderlichkeiten sie es in diesem Fall noch zu tun bekommen würde. Wer, wenn nicht ein Kind, küsste denn eine Puppe? Spontan fielen ihr da nur die Puppenspielergeschwister ein. Beide waren exzentrisch genug, um so etwas zu tun. Das wiederum sprach dafür, dass sie den echten Cotoletto am Eingang der Abtei gefunden hatten.

Elena schaute aus dem Fenster. Riso lief mit dem Telefon am Ohr den Gehweg auf und ab. Giulia entging dies ebenfalls nicht. Sie hatte also noch etwas Zeit, nach der Spurenlage im Kloster zu fragen.

»Im Zimmer des Opfers …«, hob Marco an.

»In seiner Zelle«, verbesserte sein Kollege.

»Meinetwegen«, konterte Marco. »Jedenfalls haben wir dort Fingerabdrücke von diesem anderen Pater, diesem Gianmarco, gefunden.«

»Wo genau?«, hakte Giulia nach.

»An der Tür und am Stuhl«, antwortete Anteo. »Der Abt muss auch drin gewesen sein. Seine Spuren waren auf dem Schreibpult und an dem Koffer unter dem Bett«, fuhr er fort.

»Am Koffer?«, fragte Giulia ungläubig. »Der Abt, ganz sicher?« In dem Koffer befanden sich die sehr persönlichen Sachen des Opfers. Was hatte der Abt daran zu suchen gehabt?

Die Männer nickten einmütig.

»Habt ihr ein Tagebuch gefunden oder irgendetwas anderes von Belang?«, wollte Giulia weiterhin wissen.

»Kein Tagebuch, Commissario«, entgegnete Anteo. »Dafür war unser Opfer nicht der Einzige, der sich um die Bienen gekümmert haben muss. An den Bienenkästen waren Spuren von jemand anderem, allerdings nicht von einem der Mönche.«

Giulia erstaunte das. Sollte Donato doch jemanden an seinen Bienen überrascht haben? Womöglich einen von denjenigen, auf deren Konto die anderen Übergriffe auf die Abtei gingen? Dann fiel ihr Armando ein. Brutus hatte gesagt, er hätte gestern nach den Bienen gesehen. Womöglich hatte er das zuvor schon mal getan. Sie schaute hinüber zu den anderen Tischen, aber Armando war verschwunden. »Was gibt es zur Mordwaffe?«, wollte sie wissen.

»Ohne Zweifel, es war die Axt, die wir an dem Pfirsichbaum gefunden haben«, entgegnete Marco. »Das Blut daran stammt definitiv vom Opfer. Fingerabdrücke sind jedoch Fehlanzeige.« Er kratzte sich am Kopf. »Ach, übrigens, Commissario, die Mönche bewahren die Gartengeräte in einem Seitentrakt der Scheune auf. Dort an der Wand hängen ein halbes Dutzend dieser Äxte, nach Größe sortiert …«

»Ordnung halten die Kerle, das muss man ihnen lassen«, warf Anteo ein. »Aber wenn die den ganzen Tag nur beten und arbeiten, kann das schon sein.«

Carlo kam mit drei Tellern Lasagne angesaust und verteilte sie auf dem Tisch. Angesichts des leeren Stuhles zuckte er kurz, stellte die Bestellung trotzdem ab, hielt inne und schob den Teller schließlich zu Giulia rüber. »So wie Sie aussehen, vertragen Sie ungeschälte Tomaten«, knurrte er. »Greifen Sie zu! Lasagne ist Nervennahrung. Und bei dem Umfeld scheinen Sie die dringend zu brauchen.« Es folgte ein flüchtiger Blick zu Risos leerem Platz. Noch ehe Giulia auf seine Worte reagieren konnte, war er schon wieder verschwunden. Zu dem ersehnten Espresso würde sie es in diesem Laden heute unter Garantie nicht mehr bringen.

Die Kriminaltechniker freuten sich über den vorwitzigen Wirt und begannen zu essen.

»Welche Axt fehlt?«, fragte Giulia und griff nun auch zu ihrem Besteck.

»Die zweitgrößte«, antwortete Anteo mit halb offenem Mund. Der Bissen, den er sich gerade voller Appetit in den Mund geschoben hatte, musste heiß gewesen sein.

»Das bedeutet, der Täter wusste, wo er zu suchen hatte, und hat sich freimütig bedient«, schlussfolgerte Giulia.

»Schließen die Mönche nicht einmal die Scheune ab?«, fragte Elena dazwischen. »Das ist ja fast etwas zu viel des Guten.«

»Doch. Das Vorhängeschloss war unversehrt«, erklärte Marco. »Derjenige muss zu einem der hinteren Fenster reingekommen sein. Das war nur angelehnt.«

»Dann wusste unser Mörder aber sehr wohl, was er tut«, warf Elena ein.

»Keine Frage«, bestätigte Marco. »Das war keine zufällige, ungeplante Tat.«

»Mhm.« Giulia war ein wenig unzufrieden. Der Täter hatte sich erst die Mordwaffe organisiert, war damit in den Garten gegangen und hatte dann Donato aufgelauert. Er muss also gewusst haben, dass er kommen wird. Womöglich waren sie sogar verabredet gewesen. Oder aber – und das erschien ihr insbesondere im Hinblick auf die Spuren an den Bienenstöcken wahrscheinlicher – er hat Donatos Sorge um die Tiere dazu genutzt, ihn herbeizulocken. Schlussendlich muss er also nicht nur über Donatos Leidenschaft für die Imkerei, sondern auch von dem schon einige Zeit andauernden Vandalismus gewusst haben. Aber das war noch nicht alles. Er musste auch sichergehen, dass Donato ihn bei den Bienen bemerken würde. Die zwingende Vorrausetzung dafür war die Kenntnis seiner Zelle und deren in Richtung Garten liegendem Fenster. Donato hatte von seinem Schreibtisch aus einen unverstellten Blick auf den Garten und vor allem auch auf die ihm anvertrauten Tiere gehabt.

»Es gibt da noch etwas, Commissario«, redete Marco weiter. »Das Scheunenfenster ist nicht gerade niedrig, sodass unser Täter etwas klettern musste, um da reinzukommen, inklusive eines Sprunges ins Innere. Damit hat er auf dem sandigen weichen Boden einen schönen Fußabdruck hinterlassen.«

Giulia machte große Augen.

»Na, zumindest wissen wir, dass unser Mann keine besonders großen Füße hat«, warf Anteo ein. »Schuhgröße zweiundvierzig ist nicht gerade üppig.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten, streckte sein rechtes Bein unter dem Tisch vor und betrachtete es schmunzelnd. »Also für jemanden, der Größe sechsundvierzig trägt.«

»Bei so kleinen Füßen dürfte unser Eins-neunzig-Mann regelmäßig umfallen«, bemerkte Elena trocken. »Irgendetwas haut da verdammt noch mal nicht hin.«

Giulia hatte dem nichts hinzuzufügen.

***

»Die De Angelis hat Sie geschickt?«, fragte Armando mit auf der Brust liegendem Kinn und misstrauischem Blick. Er stand eingehüllt von den bunten Bändern eines Fliegenvorhangs in der Tür des kleinen Hauses und schien mit sich zu hadern, ob er Giulia hereinbitten sollte. Elena war mit den Kollegen von der Kriminaltechnik nach dem Mittagessen zurück nach Lecco gefahren, um sich im Büro den ausstehenden Rechercheaufträgen zu widmen, sodass Giulia allein in Colico zurückgeblieben war. Mit Carlos Beschreibung war es kein Problem gewesen, Armandos Haus zu finden.

»Wieso sollte sie das tun?«, fragte Giulia, die sich nicht erklären konnte, warum Armando eine solche Abneigung gegen Tiziana hegte. Ohne Frage war die Alte ein Tausendsassa von schonungsloser Offenheit, die nichts und niemanden fürchtete, aber sie war im Kern ein guter Mensch.

