7Der Grabstein lag im Dreck. Die frischen Blumensträuße, mit denen offenkundig jemand die steinerne Platte geschmückt hatte, waren zerpflückt und über den halben Friedhof verstreut. Pater Undovico, der sie, aufgelöst, wie er war, zum klösterlichen Friedhof begleitet hatte, sammelte einen um den anderen Stängel auf und versuchte so, zu retten, was noch zu retten war. Giulia trat derweil neben den Stein und las dessen Inschrift. »Abt Benedetto in ewiger Dankbarkeit« war darauf zu lesen. Dazu die Geburts- und Sterbedaten. Der erste Abt Benedetto war am dritten Januar 1920 geboren und am Heiligabend des Jahres 1979 gestorben. Giulia betrachtete interessiert die umliegenden Gräber, aber die waren unversehrt.
»Pater Undovico, Gianmarco, bitte, der Stein«, sagte der Abt tief erschüttert. »Zuerst den Stein.« Seine Stimme schien ihm wegzubrechen.
Die beiden Männer folgten seiner Bitte umgehend.
Giulia schaute schweigend zu. Im Augenwinkel sah sie, wie der Abt sich mit einem Taschentuch wiederholt die Augen tupfte. Am Ende war er eben doch ein alter Mann, dem die Geschehnisse in seinem Kloster mehr zusetzten, als man es auf den ersten Blick vermuten könnte.
»Ich mache dir einen Tee, Benedetto«, sagte Gianmarco, nachdem alles wieder halbwegs gerichtet war. »Bitte, komm ins Refektorium.« Gianmarco ließ dem augenscheinlich verdatterten Abt keine Zeit zu reagieren, sondern umfasste seinen rechten Ellenbogen und schob ihn langsam neben sich her. Pater Undovico, der sich wieder den Blumen gewidmet hatte, hielt kurz inne und schaute besorgt auf den Ordensvorsteher.
»Das trifft ihn schwer, unseren Abt«, hauchte er Giulia zu. »Er und der alte Abt standen sich sehr nahe. Wir alle treffen irgendwann im Leben jemanden, der für unsere Entscheidungen wie ein Leuchtturm auf unruhiger See ist, wenn wir Glück haben, natürlich.«
Giulia kam unweigerlich Tiziana in den Sinn. Die Freundin war es gewesen, die ihren Wunsch, zur Polizei zu gehen, von Anfang an gefördert hatte. Dabei hatte sie dies niemals direkt getan. Es waren die leisen Zwischentöne gewesen, die Lebensweisheiten Tizianas und natürlich ihr von Gerechtigkeit durchdrungenes Menschenbild, die Giulia darin bestärkt hatten. »Ist so etwas schon mal passiert, also auf dem Friedhof?«, fragte Giulia.
Pater Undovico schüttelte seinen runden Kopf. »Wenigstens darum haben die Vandalen bislang einen Bogen gemacht.« Er betrachtete die kaputten Blütenstängel in seiner Hand. »Wo soll das noch hinführen?« Dann legte er seinen Kopf in den Nacken. »Herr, womit prüfst du uns?«
Giulia ließ ihn wortlos zurück. Sie mochte zwar keinen Tee, aber im Zweifel gab es in der Klosterküche sicherlich auch einen Kaffee. Mitten im Laufen hielt sie inne und ging noch einmal zu dem Pater zurück. »Undovico«, sagte sie leise. »Wo liegen die anderen Äbte des Klosters?«
Er wirkte erst ein wenig verdutzt, antwortete aber dann zügig. »Der Zweite von rechts«, sein ausgestreckter Arm zeigte in Richtung der Friedhofsmauer, »ist Abt Domenico. Da drüben«, er drehte sich in die entgegengesetzte Richtung, »liegt Abt Anselmo. Und …«
»Es gibt keinen extra Platz für die Klostervorsteher?«, unterbrach ihn Giulia ein wenig zu forsch.
»Nein, nein«, versicherte er. »Einfach so, wie es kommt.« Er biss sich auf die Zunge und senkte den Kopf, was sein Doppelkinn noch wuchtiger wirken ließ. »Entschuldigung, ich wollte …«
Giulia bedeutete ihm mit einem sanften Lächeln, dass sie ihn verstanden hatte. Er nickte ihr dankbar zu, wartete kurz, ob er ihr noch anderweitig behilflich sein konnte, und fuhr dann mit seinem Tun fort. Die verwüstete Grabstätte lag mitten in einer Reihe aus fünf oder sechs anderen Gräbern. Sie war weder besonders exponiert noch auffallend gestaltet. Es gab demnach für denjenigen, der sich daran zu schaffen gemacht hatte, keinen ersichtlichen Grund, ausgerechnet diesen Ort auszuwählen. Es sei denn, er war gezielt vorgegangen. Aber warum hatte es den seit über vierzig Jahren toten Abt getroffen? »Benedetto«, murmelte Giulia auf dem Weg in die Küche den Namen mehrfach vor sich hin. Dort angekommen, fand sie den Abt weiß um die Nase und mit starrem Blick am Küchentisch sitzend vor. Gianmarco hantierte mit dem Teekessel. Als sie eintrat, hob er den Kopf. »Commissario, schauen Sie bitte einmal in das große Regal zwischen den Fenstern. Dort bewahren die Mönche ihren Pfirsichbrand auf.«
Giulia entging nicht, dass er von den Brüdern, mit denen er sich bis vor Kurzem noch in einer vermeintlich engen Gemeinschaft befunden hatte, nun in der dritten Person sprach. Seltsam, wie schnell ein Mensch Veränderungen verinnerlichte, aber womöglich war das auch normal, wenn man sie sehnsuchtsvoll erwartete. Gianmarco jedenfalls war ihr vom ersten Moment an nicht wie jemand vorgekommen, der zum Mönchsein berufen war. Zweifelsohne tat er mit seinem Weggang das für ihn absolut Richtige. Und sicherlich hatte er auch diese zweite Chance verdient. »Hochprozentiges?«, fragte Giulia, nur um überhaupt etwas zu sagen.
»Das löst den Schock«, entgegnete Gianmarco. »In Maßen angewendet«, ergänzte er noch.