»Sie ist eine Hexe«, entgegnete Armando mit der Neunmalklugheit eines Kindes.

»Wie dem auch sei, mich hat niemand geschickt«, antwortete Giulia.

Armando zuckte mit seinen breiten Schultern.

»Ich habe ein paar Fragen an Sie. Darf ich reinkommen?«, redete Giulia weiter und ertappte sich dabei, wie sie Armandos Füße betrachtete. Besonders klein erschienen die ihr nicht, aber bei den Latschen, die er trug, ließ sich das schlecht schätzen.

Er schob seine Unterlippe vor und schüttelte heftig den Kopf. »Meine Mutter«, sagte er, als ob das alles erklären würde. »Ich könnte Ihnen meine Kaninchen zeigen«, bot er an.

Giulia willigte ein.

Keine Minute später standen sie in einem winzigen Hinterhof vor einem Kaninchenstall, aus dem Armando den Wiener Sylvester, wie er Giulia erklärt hatte, herausnahm und ihn ihr zum Streicheln entgegenhielt. »Ich züchte die Rasse, schon immer«, sagte er.

Giulia kraulte dem Tier den Kopf. »Lassen Sie uns über die Abtei reden, Armando«, bat Giulia. »Sie helfen dort hin und wieder aus?«

Sein Blick lag auf Sylvester. »Wenn ich gebraucht werde, ja. Im Kloster gibt es viel zu tun. Da muss ich mit anpacken, ich grabe den Garten um oder mache ein paar Botendienste mit dem Auto«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Was gerade anfällt.« Leicht geduckt schaute er zum Haus, doch dort war alles still. »Das Geld können wir gut gebrauchen.«

»Haben Sie Pater Donato bei den Bienen geholfen?«, fragte Giulia weiter.

Er drückte das Tier fest an sich. »Manchmal«, murmelte er kaum verständlich in dessen Fell. »Gestern. Es muss sich doch jemand kümmern, nach Donatos Tod. Die anderen Mönche kennen sich nicht so aus, wissen Sie. Aber Bienen sind hochsensible Tiere. Sie spüren, dass etwas nicht stimmt.«

»Und Sie kennen sich aus?«, wollte Giulia wissen.

Er ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ein bisschen.«

»Haben Sie eigene Bienen?« Giulia schaute sich um, aber es gab hier nur die Kaninchen, eine Bank und ein paar Blumenkübel, und nichts deutete auf eine Hobbyimkerei hin.

»Wir haben keinen Platz«, entgegnete Armando kaum hörbar. »Und meine Mutter will das auch nicht. Sie hat Angst, dass sie gestochen wird. Dabei sind Bienen so liebenswürdig. Sie stechen nur, wenn sie sich angegriffen fühlen. Aber das verstehen die Menschen nicht. Sie zappeln umher oder schlagen die Tiere weg, und zack, schon ist das Malheur passiert.« Je mehr er sagte, umso auffälliger kam die Plaudertasche, der nassforsche Armando, als den Giulia ihn kennengelernt hatte, hervor. »Mein Vater hatte ein paar Stöcke im Garten eines Freundes. Von ihm habe ich alles gelernt. Aber seitdem er nicht mehr ist …«

»Mit Ihrem Wissen waren Sie Pater Donato eine große Hilfe, möchte ich meinen«, erwiderte Giulia.

»Mhm. Vielleicht.« Armando wurde schlagartig wieder zurückhaltender.

»Hat er so etwas niemals gesagt?«, hakte Giulia nach.

Armando erstarrte und blieb stumm.

»Signore Armando?«, sprach Giulia ihn erneut an.

»Der Pater wollte nicht, dass jemand an seine Bienen geht. Da war er sehr eigen«, gab er schließlich gequält zu. »Er ist sogar einmal richtig ungehalten geworden. Dabei war ich es, der sich nach Pater Ludovicos Tod um die Stöcke gekümmert hat. Aber kaum zog Donato in die Abtei, war ich abgeschrieben.« Dass ihn das heute noch ärgerte, konnte er nicht verstecken.

»Dann waren Sie und Pater Donato nicht gerade Freunde?«, hakte Giulia nach.

»Mhm.«

»Armando!« Ein unangenehm spitzer Schrei durchbrach das Schweigen. »Wer ist die Frau? Was will sie hier?« Eine von ihren Lebensjahren gebeugte, gänzlich in schwarz gekleidete Frau stand im Eingang zum Hof und schaute misstrauisch auf Giulia.

»Meine Mutter«, hauchte Armando. Diese Erklärung hätte es jedoch nicht gebraucht, denn er war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. »Eine Züchterin, Mama, sie kommt wegen Sylvester«, rief er schleunigst. »Ich habe ihn doch zur Zucht bereitgestellt.«

Die Alte schien davon nicht sehr überzeugt. Sie bewegte sich nicht, sondern starrte Giulia weiterhin an. Erst auf deren freundlichen Gruß hin wandte sie sich ab, schimpfte irgendetwas von »Schweinkram« und verschwand wieder im Haus.

Armando atmete tief aus. »Sie hat es nicht leicht, seitdem mein Vater gestorben ist«, erklärte er.

Du aber auch nicht, dachte Giulia bei sich. »Wie war Ihr Verhältnis zu Donato?«, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.

»Ich glaube, er mochte mich nicht«, gestand Armando unzufrieden. »Dabei bin ich ihm nie in die Quere gekommen. Niemals, das schwöre ich.« So eilig, wie er es mit diesem Schwur hatte, entsprach das Gegenteil eher der Wahrheit, zumal Armando nach allem, was Giulia bisher erlebt hatte, kaum jemand war, der sich lange zurückhalten konnte. »Es gibt heute einfach schon neue Erkenntnisse, auch was die Krankheiten angeht. Man muss nun mal auch in der Imkerei mit der Zeit gehen«, fügte er noch deutlich impulsiver an. »Nicht immer sind die althergebrachten Dinge die besten. Aber wenn man nicht offen ist für Neues, kriegt man das natürlich nicht mit.« Seine Mimik hatte nun etwas Verdrießliches.

Giulia nickte. »Hatten Sie Streit deswegen?«

»Mhm.« Schweigen. »Nicht so, wie Sie denken«, murmelte er.

»Wie denke ich denn?«, wollte Giulia wissen.

»Na ja, Streit eben«, entgegnete er. »Mit dem Pater konnte man nicht streiten. Wenn er mit irgendetwas nicht einverstanden war, hat man es ihm angesehen. Das genügte, das können Sie mir glauben. Ich habe mich dann immer gleich verzogen. Leise Menschen sind schlimmer als laute.« Sein flüchtiger Blick fiel auf die Tür, hinter der seine Mutter gerade verschwunden war.

»Wann haben Sie Donato zum letzten Mal gesehen?«, wollte Giulia wissen.

Er schaute sie mit großen Augen an. »Ich habe nichts mit dem Mord zu tun, Commissario. Wirklich nicht«, haspelte er. »Wir waren nicht gerade befreundet, aber ich habe ihm nichts getan. Er war doch ein Mönch.«

»Wann?«, insistierte Giulia.

»Am Samstag«, gab Donato kleinlaut zu. »Ich bringe auf meiner Posttour die Wäsche aus der Stadt mit. Donato war im Garten bei den Johannisbeeren …«

»Bei den Johannisbeeren?«, platzte es aus Giulia heraus, womit sie Armando ungewollt unterbrach.

Er stockte. »Ja, wieso?«

Giulia winkte ab. »Nur so. Ich habe mich bloß gewundert, die Beerenernte ist doch lange vorbei«, sagte sie. Der intensive Johannisbeergeruch in Donatos Haaren hatte also noch einen Grund. Giulia hatte sich schon gewundert, wie ein kurzes Touchieren der Büsche so hartnäckige Spuren in seinen Haaren hinterlassen haben konnte.

»Er hat die Blätter geerntet. Getrocknet ergeben sie einen prima Nierentee. Meine Mutter trinkt den auch regelmäßig«, erklärte Armando arglos. »Hin und wieder hat er mir auch einen Beutel mitgegeben, für meine Kaninchen. Besonders Sylvester mochte den Geschmack.« Er streichelte das Tier liebevoll.

»Haben Sie denn am Samstag mit ihm gesprochen?«, fragte Giulia. Der Nierentee hätte dem armen Mann nur leider nichts mehr genützt.

Er verneinte das entschieden. »Nur einen kurzen Gruß. Ich bin nicht in den Garten, wenn er dort war«, murmelte er. »Ich wollte ihn nicht verärgern.«

»Aber Sie waren im Haus?«, sagte Giulia.

Armando nickte verhalten. Er schien offenkundig nicht zu wissen, auf was sie hinauswollte. »Natürlich. Ich bringe die Post zum Abt ins Büro und trage die Wäsche in die Kammer.« Die Worte kamen nur langsam über seine Lippen, als müsste er sie sorgsam abwägen, um nichts Falsches zu sagen.

Giulia nahm dies zur Kenntnis. Armando gehörte also zu den Menschen, die sich frei in den Gebäuden und auf dem Gelände bewegen konnten. Entsprechend kannte er sich aus. »Mussten Sie auch mal in die Zellen der Mönche, um etwas abzuholen oder zu bringen?«, fragte sie mit weicher Stimme.

Armando presste die Lippen zusammen und starrte ins Leere.

Giulia überging sein Schweigen. Es war ihr Antwort genug. »Wo waren Sie in der Nacht von Samstag auf Sonntag?«, fragte sie weiter.

Er blieb noch immer stumm.

»Armando?«

Keine Reaktion.

»Wie denken Sie eigentlich über die Pläne der Bürgermeisterin bezüglich der Pfirsichplantage?« Giulia wechselte das Thema in der Hoffnung, das würde ihn wieder gesprächiger machen.

Tatsächlich schien es zu wirken. Seine Augen wurden immer größer. Er drückte sein Gesicht tief in das Fell des Kaninchens und setzte es schließlich behutsam zurück in seinen Stall. »Die Bürgermeisterin ist eine kluge Frau. Man merkt, dass sie für die Gemeinde wirklich etwas bewegen will. Ihr Vorgänger«, er blies die Wangen auf, »na ja, der war nicht so modern«, sagte er, und es war unüberhörbar, dass er eigentlich etwas Deutlicheres sagen wollte, sich jedoch klugerweise gezügelt hatte. »Ja, ja, das Hotel. Es ist nicht so, dass ich die Idee nicht gut finde, andere Gemeinden haben auch diese Fünf-Sterne-Häuser. Das macht schon was her, aber …« Er seufzte. »Piona ist doch schon immer da. Und die Pfirsiche auch. Darüber kann man doch nicht einfach so hinweggehen. Ich jedenfalls würde mich nicht mit der Kirche anlegen.« Er bekreuzigte sich. »Das gehört sich einfach nicht.«

»Aber die Puppenspieler tun es, und das mehr als deutlich«, erwiderte Giulia. Sie hatte mitbekommen, dass Armando zu den überzeugten Anhängern gehörte, und fragte sich, wie das zusammenging.

»Das ist Kunst«, antwortete Armando mit außerordentlicher Entschiedenheit. »Die darf das.«

»Aha«, entgegnete Giulia einigermaßen verwundert. »Dann fanden Sie es nicht seltsam, dass die Puppenspieler am Samstag ein Stück gespielt haben, das sich nur wenige Stunden später bewahrheitet hat?«

»Dafür können Paola und Romualdo doch nichts«, empörte er sich.

»Und Sie fanden diesen Zufall«, Giulia überbetonte das letzte Wort, »nicht merkwürdig?«

»Mhm.« Armando stierte auf seine Schuhspitzen. »Vielleicht irgendwie«, murmelte er. »Normalerweise passiert das nicht. Die beiden erzählen Geschichten aus dem Leben von uns Comaschi, wahre Geschichten. Mord kommt da nicht vor. So etwas würde ich auch nicht …« Er biss sich auf die Zunge.

»So etwas würden Sie den Puppenspielern auch nicht zutrauen«, vollendete Giulia seinen angefangenen Satz. Sie hatte sich etwas in der Art schon gedacht. Armando, der militante Verehrer des Teatro und über alles informierte Postbote, gehörte zu denjenigen, ohne die den Pierantognettis der Stoff ausging.

Er schüttelte zackig den Kopf. »Ich konnte nicht wissen, was Paola und Romualdo daraus machen. Das ist alles furchtbar. Ich bin doch auf der Seite des Klosters. Niemals würde ich …« Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Ich dachte, Romualdo ist mein Freund.«

So war das also, dachte Giulia. Der Puppenspieler sollte Partei für das Kloster ergreifen, aber das wäre ihm aufgrund seiner Antipathie niemals in den Sinn gekommen. Da hatte Armando wohl nicht richtig aufgepasst, denn Giulia konnte sich nicht vorstellen, dass das Teatro jemals mit seiner Meinung über die Kirche hinter dem Berg gehalten hatte. Konnte man wirklich so naiv sein? Und dann traf es auch noch ausgerechnet den Bienenfreund Donato, der Armando den Zugang zu den geliebten Tieren verweigerte. »Armando, ich möchte, dass Sie sich spätestens morgen früh in der Questura melden und Ihre Fingerabdrücke abgeben«, bat Giulia.

»Ich habe Pater Donato nichts getan, Commissario. Wirklich nicht«, versicherte er schwer atmend und mit glasigen Augen. »Er war doch ein Mönch.«

***

Abt Benedetto saß auf der Bank am Ende des Pfirsichgartens und beobachtete das Treiben auf dem See. Neben ihm lagen ein aufgeschlagenes Buch und ein paar Zweige mit Blättern. Ein Boot schipperte recht nah am Uferrand vorbei, wobei einer der beiden Männer darauf ziemlich viele Verrenkungen machte, um mit seiner fetten Kamera ein paar anständige Schnappschüsse von Piona zu ergattern. Den Abt, der zweifelsohne zu einem Teil der Aufnahmen wurde, schien das nicht zu stören. Er verharrte regungslos, als könnte ihm die Welt da draußen nichts anhaben.

Giulia blieb ein paar Meter hinter ihm stehen und kündigte sich für den Fall, dass er sie nicht kommen gehört hatte, durch ein lautes Räuspern an. Daraufhin drehte er sich um und schaute sie an. In seinem Gesicht standen weder Überraschung noch Unbehagen. »Commissario, ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte er, und Giulia war geneigt, ihm diese Freundlichkeit auch zu glauben. »Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir. Es ist mein Lieblingsplatz, denn ich bin überzeugt, dass unser Lago von nirgendwo schöner anzusehen ist als von dieser Stelle aus.« Während er das sagte, zog er das Buch ein Stück zu sich heran und nahm die Zweige auf.

Giulia folgte dieser Bitte gern. »Sie lesen Gedichte?«, fragte sie mit einem flüchtigen Blick auf den Umschlag des Buches.

Er schmunzelte. »Sie meinen, ein Mann wie ich steckt seine Nase ausschließlich in die Bibel, nicht wahr? Da muss ich Sie enttäuschen. Hin und wieder bevorzuge ich Rilke. Seine Verse haben etwas an sich, das einem diese Welt erklärt, wenn man selbst an seine Grenzen gekommen ist, als Ergänzung zum Wort Gottes wohlgemerkt, nicht als Bereicherung. Das hat unser Herr nicht nötig.«

»Ich habe keine Ahnung von Lyrik«, gab Giulia zu, »schon gar nicht von deutscher.«

»Rilke war Österreicher«, entgegnete der Abt, ohne den Blick vom Wasser zu lassen. »Aber trotzdem verpassen Sie etwas, glauben Sie mir.«

Beide schwiegen für eine Weile.

»Ich habe noch ein paar Fragen an Sie«, sagte Giulia schließlich.