Giulia nickte, trat an das Regal, nahm sich den Schnaps und drei der danebenstehenden Gläser und setzte sich zu dem Abt an den Tisch. Schweigend goss sie ein, und nachdem Gianmarco mit dem frisch aufgebrühten Tee dazugekommen war, schob sie den Männern vorsichtig die gut gefüllten Gläser über den Tisch zu. Noch ehe sie etwas sagen konnte, hob Gianmarco an.
»Denken Sie, diese Sache hat etwas mit dem Mord an Donato zu tun?«, fragte er. »Ich bin ohnehin kein Mensch, der sich die Geschehnisse mit einer so simplen Umschreibung wie der des Zufalls erklärt, aber in diesem besonderen Fall verursacht der berühmt-berüchtigte Wink mit dem Zaunpfahl förmlich blaue Flecke bei mir. Allerdings reicht meine Gedankenwelt nicht so weit, dass ich mir einen Reim auf das alles machen könnte. Sie vermutlich eher?« Er griff das Glas des Abtes und hielt es ihm direkt unter die Nase. »Bitte trink das. Es hilft, deine Gedanken zu sortieren.«
Benedetto befolgte den Rat mit zittriger Hand.
Giulia staunte über die offenen Worte, die sie von Gianmarco in der Form nicht gewöhnt war. Sie dachte an das, was Jacopo beim Frühstück gesagt hatte. Womöglich hatte er recht, und sie hatte sich zu sehr in ihre eigenen Theorien verrannt. Aber noch schlimmer war das Gefühl, von den Puppenspielern manipuliert worden zu sein. Abt Benedetto war nicht das personifizierte Böse, dem man einen Mord zutrauen konnte. Er war ein alter Mann, der sich um sein Kloster und sein Lebenswerk sorgte und nach Giulias Dafürhalten auch allen Grund dazu hatte. Und Gianmarco? Er war, obwohl man es von jemandem wie ihm niemals erwarten würde, ein Gestrauchelter, der nun wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Dass er, dem man so übel mitgespielt hatte, sein neues Leben aufs Spiel setzen würde, war kaum anzunehmen. Dafür war er zu tief am Boden gewesen. Sie nahm ihr Glas, prostete Gianmarco zu und trank. Trotz des hohen Alkoholanteils schmeckte der Brand mild und erstaunlich intensiv nach Pfirsichen. »Der alte Abt ist schon viele Jahre tot«, sagte sie, um das Gespräch in ihre Richtung zu lenken. »Woran ist er gestorben?«
Gianmarco, der den Eindruck machte, die Antwort nicht zu kennen, fasste nach der auf dem Tisch liegenden Hand des Abtes und drückte sie fest.
Es dauerte nicht lange, bis die Farbe in das Gesicht des alten Mannes zurückkehrte. Der Pfirsichbrand tat offenbar seine Dienste. »Benedetto hatte ein schwaches Herz«, antwortete er mit angestrengt fester Stimme. »Die Zeiten, in denen er die Verantwortung für unsere Gemeinschaft trug, waren sehr schwer. Die politischen Verhältnisse machen auch vor Klostermauern nicht halt. Der Krieg, die gesellschaftlichen Umbrüche, der Fortschritt …« Er seufzte.
»Er muss ein sehr junger Abt gewesen sein«, bemerkte Giulia, »wenn er während des Zweiten Weltkrieges schon im Amt war.«
»Benedetto hat sich trotz seiner nur vierundzwanzig Jahre nicht gescheut, die Last auf seinen Schultern zu tragen«, entgegnete der Abt. »Die Umstände haben damals nichts anderes zugelassen.«
Giulia fiel das Gespräch wieder ein, das sie mit dem Abt auf der Pfirsichplantage geführt hatte. Demnach musste es der alte Benedetto gewesen sein, der in seiner Funktion als Oberhaupt dieser Abtei die Pfirsichplantage von der Gemeinde zurückgekauft hatte, nur drei Jahre nach Kriegsende, wenn sie es richtig zusammenbrachte. Aber wer dieser vermaledeiten Anhänger der Bürgermeisterin konnte das noch in lebhafter Erinnerung haben? Und vor allem: Welche Rolle spielte das in dieser Auseinandersetzung überhaupt, wenn diese sie selbst entwaffnende Tatsache sogar den Gegnern des Klosters bekannt zu sein schien? Oder wieso sollten sie es ansonsten ausgerechnet auf dieses Grab abgesehen haben? Hier einen Zusammenhang zu der Auseinandersetzung um die Plantage zu sehen, ergab einfach keinen Sinn. »Die Wahl fiel nicht zufällig …«, Giulia machte eine bedeutungsschwere Pause und schaute Gianmarco herausfordernd an, »… auf diese Ruhestätte. Ich glaube, hier möchte uns jemand etwas sagen, wobei das nicht nur den verstorbenen Benedetto, sondern auch Sie, verehrter Abt, betrifft.«
»Mich?«, fragte er kraftlos.
Giulia hob und senkte den Kopf. »Ja, Sie. Sie haben mit Bedacht den Namen Ihres Vertrauten gewählt. Sie führen dieses Kloster allen weltlichen und sicherlich auch geistigen Widerständen zum Trotz. Sie waren ein Vertrauter Pater Donatos. Und Sie hüten ein Geheimnis, und ich hätte zu gern gewusst, um was es sich dabei handelt.«
»Ein Geheimnis?«, fragte der Abt mit weit aufgerissenen Augen.
»Sie kennen es. Tiziana De Angelis auch. Und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass auch Pater Donato eingeweiht war.«
»Tiziana?« Der Abt schnappte nach Luft. Seine Unterlippe fing an zu zittern. »Tiziana«, hauchte er noch einmal. »Bitte lassen Sie Tiziana aus dem Spiel. Sie kann das nicht auch noch ertragen.«
***
»Er hat nichts gesagt?«, fragte Elena ungläubig und mit dem Mund voller zerkauter Plätzchen.
Giulia verneinte, wobei das Bedauern darüber sich in ihrer gesamten Körpersprache widerspiegelte. Sie hockte mit hängenden Schultern auf Elenas Schreibtisch, die Beine lustlos baumelnd und den Blick aus dem Fenster gerichtet, wobei sie das, was sich direkt unter ihr auf der Straße abspielte, nicht einmal mitbekam.
»Womöglich gibt es auch nichts zu sagen«, wandte Elena ein. »Du weißt, wie du bist, wenn du dich in etwas verrennst.« Sie hielt ihr die geöffnete Plätzchentüte entgegen.
»Unsinn!«, fuhr Giulia sie an, um sich dann sofort wieder zurückzunehmen und mit ruhiger Stimme fortzufahren. »Die Puppenspieler hassen die Mönche und lassen kein gutes Haar an ihnen. Sie gehen sogar so weit, einen von ihnen in einem ihrer Stücke zu ermorden. Angeblich geht der Grund dafür auf Riccardo Pierantognetti, den Großvater, zurück. Es handelt sich also um eine uralte Geschichte. Trotzdem fährt in den Abt schon allein beim Anblick dieser Drachenpuppe der Schreck, und er bemüht sich dabei so angestrengt, jegliche Verbindung abzustreiten, dass es schon wieder auffällig ist. Die Pierantognettis wiederum behaupten genau das, ja, sie sind überdies sogar förmlich erpicht darauf, den Abt sowie die Mönche im Allgemeinen in ein schlechtes Licht zu rücken, was bei ihnen nicht zwangsläufig etwas bedeuten muss. Zudem bin ich mir zugegebenermaßen nicht einmal mehr sicher, ob es sich dabei um den lebenden Abt Benedetto oder einen seiner längst verstorbenen Vorgänger handelt. Jedenfalls deutet nach dem Anschlag auf dessen Grab so einiges darauf hin. Womöglich hatte Jacopo dahin gehend sogar recht, denn eigentlich ist der noch lebende Benedetto viel zu jung, um irgendwas mit dem Großvater der Puppenspieler zu tun zu haben. Wenn es nämlich der alte Benedetto war, der mit Riccardo Pierantognetti über Kreuz lag, frage ich mich, wie das mit dem jetzigen Abt zusammengeht? Trotzdem weiß er, was damals passiert ist, und er schweigt darüber. Warum? Und Pater Donato? Was hat er mit den alten Geschichten zu tun, vor allem wenn er erst ein paar Monate hier ist? Abgesehen davon liegt dem aktuellen Abt Benedetto mindestens genauso viel daran, Tiziana aus der Sache herauszuhalten, wie andersherum. Allein aus diesem Grund bin ich schon überzeugt, dass hier irgendetwas verdammt im Argen liegt …«
Elena schaute Giulia nur mit großen Augen an. »Hast du wieder mitten am Tag Prosecco getrunken?«, fragte sie provokant. »Ich jedenfalls bin, nachdem du erstmalig die Puppenspieler erwähnt hast, ausgestiegen.«
Giulia machte einen Satz vom Schreibtisch. »Irgendetwas ist da faul. Ich wüsste ansonsten keinen Grund, wieso niemand mit mir reden will.«
Elena grinste frech. »Ich wüsste mehrere«, entgegnete sie. »Aber vielleicht sollten wir uns lieber mal an die Fakten halten. Dein Bauchgefühl muss nicht immer richtigliegen, vor allem nicht, wenn es offenkundig auch von diesen Puppentheaterleuten gespeist wird.«
Giulia zog einen Flunsch. Die unsäglichen Puppen aber auch. Es war, als marschierten diese permanent durch ihren Kopf und pflanzten ihr Dinge ein, für die sie keine rationale Erklärung hatte. Manchmal ertappte sie sich sogar dabei, ihrem Vater Piergiuseppe die von ihm immer wieder herausgestellte Ähnlichkeit zwischen ihr und ihm unreflektiert zu glauben. Er jedenfalls schwor darauf, dass Puppen ein Eigenleben entwickelten, mit dem sie in die Geschicke der Menschen eingreifen konnten. Aber er gehörte auch zu denjenigen, die im Theater nicht pfiffen und im Wald nur flüsterten, um die Baumgeister nicht zu stören. Giulia war bis heute nicht dahintergekommen, ob dies nur Facetten von Piergiuseppes überbordender Fantasie oder handfeste Hinweise auf seine transzendenten Fähigkeiten waren, die er sich allzu gern selbst andichtete. Sie jedenfalls war eine Vollblutrealistin und tat diesen Nonsens normalerweise konsequent ab. Nur in diesem Fall war es anders. Selbst wenn sie sich in einem Moment absolut gewiss war, dass es sich nur um Puppen aus Holz, Stoff und Farbe handelte, ergriff sie im nächsten die Unsicherheit darüber, ob in diesen Gestalten nicht doch mehr stecken könnte.
»Die Pierantognettis gehören zu den manipulativsten Menschen, die ich jemals gesehen habe«, redete Elena weiter. »Wie die es dabei schaffen, so zu tun, als wären ihre Puppen ein Teil von dieser Welt, erschließt sich mir nicht. Wobei ich mittlerweile denke, dass darin genau ihr besonderes Talent liegt. Die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit sind bei denen dermaßen verschwommen, dass man wirklich aufpassen muss, dem nicht zu erliegen.«
Genau das ist es, dachte Giulia bei sich. Dass ausgerechnet sie wiederum dafür empfänglich sein könnte, hätte sie niemals für möglich gehalten.
Elena nahm einen Zettel und legte ihn vor sich auf die Tastatur. »Die Liste unserer Verdächtigen hat sich mittlerweile ganz schön minimiert«, erklärte sie mit dem Blick auf ihre Aufzeichnungen und unter bedeutsamen Gesten. »Armando, der harmlose Briefträger, ist raus. Er war an den Bienenstöcken, aber nicht am Mönch.«
Giulia hob die rechte Braue ob dieser Formulierung.
»Die Mönche selbst, mhm, ebenfalls Fehlanzeige. Egal, was der Abt Benedetto Schlimmes getan haben soll, oder war es sein Vorgänger …? Elena zwinkerte ihr zu. »Jedenfalls ist Benedetto kein Mörder. Es gibt kein Motiv, und ehrlich gesagt bezweifle ich, dass er in seine eigene Scheune durch ein Fenster einsteigen muss, um an die Mordwaffe zu kommen. Noch dazu ist er groß und hat riesige Füße. Gianmarco übrigens auch.«
Giulia bestätigte das.