»Ich dachte es mir«, antwortete der Abt gleichmütig. »Sie können sich meiner Hilfe gewiss sein.«

»Sie waren nach dem Tod von Pater Donato in seinem Schlafraum«, sagte Giulia. »Unter seinem Bett steht ein Koffer mit seinen persönlichen Sachen. Was haben Sie darin gesucht?«

Der Abt ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Sein Tagebuch«, sagte er schlicht.

»Warum?«, fragte Giulia, die mit dieser Antwort gerechnet hatte.

»Es ist nicht gut, einen Menschen bloßzustellen, erst recht nicht, wenn er sich nicht mehr erklären kann«, gab der Abt zurück. »Ich wollte Pater Donato schützen. Das ist meine Aufgabe als Vorsteher dieses Klosters.«

Giulia schaute ihn von der Seite an. Auf seinem Gesicht lagen die gleiche Gelassenheit und Würde, die sie auch vorher schon bei ihm gesehen hatte. »Auch vor der Polizei?«, fragte sie.

»Vor den Menschen«, entgegnete er. »Niemand hat das Recht, ungefragt in die Privatsphäre eines anderen einzudringen. Wir leben in unruhigen Zeiten. Die Menschen geben sich über die Medien, vor allem das Internet, preis, sie machen sich zum Produkt, gieren nach Aufmerksamkeit, nach zwischenmenschlichem Kontakt, virtuell, also ohne Verpflichtungen. Und sie sind auch bereit, andere dafür ans Messer zu liefern. Ich kann nicht abschätzen, was passiert, wenn die intimsten Aufzeichnungen eines Mannes wie des Paters an die Öffentlichkeit gelangen. Wir Mönche zählen in unserer Beständigkeit zu den Exoten dieser Gesellschaft.« Er hielt inne. »Ich weiß nicht, ob ich das zu hart formuliert habe, aber lassen wir es mal so stehen. Wir sind ein gefundenes Fressen, verstehen Sie? Die Kirche ist eine zwei Jahrtausende alte Institution, doch sie ist immer nur so stark wie ihre einzelnen Mitglieder.«

Sie verstand den Abt in seinem Ansinnen, dennoch hatte er nicht recht gehandelt. Giulia hätte ihm gern an den Kopf geworfen, dass das alles kein Grund war, die Arbeit der Polizei zu boykottieren. Ein Zusammenspiel wäre hier vor allem im Sinne des Opfers, aber auch für die Abtei erheblich zielführender gewesen. Abgesehen davon ärgerte sie sich über die latent unterstellte Indiskretion. Was nützte es jedoch, seinen Befürchtungen etwas entgegenzusetzen? Er hatte Riso selbst erlebt. Merda! »Was in Pater Donatos Leben musste zwingend vor der Welt verheimlicht werden?«, fuhr Giulia fort. »Auch vor der Polizei? Immerhin wurde der Pater ermordet, und seine Aufzeichnungen könnten uns helfen, denjenigen zu finden, der das getan hat.«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, entgegnete der Abt ruhig.

»Sie haben es nicht gelesen?«, fragte Giulia irritiert.

»Es war nicht mehr da. Jemand war schneller als ich«, antwortete er und klang dabei zum ersten Mal während ihrer Unterhaltung ein wenig besorgt. »Und nein, ich hätte es anderenfalls auch nicht gelesen, nur sicher verwahrt.«

»Jemand war schneller«, murmelte Giulia. Das Boot mit dem Fotografen hatte gewendet und kam noch einmal an ihnen vorbeigefahren. »Wir beiden sind auf den nächsten Ansichtspostkarten drauf oder in irgendeinem Reiseführer«, sagte Giulia im Plauderton, auch weil sie etwas Zeit brauchte, um die Information sacken zu lassen.

»Eher in den Planungsunterlagen der Bürgermeisterin«, entgegnete der Abt fast tonlos.

Giulia schaute ungläubig erst ihn an und dann zu dem Boot.

»Das geht seit Wochen so. Wir hatten auch schon Drohnen, und neulich waren ein paar Vermesser in unserem Olivenhain unterwegs. Ich glaube, denen war nicht klar, dass wir nicht zu den Unterstützern der Bürgermeisterin gehören.« Er lächelte wissend. »Sie haben von Donatos Honig gekauft und kistenweise von unserem Wein, und nebenbei haben sie darüber geplaudert, wie hervorragend sich ein Luxushotel in unserem Garten machen würde.«

Was auch immer an der Sache mit der Pfirsichplantage dran war, die Frau übertrieb maßlos, dachte Giulia. Ein derartiges Grenzen überschreitendes Verhalten gehörte sich schlichtweg nicht. Es war offenkundig, dass sie die Mönche nicht ernst nahm. Wenn sie sich damit mal nicht vergaloppierte. »Kann das Tagebuch bei Pater Gianmarco sein?«, fragte Giulia.

»Ganz sicher nicht«, erwiderte der Abt voller Überzeugung. »Die Bezeichnung Pater ihm gegenüber ist übrigens nicht korrekt. Sie sollten sie deshalb auch nicht verwenden. Gianmarco befindet sich in der zeitlichen Profess. Das heißt, seine Mitgliedschaft in unserem Orden ist auf drei Jahre befristet. Nennen wir es mal Probezeit. Erst mit der feierlichen Profess wird man zum Pater.«

»Und bekommt einen neuen Namen«, schlussfolgerte Giulia. Das also erklärte die Zurückhaltung Gianmarcos in Glaubensdingen. Er schien sich selbst seines Platzes noch nicht sicher zu sein. Giulia hatte demnach mit ihrem ersten Eindruck gar nicht so danebengelegen.

»Das ist richtig«, bestätigte der Abt.

»Wird Gianmarco diesen Weg einschlagen?«, fragte sie.

Der Abt sagte eine Weile nichts. »Gianmarco hat eine schwere Zeit hinter sich. Die Kirche hat ihn begleitet und, auch das kann man durchaus so sagen, geleitet. Pater Donato gebührt dabei ein großer Verdienst. Ich würde mir wünschen, Gianmarco bliebe ein Teil von uns, aber …« Der Abt schluckte. »Er wird sich wohl anders entscheiden. Der Herr scheint ihn an anderer Stelle dringender zu brauchen.«

»Hat das etwas mit Donatos Tod zu tun?«, wollte Giulia wissen. Sie konnte sich vorstellen, dass sich Gianmarco nach seinem schweren Fehler gegenüber Donato in der Pflicht gefühlt hatte. Das wäre zwar ein ziemlich heftiger Schritt für den jungen Mann gewesen, aber immerhin war es nicht ganz ausgeschlossen. Und nun, da Donato nicht mehr da war …

Der Abt verneinte. »Donato war ein guter Lehrer, aber er war kein Guru. Man tritt nicht einem anderen Menschen zuliebe in ein Kloster ein. Diese Entscheidung trifft man aus seinem tiefsten Inneren, aus Überzeugung und Liebe. Dazu kann man nicht überredet oder gar genötigt werden. Das widerspräche auch unseren Regeln. Die zeitliche Profess ist eine gute Möglichkeit, sich zu prüfen. In dieser Zeit kann man seine Entscheidung für das Klosterleben revidieren. Mitunter wird sie auch um ein weiteres Jahr verlängert. Manchmal brauchen solche Dinge einfach auch mehr Zeit. Aber dann, mit der feierlichen Profess, gibt es keinen Weg mehr zurück.«

»Sie dürfen Ihre Meinung niemals mehr ändern?«, fragte Giulia überrascht.

»Nun, niemand kann einen Menschen zu etwas zwingen, aber wenn man diese Berufung ernst nimmt, erwägt man keinen Ausstieg«, erklärte der Abt. »Der Herr legt uns allen tagtäglich Prüfungen auf. Diese gilt es zu meistern und nicht vor ihnen davonzulaufen.«

Giulia verstand. »Donato war noch nicht mal ein Jahr bei Ihnen«, hob sie an.

»Ja, welch eine erstaunliche Fügung«, entgegnete der Abt. »In dieser kurzen Zeit hat er so viel für uns bewirkt.«

»Sie sagten, der Lario war seine Heimat. Wieso ist er nicht eher gekommen?«, fragte sie.

Giulia sah im Augenwinkel, dass der Abt lächelte. »Wir sind keine Wanderer zwischen den Klöstern. Man bleibt an dem Ort, für den man bestimmt ist«, erklärte er geduldig.

Giulia stutzte. »Aber Donato …?«

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie er seinen Umzug bewerkstelligt hat. Es gibt Ausnahmen, die sind jedoch überaus selten. Für mich zählte nur, dass ich einen vortrefflichen Mann kennenlernen durfte. Einen besseren Abt hätte sich dieses Kloster nicht wünschen können, aber ich glaube, das habe ich schon mal erwähnt.«

»Denken Sie, dass sein Tod etwas mit diesem, ich nenne es mal Karriereschritt zu tun haben könnte?«, fragte Giulia.

»Karriere. Wie das klingt.« Es amüsierte ihn. Das konnte man hören. »Ich würde eher von großer Verantwortung und Gottes fügender Hand sprechen. Und um Ihre Frage zu beantworten: nein. Alle Brüder waren sich absolut einig darüber, dass die Zukunft von Piona bei Pater Donato liegt.«

»Wer wäre sonst in Frage gekommen?«, hakte Giulia nach. Für einen kurzen Moment dachte sie an Gianmarco, aber nach dem, was sie gerade gehört hatte, ergab das keinen Sinn.

»Auch darüber sind wir uns einig«, erwiderte er. »Niemand.«

Giulia atmete tief aus.

»Ich habe beschlossen, noch ein paar Jahre auf dieser Welt zu bleiben.« Er klang sehr überzeugt. »Der Herr wird das Richtige tun. Daran zweifle ich keinen Moment.«

Giulia wünschte es ihm. Und dem Kloster. »Sie wussten von Donatos schwerer Krankheit?« Sie sprach leise, aber bestimmt.

Nun war er es, der seinen Kopf drehte und sie ansah. »Was meinen Sie?«, fragte er mit brüchiger Stimme.

Giulia erklärte ihm, was sie aus dem Bericht des Professore wusste.

»Donato, todkrank?«, fragte er, wobei ihm fast die Luft wegzubleiben schien. »Das kann nicht sein.«

Giulia nickte schweigend. »Sie haben nichts davon gewusst?«

»Nein«, hauchte er. »So weit hat er mir dann wohl doch nicht vertraut.« Giulia war es, als ob seine Schultern bei diesen Worten herunterfielen, ja, als ob der ganze Mann mit einem Male nur noch ein Schatten seiner selbst war. Seine Augen, die die ganze Zeit mit so viel Kraft und Lebensmut auf den Lario geschaut hatten, schienen eingetrübt und unendlich müde. Offenbar war dem Abt Benedetto gerade eine der schwersten Enttäuschungen seines Lebens widerfahren. Auch Giulia konnte ihm darauf keine Antworten geben, und sie war sich nicht einmal gewiss, ob dies jemals der Fall sein würde.

***

»Wo sitzt denn die Commissario, die rassige mit den runden Hüften?«, hörte man Romualdo Pierantognettis unangenehmes Tönen über den Flur der Questura schallen.

Irgendjemand, den man nicht verstehen konnte, schien ihm behilflich zu sein. Denn wenig später stand er in Elenas und im nächsten Moment auch schon in Giulias Büro, wobei ihm niemand beigebracht zu haben schien, dass man sich durch Anklopfen ankündigte.

»Guten Morgen.« Sein kräftiger Gruß ließ Giulia von ihrem Computer aufschauen, aber da war es schon zu spät. Der Kerl stand direkt vor ihrem Schreibtisch und grinste sie dreist an. »Na, schon wach?«, säuselte er in ekelhafter Manier. »Dann kann die Gegenüberstellung ja beginnen.« Er wippte erwartungsfroh in den Knien.

Giulia lehnte sich langsam auf ihrem Stuhl zurück und schaute ihn um Fassung bemüht an.

»Was ist nun, Commissario?«, sagte er fordernd. Offenkundig ging ihm das Ganze nicht schnell genug. »Wir haben viel zu tun, Tavà und ich.« Wie aus dem Nichts zog er plötzlich die Puppe hinter seinem Rücken hervor. Dass Giulia ausgelöst durch seine zackige Bewegung kurz zuckte, schien ihm eine wahrliche Genugtuung zu sein. »Mein Freund hier wollte unbedingt mal eine echte Questura von innen sehen.« Er ließ die Puppe zur Bestätigung nicken. »Und natürlich kennt er Cotoletto so gut wie kaum jemand. Er kann also hilfreich sein.« Wieder stimmte die Puppe ihm zu.

Giulia, die am heutigen Morgen noch weniger Nerven für diese Albernheiten hatte als sonst, schaute ihn nur aus schmalen Augen an. »Elena, würdest du bitte einmal die Puppe bringen«, sagte sie, ohne ihren Blick von dem Kerl abzuwenden. Wer wusste schon, was er noch alles auffuhr, um sie zu reizen.

Elena ließ nicht lange auf sich warten. Ohne den Puppenspieler eines Blickes zu würden, kam sie herein und reichte Giulia den Drachen. Die gab ihn unversehens an Romualdo weiter.

Der griff danach, und im gleichen Moment entglitten ihm die Gesichtszüge. In stiller Ungläubigkeit betrachtete er den Drachen von allen Seiten. Erstaunlicherweise schien auch Tavà seinen Zweck erfüllt zu haben, denn der hing nun, nachdem Romualdo seinen Arm gesenkt hatte, kopfüber herunter und war vergessen. »Er ist es«, murmelte Pierantognetti schließlich, wobei seine Mundwinkel freudig zuckten. »Das ist mein Cotoletto, der Originaldrache meines Vaters. Er ist nicht verbrannt. Cotoletto ist nicht verbrannt.«

»Dann haben wir das schon mal geklärt«, entgegnete Elena resolut und warf Giulia beiläufig einen allessagenden Blick zu.

»Woran machen Sie das fest?«, wollte Giulia wissen. Für sie sah eine Puppe aus wie die andere, und woher sollte sie denn wissen, dass dieser Mensch nicht wieder seine Spielchen mit ihr trieb?

Achtlos landete Tavà auf Giulias Schreibtisch. Pierantognetti umfasste mit beiden Händen Cotoletto breites Maul, zog es auf und hielt es ihr hin. An der Oberseite seines Gaumens kamen fünf von einem Kreis umrahmte, aufgedruckte Buchstaben zum Vorschein. Sie waren so winzig, dass Giulia ihre liebe Mühe hatte, etwas zu entziffern. »Botti«, las sie schließlich.

Romualdo bestätigte das. »Der Meister signiert jedes einzelne seiner erschaffenen Wesen …«, sagte er, als spräche er über etwas Heiliges. »Und für die Familie Pierantognetti zieht er noch einen Kreis drum herum. Das ist das Alleinstellungsmerkmal unserer Puppen.«

Elena atmete tief aus und verließ Giulias Büro, wobei sie die Tür demonstrativ offen ließ. Wenig später hörte man ein heftiges Klappern der Tastatur.

»Er nimmt dabei niemals die gleiche Stelle. Manchmal muss man richtig suchen, um den Schriftzug zu finden, natürlich nur wenn man die Puppen nicht kennt. Deswegen kann man nie auf den ersten Blick sagen, ob es sich um einen echten Botti handelt.« Er legte Cotoletto ab und nahm Tavà in die Hand. Unter dem Schild von dessen Seemannsmütze prangten eingefasst von einer schwarzen Linie die fünf bekannten Buchstaben. Ihre Farbe war zerkratzt und auch schon etwas verblasst.

»Er ist älter« schlussfolgerte Giulia.