»Genau«, bekräftigte Elena. »Gianmarco jedenfalls will noch einmal groß rauskommen, da bindet er sich doch keinen Mord ans Bein. In wenigen Wochen sitzt er im Flieger in die USA und hätte spätestens ab dann Donato auf immer den Rücken gekehrt, wenn er das gewollt hätte.«
»Ich weiß, ich weiß«, beschwichtigte Giulia. »Du musst mich nicht überzeugen.«
Elena streckte die Nase in die Luft und hob den Zeigefinger ihrer rechten Hand. »Also, wer bleibt uns dann noch?«, fragte sie mit hoher Stimme, um sich die Antwort umgehend selbst zu geben. »Der sympathische Puppenspieler mit seiner ebenso liebenswerten Schwester. Kein Alibi und nackter Hass. Das ist doch ein schöner Anfang. Und wenn du mal ehrlich in dich hineinhörst, musst du zugeben, dass wir diese Leute von Anfang an verdächtigt haben, oder wie meine Mutter immer zu sagen pflegt: Der erste Eindruck ist immer der richtige.«
»Es gibt keinen Grund für den Hass, also zumindest keinen, den wir bislang kennen«, gab Giulia uninspiriert zu bedenken. Sie dachte an Tizianas Geschichte von der vererbten Antipathie. »Außerdem ist die Sache mit einem wild gewordenen Fan der Bürgermeisterin noch nicht ganz vom Tisch, für mich zumindest nicht.«
Elena lehnte ihren Oberkörper leicht zurück. »Jetzt bitte ich dich aber, Commissario! Über diese Brücke sind wir doch nun mittlerweile schon lange gegangen«, rief sie aus. »Wer marschiert los und köpft einen Mönch, nur weil die Bürgermeisterin ein Stück Land beansprucht, das ihr rechtmäßig nicht gehört? Das ist doch dermaßen irre, zumal ein toter Mönch allein nichts bringt. Was soll das sein, ein Warnschuss frei nach dem Motto: Wenn ihr nicht klein beigebt, müsst ihr alle sterben? Wer lässt sich denn auf so ein Spiel ein? Abgesehen davon würde im Zweifel ohnehin der Vatikan oder Gott weiß wer über die Pfirsichplantage entscheiden. Dann muss man sich schon den Papst schnappen. Noch dazu hatte Donato keinerlei Aktien in diesem Pfirsichstreit. Das hast du selbst erzählt. Ein zufälliges Opfer war er trotzdem nicht. Jeder, den die Wut packt, weil er das Hotelprojekt durch die Mönche gefährdet sieht, marschiert mit seiner eigenen Axt los, möchte ich meinen, ohne Verabredung mit Donato und vor allem nicht mitten in der Nacht. Dass Donato sich nächtens und damit heimlich mit jemandem im Klostergarten treffen wollte, sollte uns eher zu denken geben. Offenkundig gab es irgendetwas zu verbergen. Das Puppenspiel schwirrt schon wieder in deinem Kopf herum, Commissario, und es macht dich ganz kirre.«
Giulia schnaufte. »Ich weiß es doch auch nicht. Aber es gibt sie doch, diese Verrückten, die meinen, mit einer solchen Tat die Welt in ihrem Sinne verändern zu können.«
»Nicht bei dir am See«, tat Elena Giulias Einwand unsachlich ab. »Und nicht in diesem Fall.«
Giulia wollte etwas sagen, kam aber nicht dazu, denn Elena legte nach. »Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass die Puppenspieler die Tat begangen haben.« Elena wartete sichtbar ungeduldig darauf, was Giulia zu sagen hatte. Da die nicht sofort reagierte, legte sie mit einer relativierenden Vermutung, von der sie sich eher Giulias Zustimmung erhoffte, nach. »Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, dass der Mörder am Samstag im Publikum war oder ihm jemand vom Inhalt des Stückes erzählt hat.«
»Und die Pierantognettis ihn damit auf eine Idee gebracht haben«, redete Giulia weiter.
»So ist es. Der Entschluss war bereits da, aber die Vorstellungen zur Ausführung fehlten«, entgegnete Elena.
Giulia hatte ganz am Anfang ihrer Ermittlungen schon mal etwas in diese Richtung gedacht, aber ihm dann nicht weiter Beachtung geschenkt. Die Inspiration für einen Mord aus einem Puppenspiel zu ziehen, war ihr einfach zu absurd erschienen.
Elena startete einen erneuten Versuch, Giulia zu überzeugen. »Wenn die Pierantognettis sich nicht sogar doch selbst die Geschichte vorweggenommen haben, quasi als Tatankündigung und für den Nervenkitzel. Sie haben kein Alibi. Oder seit wann wertest du ›allein im Hotelzimmer‹ als ein solches? Noch dazu will der Portier nicht beschwören, dass sie das Hotel nicht verlassen haben. Ab und zu muss eben jeder aufs Klo, sogar der Herr vom Empfang. Kein Alibi, Commissario«, redete Elena ihr förmlich ins Gewissen. »Das darfst du nicht vergessen.«
Giulia schüttelte den Kopf. »Wenn du richtigliegst, wären die Puppenspieler äußerst dumm«, wandte sie ein.
Elena hob und senkte gleichgültig die Schultern.
»Nein, nein, Elena«, widersprach Giulia, und ihre Worte überschlugen sich fast. »Kein Mörder liefert vor seiner Tat einen Prolog ab, der ihn zum ersten Verdächtigen macht.«
»So exzentrisch, wie die Geschwister sind, wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, antwortete Elena. »Noch dazu haben sie uns mit ihrer kleinen Geschichte ein Motiv geliefert, an dem wir uns festbeißen sollten, was ihnen natürlich auch gelungen ist. Ich meine, der Hinweis auf die Pfirsiche erschlägt einen ja fast. Das hätte jeder Dummkopf aufgegriffen. Und da die Pierantognettis nichts mit den Pfirsichen zu schaffen haben, sind wir in die Irre gelaufen.«
»So oder so haben sie sich mit der Aufführung in den Fokus gerückt. Ich bleibe dabei, das ist dumm. Die wenigsten Mörder zeigen mit dem Finger auf sich selbst«, antwortete Giulia nachdenklich.
»Vorausgesetzt, sie sind keine Serienmörder oder Wahnsinnige«, warf Elena schon fast ein wenig zu überschwänglich ein. »Und du musst zugeben, ein bisschen wahnsinnig sind Paola und Romualdo schon, oder etwa nicht? Die würden für eine gute Geschichte ihre Großmutter verkaufen.«
Giulia hob die linke Augenbraue. »Das mag sein«, pflichtete sie Elena wenig überzeugt bei. »Aber bleiben wir mal bei deiner Theorie des Nachahmers.«
»Du meinst, der Mörder war im Publikum?«, fragte Elena.
»Genau«, bestätigte Giulia. »Was, wenn wir es hier doch nur mit einem Trittbrettfahrer zu tun haben? Jeder, der nur einmal eine Aufführung des Teatro gesehen hat, weiß, dass die Geschwister die Kirche hassen. Auch darauf passt deine Theorie des Ablenkungsmanövers.«
Augenscheinlich war dies nichts, was Elena hören wollte. Sie hatte sich offenkundig auf die Puppenspielergeschwister eingeschworen. »Und welches Motiv sollte dann hier zum Tragen kommen?«, fragte sie. »Und jetzt sag bloß nicht, der Streit um die Pfirsichplantage.«
»Mhm.« Giulia entknotete ihren Pferdeschwanz, um ihm umgehend neu zu binden.
»Du hast keine Ahnung«, sagte Elena mit hoher Stimme. »Immer wenn dein Blutdruck steigt, weil du nicht weiterkommst, machst du das mit deinen Haaren.«
Giulia blickte Elena absolut ruhig an. »Es ist so, ich habe keine Ahnung«, gab sie leise zu. »Nur so einen unbestimmten Verdacht.«
Elena verdrehte die Augen. »Ich will nicht wissen, was dir die Puppen ins Ohr geflüstert haben«, entgegnete sie angesäuert.
Nicht die Puppen, sondern Tiziana, dachte Giulia. Sie war es, die von einem alten Krieg gesprochen hatte. Und nach der Schändung des Grabes von Benedetto hätte sie schwören können, dass dieser Krieg noch immer andauerte, geführt von den Familien Pierantognetti und womöglich auch Botti.
Elena riss schwungvoll die unterste Schublade ihres Schreibtisches auf. Dort lagerten das Gebäck und die Süßigkeiten, die beide Frauen während ihrer Arbeit nur allzu gern zu sich nahmen. Sie zog eine Tafel Schokolade hervor, öffnete sie, brach sich ein Stück ab und schob es sich, ohne Giulia etwas anzubieten, in den Mund.
»Hör auf zu schmollen«, forderte Giulia. »Die Pierantognettis hängen mit drin. Da gebe ich dir ja recht. Aber ich glaube nun mal nicht, dass sie die Tat begangen haben.«
Elena schob die Schokolade wortlos über die Schreibtischplatte, wobei sie die Augen nicht von ihrem Bildschirm ließ.
»Nach allem, was wir über die Geschwister wissen und wie wir sie erlebt haben, gehören sie nicht zu den Menschen, die nach vorn preschen und die Dinge selbst regeln«, erklärte Giulia. »Die beiden verstecken sich eher hinter ihrem kleinen Bühnenwagen, ungesehen und quasi anonym. Alles, was sie eigentlich zu sagen haben, legen sie ihren Puppen in den Mund. Sie erledigen das. Auf diese Weise können die Pierantognettis anprangern, maßregeln, richten, wonach immer ihnen der Sinn steht. Eine direkte Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, so wie es normale erwachsene Menschen tun, findet nicht statt. Sie vermeiden die Reaktion der anderen. Deswegen benehmen sie sich auch wie ein paar wild gewordene Teenager. Sie haben schlichtweg kein Korrektiv, das sie in die Schranken weist. Und wenn es doch einmal jemand aus dem Publikum wagt, ihnen zu widersprechen oder sich zu wehren, heben sie unschuldig die Hände und verweisen auf Tavà und Co. Sie sind nichts als große, spielende Kinder, und am Ende sind sie feige, so feige, dass sie niemals ihre kleine Theaterwelt verlassen würden, um jemanden zu ermorden. Das nämlich kann man im Nachgang nur schwerlich auf den Rücken der Puppen abwälzen.«
Elena ließ sich mit einer Reaktion Zeit. Schließlich drehte sie langsam den Kopf zu Giulia hinüber. »Du meinst, alles, was Cotoletto nicht erledigen kann, fällt für die Geschwister aus.«
»So ist es«, bestätigte Giulia.
»Und trotzdem wissen sie etwas«, bemerkte Elena.
»Das nehme ich an«, erwiderte Giulia. »Zumindest vermuten sie irgendetwas.«
»Das hat alles schon was ziemlich Voyeuristisches, oder ist es ein Ritt auf der Rasierklinge?«, redete Elena weiter, wobei sie sich nebenbei ein Stück Schokolade nach dem anderen in den Mund schob. »Ich meine, aus einem sicheren Hinterhalt die Leute aufzuwiegeln und sich dann an ihrer Reaktion zu ergötzen, ist doch nichts anderes. Auch dass die Geschwister am See bleiben, obwohl sie nicht mehr richtig auftreten können, passt in dieses Muster. Jeder andere Mensch sieht zu, dass er fortkommt, gerade dann, wenn er auch noch Bestandteil einer Mordermittlung ist.« Elena reckte den Hals. »Oder hast du sie gebeten, hierzubleiben?«
Giulia schüttelte den Kopf. »Ich wollte ehrlich gesagt sehen, was passiert. Abgesehen davon ist Como nicht aus der Welt.«
Elena zog die Stirn kraus. »Die denken, sie verpassen was. Noch dazu ziehen sie Profit aus den Ereignissen. Die Leute rennen denen doch gerade jetzt die Bude ein. Ein Mord und ihre vermeintlich hellseherischen Fähigkeiten beflügeln das Geschäft.«
»Vor allem wenn man als armer, unschuldiger Künstler auch noch selbst in das Blickfeld von ein paar Kriminellen gerät«, pflichtete Giulia bei.