»Padre Riccardo hat ihn erfunden und nach seinen Vorstellungen schnitzen lassen. Der Padre hat mit den Bottis auch die besondere Kennzeichnung ausgemacht. Er wollte nicht, dass sie sind wie die Puppen der anderen. Unser Teatro ist schließlich nicht irgendein Wald- und Wiesenverein«, gab sich Pierantognetti ungewohnt zugänglich. »Tavà wird in unserer Familie von Sohn zu Sohn weitergegeben. Er ist sozusagen der Grundstein unseres Erfolges.«

Man hörte Elena aus dem Nachbarbüro schnaufen.

»Und Cotoletto nicht?«, hakte Giulia nach. »Immerhin sagten Sie gerade, er sei die Puppe Ihres Vaters?«

»Kann ich Cotoletto mitnehmen?«, fragte er und griff schon nach ihm, ohne Giulias Frage zu beantworten.

Plötzlich hatte er es sehr eilig. Giulia war jedoch schneller. Sie legte ihre Hand auf den Drachen, was Pierantognetti zurückzucken ließ.

»Aber …?« Seine Stirn legte sich in Falten. »Es gibt keinen Grund, Cotoletto hier festzuhalten.«

Giulia fand es nach wie vor befremdlich, dass er die Puppen zuweilen wie echte Menschen behandelte. Anfänglich hatte sie angenommen, es wäre seine Art, zu provozieren. Aber mittlerweile schien es ihr so, als gehörte das für ihn tatsächlich zum Leben dazu. »Wir haben Spuren auf der Puppe gefunden«, sagte sie.

Pierantognetti schaute erst auf Giulia und dann auf den Drachen. »Was hast du gemacht, du böser Bube?«, fragte er mit der Stimme eines fürsorglichen Vaters.

»Auf den Augen«, fügte Giulia noch an.

Pierantognetti hielt kurz inne, um dann kräftig loszuprusten. »Meine Schwester, das liebestolle Weib, kann ihre Küsse nicht für sich behalten.« Er lachte so schallend, dass es im Nebenzimmer zu hören sein musste. »Sie haben ihre Lippenabdrücke …« Ein erneuter Lacher raubte ihm die Stimme. »Also wirklich, Paola.« Irgendwann hatte er sich endlich beruhigt. »Sie haben den armen Cotoletto ja ganz schön auseinandergenommen. Das muss ich schon sagen, Commissario.«

Giulia weigerte sich, auf diesen Schwachsinn zu reagieren. »Wir haben die Puppe kaum einen Tag nach dem Mord an Pater Donato am Eingangstor zum Kloster gefunden, gegen Mittag, direkt nach Ihrer Vorstellung. Haben Sie eine Erklärung dafür?«, fragte sie ihn.

»Sie muss mir gestohlen worden sein«, schoss es aus dem Puppenspieler wie auf Kommando heraus. Seine Fröhlichkeit schien schlagartig einer tiefen Empörung gewichen zu sein. »Am Sonntag nach der Vorstellung.«

»Sie sagten mir, das wäre noch niemals vorgekommen«, warf Giulia ein.

»Irgendwann ist immer das erste Mal«, entgegnete er überzeugt.

»Und das haben Sie nicht bemerkt?«, wollte Giulia überaus skeptisch wissen.

Er hob und senkte die Schultern. »Wir laden alles nach der Vorstellung ein und fahren ins Hotel«, entgegnete er nahezu gleichgültig. »Wenn etwas fehlt, kriegen wir das erst bei der Vorbereitung für unseren nächsten Auftritt mit.« Er hielt inne und betrachtete Giulia feindselig. »Den hat es, wie Sie wissen, ja nicht gegeben.« Seltsamerweise schien ihn das nun überhaupt nicht mehr großartig aufzuregen.

»Waren Sie am Kloster oder nicht?«, herrschte Giulia ihn an. Ihre Geduld hatte irgendwann ein Ende, und der Punkt war jetzt erreicht.

»Nein, verdammt noch mal. Wir kämen nicht mal auf die Idee, uns nur in die Nähe zu begeben«, pflaumte er zurück. »Wir waren bei Carlos. Das habe ich Ihnen schon gesagt.«

»Das ist kein Alibi, denn dazwischen liegen acht Kilometer Fahrtweg, auf denen Sie mühelos in Piona hätten halten können«, fuhr sie ihn an.

»Was spielt das eigentlich für eine Rolle? Der Pater ist in der Nacht zuvor gestorben«, pflaumte er zurück. Sein wütender Blick ruhte auf ihr. Man konnte ihm förmlich ansehen, dass er kurz vorm Platzen stand. Er fasste in seine Hosentasche, zog seine Brieftasche hervor und suchte ein Stück Papier heraus, das er vor Giulia auf den Tisch warf. »Ich musste in Corenno Plinio tanken. Schauen Sie auf die Uhrzeit. Um Punkt dreizehn Uhr sind wir bei Carlo eingefallen. Das weiß ich so genau, weil gerade Anpfiff irgendeines seiner blöden Fußballspiele war und der Einfaltspinsel uns zehn Minuten auf die Getränke hat warten lassen. Fragen Sie ihn! Er erinnert sich garantiert, nach dem Einlauf, den ich ihm verpasst habe.«

»Ein Uhr ist korrekt«, murmelte Elena, die gerade rechtzeitig wieder in den Raum getreten war, Giulia zu.

Giulia schaute sie fragend an, worauf sie bestätigend nickte.

Pierantognettis Gesichtszüge entspannten sich. »Hören Sie auf die Kleine hier«, säuselte er übertrieben freundlich.

Elena kniff die Lippen zusammen.

Giulia, der nicht klar war, wann Elena das gecheckt haben sollte, ließ es so stehen. Auf ihre Assistentin war Verlass. Sie nahm die Tankquittung auf und kontrollierte die Uhrzeit. Selbst bei niedrigem Verkehr reichte die Zeit unmöglich für einen Abstecher nach Piona, noch dazu, wenn man mit einem Kleinbus unterwegs war. Die Puppenspielergeschwister waren also in diesem Fall raus, zumindest sah alles danach aus. Ohne etwas zu sagen, schob sie ihm den Zettel zurück.

»Na, sehen Sie, Herzchen«, heuchelte er. »Dann steht doch nun nichts mehr zwischen uns.«

»Da bin ich mir nicht sicher, Signore Pierantognetti« gab Giulia mit schmalen Augen zurück.

***

»Du bist nicht etwa noch immer in Rage wegen dieses Blödmanns?«, fragte Elena Plätzchen kauend. »Solche Typen bringen dich doch sonst nicht aus der Fassung.«

Giulia brummte. »Wenn ich den schon sehe, könnte ich ihn erwürgen. Dieser Zirkus um die Puppen und die Selbstgefälligkeit, mit der er uns das Unschuldslamm vorspielt …« Sie legte beide Handflächen auf ihr Gesicht und massierte mit den Zeigefingern ausgiebig ihre Augen. Als sie fertig war, fügte sie an: »Ich kann die Lüge bei dem förmlich riechen.«

»Das merkt man dir fast gar nicht an«, entgegnete Elena belustigt.

»Wieso konntest du seine Aussage bestätigen?«, fragte Giulia neugierig.

»Eine halbe Stunde bei diesem Carlo, und du weißt alles. Kein Wunder, dass die Puppenspieler da immer rumhängen«, entgegnete Elena zufrieden. »Meinst du, der Kerl hat seinen Bus selbst angezündet?«

»Dann hätte er den Drachen vorher herausgenommen«, antwortete Giulia überzeugt. »So weit geht die Abneigung gegen seinen Vater dann doch nicht.«

»Hä?« Elena stand sichtlich auf dem Schlauch.

»Tavà hat er immer bei sich, während Cotoletto bei den anderen im Auto liegt«, erklärte Giulia.

»Tavà durfte sogar in seinem Bettchen schlafen«, witzelte Elena.

»Der ist an die achtzig Jahre alt und von seinem über alles verehrten Großvater. Das ist etwas anderes«, entgegnete Giulia. »Der Drache seines Vaters ist ihm nicht so heilig, woraus ich schließe, dass es ihm sein Vater auch nicht war.« Giulia dachte an die Ausführungen Piergiuseppes. Demnach war der Vater von Paola und Romualdo Pierantognetti kein wirklich überzeugender Puppenspieler gewesen. Nach den Kriterien, die die Geschwister anlegten, hatte der arme Mann damit schon bei ihnen verloren.

»Auch bei Puppen gibt es Standesunterschiede, ich verstehe«, konterte Elena.

Giulia schaute sie mit hochgezogener Braue an. »Sein Gesichtsausdruck in dem Augenblick, in dem er Cotoletto als sein Eigentum identifiziert hat, war unverkennbar«, fuhr sie fort. »Ich würde sagen, eine Mischung aus Überraschung und Erleichterung.«

»Und dann, zack, kam die Angst vor dir«, warf Elena ein.

»Er hat keine Angst«, entgegnete Giulia. »Und genau das ist es, was mich wundert. Autoritäten scheinen für ihn keine Rolle zu spielen, ob kirchlich oder weltlich. Er meint, als Künstler und Puppenvater schwebt er über den Dingen. Sein Problem ist eher das eigene Ego. Wir kratzen es an und stören damit seine Kreise.«

»Jedenfalls wissen wir nun, dass die Pierantognettis den Drachen nicht am Kloster ausgesetzt haben«, bemerkte Elena.

»Es war jemand, der ihnen schaden wollte«, entgegnete Giulia. »Vermutlich aus Rache für ihre Indiskretionen und Frechheiten.« Giulia dachte an die Worte, die Tavà am Samstag nach dem Mord an der Mönchspuppe gebraucht hatte. Hinter dem scheinbar Harmlosen verbirgt sich mehr, als auf den ersten Blick zu sehen war, hatte er gesagt. Was, wenn das hier auch zutraf? Der Mörder hatte Cotoletto am Eingang zum Kloster auf der Figur des heiligen Benedikt platziert. Benedetto wie der Name des Abtes. Konnte das ein Hinweis sein? Aber der Abt war kein Mörder, ganz sicher nicht. Er würde nichts tun, was seinem Kloster schadete. Aber womöglich wusste er etwas?

»Meinst du, derjenige kannte das Alleinstellungsmerkmal der Puppen?«, fragte Elena und unterbrach damit Giulias Gedankengänge.

Giulia zuckte mit den Schultern. »Das spielt keine Rolle. Ich glaube, hier genügt der bloße Anschein. Cotoletto hätte auch vom Wühltisch im Supermarkt stammen können. Hauptsache, die Puppenspieler bekommen Ärger«, sagte sie nachdenklich. »Und diese Strategie ist ja auch aufgegangen. Denn unser Misstrauen diesen Menschen gegenüber ist dadurch noch einmal gewachsen.«

»Bei dem wäre das Anstacheln von außen gar nicht nötig gewesen. Der tut allein schon genug dafür, dass man ihn nicht ausstehen kann«, grinste Elena. »Na ja, aber in diesem Punkt ist er wohl unschuldig.«

Giulia überlegte kurz. »Würdest du bitte die Leute von der Tankstelle mal fragen und die Videoaufnahmen prüfen?«

»Du hast den ja echt gefressen«, entgegnete Elena und notierte sich den Arbeitsauftrag.

Giulia traute dem Puppenspieler kein Stück. Dann fiel ihr etwas ein. »Bitte die Kollegen, mal bei dem Bäckerehepaar aus Corenno Plinio vorbeizugehen. Sie sollen nach Brennpaste Ausschau halten.« Sie dachte kurz nach. »Und sie möchten bitte auch mal fragen, wie eng das Verhältnis zwischen den Eheleuten und dem Nachtportier des Hotels ist. Immerhin könnte es sein, dass der Portier jemanden schützen will.«

»Du meinst …?«, merkte Elena auf.

»Es wäre zumindest eine Erklärung, wieso der Mensch, der für die Sicherheit des Hotels abgestellt ist, einen Brandanschlag direkt vor dem Haus nicht mitbekommt«, sagte Giulia. »Und bei der impulsiven Bäckersfrau kann ich mir durchaus vorstellen, dass sie auf Rache für ihre Bloßstellung sinnt.«

»Und vielleicht handelt es sich bei dem Portier ja um den jungen Burschen aus dem Theaterstück? Du weißt schon, ihren Liebhaber«, schmunzelte Elena breit. »Du hast ihn doch befragt, macht er was her?«

»Wir wollen uns jetzt nicht auf die Stufe der Puppenspieler begeben«, maßregelte Giulia sie sanft. »Und nein, macht er nicht.«

Elena versprach, sich umgehend um alles zu kümmern, und ignorierte Giulias erzieherischen Hinweis, aber das war nichts Neues. »Das mit den Bottis finde ich jedenfalls komisch«, sagte sie unvermittelt.

»Was meinst du?«, wollte Giulia wissen.

»Das ist die größte Puppenschnitzerfamilie aller Zeiten. Jedes Kind in Italien kennt sie. Angeblich waren sie es, die den ersten Pinocchio gemacht haben.«

Giulia dachte an Jacopos Worte. Dabei musste sie so skeptisch dreingeblickt haben, dass Elena damit begann, sich zu rechtfertigen.

»Während du mit dem Puppenvater geplaudert hast, habe ich Mister Google befragt«, erklärte sie. »Woher sollte ich die Bottis kennen? Pinocchio ist doch auch nur wieder so ein Ausweis patriarchalischer Grundannahmen. Mit dem habe ich mich nie beschäftigt.«

Giulia schüttelte amüsiert den Kopf. »Und was ist außerdem komisch?«, wollte sie wissen.

Elena trat hinter Giulias Schreibtisch und bediente deren Computer. »Das ist der Preis, der für eine Puppe der Bottis aufgerufen wird«, sagte sie und deutete auf den Bildschirm, von dem sie eine Art Sophia Loren mit Holzkopf anlächelte. »Und das ist nur eine Verkaufsplattform. Im echten Leben würde ich auf mindestens das Doppelte tippen.«

»Für eine Handpuppe?«, sagte Giulia und beugte sich ungläubig näher an den Bildschirm.

»Fünfstellig aufwärts«, bestätigte Elena. »Botti ist Kult.«

»Wie können die Pierantognettis das zahlen, zumal die Bottis angeblich die Puppen auch noch individuell anfertigen beziehungsweise umbauen?«, fragte Giulia. »Dann muss ein kleines Vermögen in diesem Tourbus gewesen sein.«

Elena nickte bestätigend. »Seltsam, oder? Da geht so eine Bäckersfrau im kleinen Corenno Plinio echt ins Geld.«

»Da waren vielleicht hundert zahlende Gäste«, warf Giulia ein.

»Was ich für das Publikum eines Puppentheaters für exorbitant hoch halte«, bemerkte Elena. »Dennoch gibt das bei zehn Euro Eintritt nur tausend Euro, abzüglich Saalmiete, Hotel, Anfahrt … Taschengeld für Paola …«

»Kannst du bitte herausbekommen, ob und wie hoch die Puppen versichert waren«, bat Giulia.