Elena schien kurz nachzudenken. »Ach, du meinst die Brandstiftung«, sagte sie. »Der Nachtportier ist übrigens der Cousin der schönen Bäckerin. Hatte ich das schon erwähnt? So wie du dreinblickst, nicht. Alles klar. Jedenfalls erklärt das den Umstand, dass er den Brand des Busses nicht bemerkt haben will.«
»Dann hat er ihn aber auch nicht gelöscht«, antwortete Giulia.
»Würde ich meinen«, entgegnete Elena. »Die Kollegen suchen noch nach dem Helfer. Dafür haben sie einen Bauernburschen aus Dubino ausgemacht, dessen Feuerzeug höchstwahrscheinlich etwas zu locker sitzt. Das Teatro hat letzten Sonntag in seinem Dorf gastiert und dabei wohl etwas zu deutlich auf das Aussehen seiner Freundin hingewiesen. Sie hatte angeblich im Vorfeld öffentlich die Einstellung der Geschwister zur katholischen Kirche moniert. Ihr Vater ist der hiesige Küster. Ihr Freund jedenfalls hat auf die Beleidigungen schon während der Aufführung ziemlich unflätig reagiert. Ein paar fliegende Gläser sollten die Ehre des Mädchens wiederherstellen.« Elena zog den Mund breit. »Das hätte ja auch genügt, möchte man meinen.«
»Schön oder hässlich?«, fragte Giulia erfreut darüber, dass sie mit ihrer Mutmaßung ins Schwarze getroffen hatte.
Elena klappte den Deckel einer Akte auf, die neben ihr lag, und hielt den Ausdruck eines Fotos hoch. »Das ist der Kirchenchor von Dubino. Ich habe sie eingekreist. Noch Fragen?«
Giulia betrachtete die bedauernswerte junge Frau, in deren Gesicht es nichts zu geben schien, was nur ansatzweise liebreizend oder symmetrisch war. »Immerhin scheint er sie sehr zu lieben. Und mutig ist sie auch.«
»Oder er konnte das schadenfrohe Gelächter der anderen nicht mehr ertragen«, wandte Elena ein. »Ach so, und Pierantognetti hatte keine besondere Versicherung für seine Puppen.«
»Wie bitte?« Giulia glaubte, sich verhört zu haben.
»Die normale Kfz-Versicherung, weiter nichts«, wiederholte Elena noch einmal. »Er bekommt keinen Cent für die abgebrannte Ausrüstung.«
»Aber das ist …« Giulia konnte es kaum glauben.
»Achtlosigkeit, Geiz, Blödheit, such dir was aus«, entgegnete Elena.
»Dann hat er wirklich alles verloren«, antwortete Giulia grübelnd.
Jedenfalls hattest du wieder einmal den richtigen Riecher …«. Elena verzog den Mundt.
»Das wird sich noch zeigen«, entgegnete Giulia gedankenverloren und schon im Aufbruch begriffen. »Lust auf eine kleine Tour an den Lario?«, fragte sie.
Elena sprang auf und griff gleichzeitig nach ihrem iPad. »Das lasse ich mir bestimmt nicht entgehen. Wer weiß, wann du mich wieder mal an die frische Luft lässt.«
***
»Mein Vater darf nicht gestört werden«, sagte das junge Mädchen nun schon zum wiederholten Mal. »Er arbeitet. Kommen Sie nach zwanzig Uhr wieder, und rufen Sie am besten vorher an.« Mit ihren kurzen, stoppeligen Haaren und den aufgeweckten Augen, mit denen sie durch eine überdimensionierte, hellblau umrandete Brille blickte, wirkte sie überaus keck. Sie sprach schnell und freundlich, wobei die Art, wie sie die Dinge sagte, keine Zweifel daran ließ, dass sie ihnen keinen Deut entgegenkommen würde. Signorina Romana Botti hatte gelernt, ihrem Vater jedwede Störung vom Leib zu halten, und sie praktizierte dies mit äußerster Konsequenz.
Giulia, die gern vor dem Zücken ihres Ausweises wusste, mit wem sie es zu tun hatte, lächelte geduldig. Dann stellte sie sich der Signorina kurz vor.
»Polizei?« Romana Botti wirkte nun bei Weitem nicht mehr so souverän wie zuvor. »Scheiße!« Sie schaute nervös auf ihre Schuhspitzen und biss sich immer wieder auf die Unterlippe. »Ich habe Gimmi gleich gesagt, dass die Idee mit dem geklauten Fahrrad blöd ist. Wir wären aber sonst zu spät in die … in die Schule gekommen. Es war eine Ausnahme. Wir haben uns das Rad nur geborgt.«
»Würden Sie uns jetzt bitte zu Ihrem Vater bringen?«, bat Giulia.
Romana, die die ganze Zeit mit ihrem schmächtigen Körper den schmalen Spalt in der im kleinen Hoftor eingelassenen Tür versperrte, schien sich noch weiter zurückzuziehen. »Aber doch nicht wegen dieses alten Rades. Das ist doch lächerlich. Ich stelle es nachher gleich zurück. Versprochen!« Sie senkte ihren Kopf und schaute Giulia von unten an. Dabei malträtierte sie erneut ihre Lippe mit den Zähnen. Alles in allem wirkte sie wie ein kleines Mädchen, das darauf spekulierte, dass ihm kein Wunsch abgeschlagen werden konnte. Romana mochte allerdings an die zwanzig Jahre alt sein, was schon genügte, um Giulia nicht über dieses Stöckchen springen zu lassen.
»Romana, wieso zieht es so? Was machst du denn schon wieder«, ertönte plötzlich die Stimme eines Mannes. »Du weißt, dass ich Zugluft nicht ausstehen kann. Für die Werkstatt ist das auch nicht gut.«
»Die Puppen kriegen Schnupfen«, sagte Elena grinsend.
Romana konnte diesem Spruch offenkundig nichts abgewinnen. Sie verzog den Mund wie jemand, den man beleidigt hatte. Hinter ihr wurden Schritte laut, und im nächsten Moment öffnete sich die Tür mit Schwung. Der Mann, dem die junge Frau umgehend Platz machte, war Alfredo Botti. Giulia erkannte ihn sofort, grüßte und bat ihn, ohne dass er die Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, um ein persönliches Gespräch.