»So blöd ist nicht mal der«, entgegnete Elena. »Jedes Kind weiß, dass sich die Versicherung bei einem offenen Fenster weigert zu zahlen. Dann hätte er besser daran getan, das Auto klauen und im See versenken zu lassen.«

»Mhm«, brummte Giulia unschlüssig. Sie traute Pierantognetti zweifelsohne einen Versicherungsbetrug zu, aber hätte er dann wirklich Cotoletto, die Puppe seines Vaters, im Wagen gelassen? Seine Erleichterung darüber, dass der Drache wohlbehalten war, hatte er jedenfalls nicht verbergen können. Immerhin war er Teil der großen Familiengeschichte. Den überließ ein Pierantognetti nicht einfach den Flammen. »Da hat der gute Romualdo wohl noch ein Geheimnis«, murmelte Giulia und zog die Computermaus unter Elenas Hand hervor. Kurz darauf baute sich der Internetauftritt der Puppenschnitzer vor ihnen auf, und Giulia klickte sich nun selbst noch einmal durch die Seiten. »Das ist Alfredo Botti. Holzschnitzer, Urenkel des Unternehmensgründers und Chef des Familienunternehmens. Genau«, sagte sie. »Er war der Mann in Corenno Plinio, der so ungeduldig neben der Bühne auf Pierantognetti gewartet hat. Du erinnerst dich? Ich hatte dir von ihm erzählt. Ich habe ihn vorhin vor Pierantognettis Hotel kennengelernt. Er ist ein ganz anderer Typ, zurückhaltend und völlig ohne Allüren. Auf den ersten Blick würde man niemals vermuten, dass die beiden Freunde sein könnten. Aber das sind sie wohl, zumindest hat sich Pierantognetti so aufgeführt.«

Jetzt war es Elena, die sich vorbeugte. »Alfredo Botti«, sagte sie nachdenklich und stutzte im nächsten Moment. »Und der besucht eigens die Vorstellung des Teatro. Respekt. Na ja, wenn ich für eine schmollmündige Bäckersfrau fünf Scheine hingelegt bekäme, dann würde ich den Horror-Geschwistern auch nachreisen.«

»Wenn sie die einzigen Kunden wären«, murmelte Giulia nachdenklich. Dabei betrachtete sie ausgiebig die Fotografie.

»Na sicher!«, rief Elena ungläubig aus. »Trotzdem scheint ihm ja etwas am Teatro zu liegen. Immerhin hat er den ausgebrannten Tourbus inspiziert. Oder er wollte schon mal grob überschlagen, welches Sümmchen es demnächst auf ihn herabregnet.«

»So sah er nicht aus«, entgegnete Giulia. »Er wirkte mir eher etwas überrumpelt, aber das ist bei diesem anstrengenden Puppenspieler ja auch kein Wunder.«

Das Telefon klingelte. Giulia erkannte Fontanas Nummer und winkte Elena zurück, die sich anschickte, das Büro zu verlassen.

»Professore, ich wollte dich ohnehin …«, sagte sie, als sie den Hörer abgenommen hatte, wurde jedoch sofort von ihm unterbrochen.

»Giuli!«, rief er verzückt aus. »Was für ein herrlicher Tag. Wie habe ich meine Zeit am See vermisst.«

Also doch, dachte Giulia. Da ist die arme Sonia ihm ziemlich auf den Leim gegangen. »Ich habe noch ein Anliegen, das wir klären müssten«, entgegnete sie und überging seine Anspielung. »Ich stelle den Lautsprecher an. Elena hört mit.«

Sein Räuspern tönte durch das Büro. »Guten Morgen, die Damen«, sagte er höflich und ganz ohne die eben noch vorhandene Euphorie. »Was haben Sie auf dem Herzen?«

Giulia schilderte kurz ihre Zweifel an der bislang im Raum stehenden Körpergröße des Mörders. Zur Begründung fügte sie den in der Scheune gefundenen Fußabdruck an.

Man hörte den Professore ungehalten knurren. »Sonia hatte so etwas erwähnt, ach, wie ärgerlich«, sagte er und begann, auf seiner Tastatur herumzuhämmern. »Da haben wir ihn schon, unseren Pater. Ah, ja! Mhm. Mhm. Das gute Mädchen hat meine Ausführungen an dieser Stelle wohl missverstanden. Also, meine liebe Giuli, wenn«, er betonte das Wort überdeutlich, »wenn der Pater im Stehen gestorben wäre, dann müsste der Mörder etwa um die eins neunzig groß sein. Diese Annahme würde ich hier jedoch streichen. Ich denke eher, der Pater hat sich weggeduckt, oder der Mörder hat ihn, was zugegeben ein wenig an ein Stück von Shakespeare erinnert, auf die Knie gezwungen. Ich kann dir bezüglich des Fallwinkels und damit auch des Schwungs, mit dem der Kopf weggerollt ist, nichts sagen. Wir kennen ja den eigentlichen Aufprallort nicht. Das macht es natürlich schwerer. Aber die Spuren an seiner Kleidung sprechen dafür, auch seine Lage. Unser Opfer sollte bei seiner Körpergröße und seinem Alter eine ungefähre Kniehöhe von fünfzig Zentimetern haben. Das heißt, er war kniend rund einen Meter zwanzig groß.«

»Dann ist unser Mörder einen Meter vierzig groß? Ein Kind?«, fragte Giulia zweifelnd.

»Jetzt bitte ich dich aber«, entgegnete Fontana. »Der Körper lag bei den Johannisbeeren. Wenn du dich erinnerst, war das ein abschüssiges Gelände.«

»Das heißt?«, fragte Giulia.

»Du kannst von einer Größe zwischen eins sechzig und eins siebzig ausgehen, ungefähr. Dazu passt dann auch euer Fußabdruck.«

»Das hört sich schon besser an«, gab Giulia zurück.

»Nur ein kleines Missverständnis zwischen Sonia und mir. Ich war gestern einfach zu sehr in Eile. Entschuldige bitte«, sagte der Professore. »Diese Ungenauigkeiten kommen nicht wieder vor.«

Giulia kommentierte das nicht. Nach so langer Abstinenz bei seinen Eroberungen schien sogar der ansonsten überkorrekte Fontana die Dinge aus dem Blick zu verlieren. Erstaunlich und trotzdem alles in allem für sie unverständlich. »Es gibt da noch etwas«, sagte sie und berichtete von dem einstigen Pharmaskandal um Dottore Gianmarco Marafini.

»Marafini sitzt im Kloster?«, fragte Fontana, wobei er seine Belustigung nicht verbarg. »Die Koryphäe Marafini, dem keine Frau schön und kein Auto schnell genug war?«

»Kennst du ihn?«, fragte Giulia verwundert.

»Wie man sich unter Medizinern so kennt«, gab der Professore zurück. »Der Buschfunk übertrifft jedes persönliche Gespräch. Ich habe damals kein Wort von dem geglaubt, was in den Zeitungen stand. Marafini mochte im normalen Umgang eine Diva gewesen sein, aber als Arzt war er ein außergewöhnliches Talent. Was immer ihm die Industrie gezahlt hätte, er hatte es nicht nötig. Wenn du mich fragst, war das nichts weiter als eine üble Schmutzkampagne. Wurde er eigentlich verurteilt?«

Giulia verneinte das.

»Das mit dem Kloster ist keine so üble Idee«, bemerkte Fontana grüblerisch. »Wenn mich die Signora mal vor die Tür setzt, sollte ich das auch erwägen. Man wird ja auch älter.« Sein Grinsen ließ sich nicht überhören. »Aber Marafini ist noch jung, zu jung. Und zu ehrgeizig. Der hat unter Garantie andere Pläne. Soll ich mich mal umhören, dezent, versteht sich?«

Giulia bat darum und setzte an, das Telefonat zu beenden.

»Commissario, eins noch«, sagte der Professore eifrig. »Nur ein klitzekleines Detail und, na ja, wegen dieses kleinen Übersetzungsproblems mit Sonia, als Wiedergutmachung und damit du später nicht sagst, ich hätte dir was verschwiegen.«

»Was?«

»Der Pater muss ein wahrer Fan von Johannisbeeren gewesen sein, in Tee- oder Saftform zur Unterstützung seiner Nieren. Die alten Mönche kennen sich nun mal aus mit Heilmitteln aus der Natur. Wenn du mich nach meiner Meinung fragen würdest, Commissario, der Mann wollte definitiv nicht sterben. Und in Bezug auf seine Nieren hätte man das vermutlich sogar verhindern können. Nicht mit dem Tee, versteht sich. Aber mit einem Spenderorgan. Dafür hätte er sich aber auf eine Liste setzen lassen müssen.«