Alfredo kam auch jetzt nicht zum Antworten, denn nun war es Romana, die eiligst einem Rüffel zuvorkommen wollte. »Reg dich bitte nicht auf, Papa«, forderte sie halb trotzig, halb kindlich. »Wir bringen das Rad zurück. Sofort, wenn es sein muss. Ich texte nur Gimmi …« Sie musste ihr Handy zu Giulias Erstaunen die ganze Zeit in der Hand gehabt haben. Jedenfalls tippte sie, während sie sprach, schon wie wild darauf herum. »Gimmi? Ich habe dir verboten …«, hob Alfredo Botti an, besann sich dann aber angesichts der Anwesenheit zweier Fremder umgehend und schüttelte nur noch schweigend den Kopf, die Augen ohne Unterlass auf Giulia gerichtet. »Um was geht es, Commissario?«, fragte Alfredo Botti an Giulia gewandt.
»Das würde ich nur ungern auf der Straße mit Ihnen erläutern«, entgegnete Giulia. »Abgesehen davon habe ich noch niemals die Werkstatt eines Puppenschnitzers gesehen«, fügte sie noch mit weicher Stimme und einem entgegenkommenden Lächeln an.
»Die ist nicht öffentlich«, antwortete Botti und klang dabei nicht einmal unhöflich. »Ich werde dafür sorgen, dass meine Tochter den Diebstahl rückgängig macht.« Er drehte sich Romana zu. »Hol bitte deinen Bruder, und erledige das mit ihm«, forderte er unmissverständlich, aber ohne seine Stimme zu erheben.
»Aber Gimmi …«, hob Romana an.
»Bitte!« Das sanftmütig gesprochene Wort genügte, und das Mädchen verschwand.
»Gut, Signore Botti«, sagte Giulia. »Es geht um den Mord an einem Mönch der Abtei von Piona. Wir würden Sie gern als Zeugen befragen.«
»Und das Fahrrad?«, wollte Botti wissen, wobei er ebenso überrascht wie enttäuscht wirkte. Offenkundig hatte er innerlich die leise Hoffnung gehegt, dass das Auftauchen der Polizei den unliebsamen Gimmi, den Giulia für den Freund seiner Tochter hielt, endgültig ins Aus schießen könnte. Im Vergleich dazu schien der Mord eher unspektakulär zu sein, was noch mehr gegen Gimmi oder für einen gut informierten Botti sprach.
»Das regelt Romana ja jetzt«, mischte sich Elena ein.
Alfredo Botti blieb einfach stehen und wartete.
Das konnte Giulia auch.
»Gut. Kommen Sie«, sagte er irgendwann, und obwohl ihm das augenscheinlich in keiner Weise recht war, hatte sein Tonfall noch immer etwas von dem netten Onkel von nebenan.
Giulia trat einen Schritt nach vorn und stoppte im gleichen Moment wieder. Obwohl Botti eine eindeutige Einladung ausgesprochen hatte, rührte er sich nicht vom Fleck. Zweifelsohne wäre es unhöflich gewesen, ihn beiseitezudrängen, zumal er der Hausherr war, aber Giulia erwog dies trotzdem. Immerhin hatte sie lediglich ein paar Fragen, und dafür wollte sie nicht den halben Tag verplempern. Als wäre Alfredo Botti des Gedankenlesens mächtig, machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand in die Düsternis der Toreinfahrt. Giulia und Elena beeilten sich, ihm zu folgen, wobei Elena gänzlich unbeabsichtigt die schwere Holztür mit Karacho hinter sich ins Schloss fallen ließ. Nicht einmal das erregte die Aufmerksamkeit des Mannes. Er zuckte nicht und sprach kein Wort, sondern bewegte sich nur unbeirrt mit den beiden Frauen im Rücken über einen kleinen, mit Efeu zugewucherten, überdachten Innenhof in Richtung einer offen stehenden Tür an dessen Ende. Zielstrebig verschwand er darin, und Giulia hätte es nicht verwundert, wenn sie sich im nächsten Augenblick vor ihnen geschlossen hätte. Alfredo Botti schien sich ganz offenbar in einem inneren Kampf aus Höflichkeit, Respekt und Verantwortungsgefühl zu befinden. Keinem davon schien er nur halbwegs gern Folge zu leisten, aber er fügte sich auf eine erstaunlich gelassene Art. Dass er dabei, wie die meisten anderen Menschen, die als Zeugen in einem Kriminalfall gebraucht wurden, auch Neugier verspürte, glaubte Giulia kaum. Wenn dem so war, konnte er es erstaunlich gut verbergen. Direkt auf die Türschwelle, über die sie nun ebenfalls traten, folgte eine steile Steintreppe, deren Stufen kaum die Breite eines Ziegelsteines hatten und die man nur mit schräg gestelltem Fuß betreten konnte. Noch dazu musste man sich förmlich zwischen den Feldsteinwänden, die die Stiege rechts und links säumten, hinunterquetschen, was den Eintritt allein schon für einen etwas beleibteren Besucher oder die Mitnahme von sperrigem Gepäck unmöglich machte. Dass Botti keine Öffentlichkeit in seiner Werkstatt empfing, konnte also gut und gern auch etwas mit den erschwerten Bedingungen ihres Aufsuchens zu tun haben. Unten angekommen standen sie, soweit sich das durch die Fülle an Gegenständen erkennen ließ, in einem einzigen, durchaus geräumigen, aber fensterlosen Kellerraum, dessen hervorstechendste Eigenschaft, das musste Giulia einigermaßen ernüchtert feststellen, das jahrhundertealte Deckengewölbe war. Die langen Holzregale mit den Werkzeugen und Materialien und die Arbeitsbank jedenfalls hatten auf den ersten Blick für sie nichts wirklich Beeindruckendes, wenn man davon absah, dass allenthalben kleine hölzerne Kopf-Rohlinge herumlagen oder auf Haken aufgesetzt an der Wand hingen und einen aus jeder denkbaren Ecke irgendeine fertige oder halb fertige Puppe anstarrte. Dazwischen türmten sich unterschiedlich farbige Kartons, deren fast schon künstlerische Beschriftung auf Inhalte wie Edelsteine, Samt, Seide, Knöpfe oder Schottenkaro hinwiesen. Sogar zwei Behältnisse mit den Hinweisen »Gold« und »Echtes Haar« fanden sich darunter. Angesichts dieses geordneten Chaos musste Giulia unweigerlich an Jacopo denken. Er würde das hier alles lieben, den Geruch nach frischem Holz und Lacken, die herumliegenden Holzspäne und die großen Bleistiftzeichnungen unterschiedlichster Gesichter, nach denen Botti zu arbeiten schien. Noch dazu war dieser Raum frei von jeglicher Moderne, kein Computer oder Handy, ja nicht einmal eine Kaffeemaschine oder ein Radio gab es. Alles wirkte so, als stammte die Werkstatt aus einem anderen Jahrhundert, und trotzdem strotzte es hier vor Kreativität und Lebendigkeit. Selbst der Meister fügte sich hervorragend in diese entrückte Atmosphäre ein, und Giulia wollte gern glauben, dass es bei den Bottis vor ihm nicht anders gewesen war.
»Enttäuscht?«, fragte Botti, der sichtbar entspannt auf einem runden Drehhocker vor seiner Werkbank Platz genommen hatte.
Giulia wiegte den Kopf sanft hin und her. »Mhm.«
»Das geht allen so«, antwortete er abgeklärt. »Manchmal glaube ich, die Menschen denken bei einer Puppenschnitzerwerkstatt an das geheime Labor eines Doktor Frankenstein. Gruselige Apparaturen, Blitz und Donner und jede Menge Wahnsinn. Ich begnüge mich allerdings mit einem Schnitzmesser.«
Giulia schmunzelte und konnte gerade noch sehen, wie er, ohne den Blick von ihr abzuwenden, mit dem Knie einen der obersten Schubkästen seiner Werkbank zuschob. Sie war sich sicher, dass darin ein Drache gelegen hatte, eine Puppe wie Cotoletto, nur mit nicht ganz so viel grünem Plüsch. Stattdessen war da etwas Rosafarbenes gewesen. Das konnte doch unmöglich … Cotoletta? Die Drachenfrau gab es wirklich. Und sie fristete ihr Dasein in diesem Werkstattkeller.
Botti schaute voller Gleichmut.
»Wenn man so manche Vorstellungen einschlägiger Puppentheater sieht, drängt sich einem diese Assoziation förmlich auf«, bemerkte Elena, wobei sie neugierig an einem Schaubrett vorbeilief, das voller fertiger Puppen hing, und jede einzeln demonstrativ begutachtete.
Botti verzog keine Miene, aber man konnte ihm ansehen, dass er die Anspielung verstanden hatte.
»Arbeiten Sie allein?«, fragte Giulia und hielt die Augen auf einen zweiten, verwaisten Arbeitsplatz gerichtet.
»Mein Geselle hat heute frei«, antwortete Botti, der erneut in diese seltsame Starre verfallen war, die Giulia bereits vorhin schon aufgefallen war. »Es werden nicht mehr so viele Puppen geordert, seitdem die Chinesen den europäischen Markt mit ihren zuwerfen. Abgesehen davon finden Sie heutzutage wohl kaum in einem Kinderzimmer noch Handpuppen.«
»Zwischen den Puppen aus Fernost und Ihren besteht aber doch ein entscheidender Unterschied«, entgegnete Giulia. Noch dazu bezweifelte sie, dass der bekannteste Puppenschnitzer Italiens für den Hausgebrauch arbeitete, aber das spielte keine Rolle.
Er senkte den Kopf leicht, was bei ihm offenbar schon einem Gefühlsausbruch gleichkam. »Wir sind ein aussterbendes Handwerk.«
Elena stieß einen grellen Pfiff aus.
»Das tut mir leid«, entgegnete Giulia. »Aber so verhält es sich heutzutage wohl bei einigen alten Gewerken. Das ist der Fluch der modernen Welt.«
Er nahm diese Aussage so hin.
»Signore Botti, ich will ohne Umschweife zur Sache kommen«, redete Giulia weiter. »Die Geschwister Pierantognetti gehören zu Ihren Kunden. Sie kennen sich seit vielen Jahren, sogar sehr gut, wie ich mitbekommen habe.«
Alfredo Botti schien nicht recht bei der Sache. Zumindest konnte Giulia sehr deutlich sehen, wie er Elena aus den Augenwinkeln beobachtete. »Das Teatro dei Burattini ist das älteste und berühmteste Theater am See«, sagte er, um von jetzt auf gleich zusammenzufahren. »Finger weg!«, schoss es aus ihm heraus, wobei sich selbst diese Ansage durch seine warme Stimme mitnichten aggressiv oder unangenehm anhörte. Obwohl sie, seinen verkniffenen Zügen nach zu urteilen, genauso gemeint war.
Elena wurde sichtbar vom Schreck erfasst. Aus dem Reflex heraus ließ sie die Rattenpuppe, die sie gerade noch in der Hand gehalten hatte, unsanft in das Regal zurückfallen.
»Man wirft keine Puppe einfach so hin«, sagte Botti pikiert, stand auf, trat neben Elena vor das Regal, nahm die Ratte auf und legte sie fast schon liebevoll wieder ab. »Nichts anfassen!«, forderte er noch einmal, als er schon auf dem Rückweg zu seinem Hocker war.
»Sie haben mindestens fünfzig davon«, entgegnete Elena kratzbürstig.
In Bottis Gesicht schien ein Fragezeichen zu stehen. Er sagte jedoch nichts, sondern schaute Elena nur ohne Unterbrechung an.
»Dabei sieht eine aus wie die andere«, murmelte Elena fasziniert und schon wieder im Begriff, in das Regal hineinzulangen.
Ein lautes Räuspern Alfredo Bottis hielt sie davon ab.
»Fünfzig?«, fragte Giulia neugierig. Das deutete nicht auf eine schwindende Nachfrage hin.
»Achtundsechzig«, verbesserte Botti widerwillig. Sein vermeintlicher Hang zur Korrektheit wog offenbar schwerer als das Vorhaben zu schweigen.
Giulia dachte an die Preise, die für eine Botti-Puppe im Durchschnitt aufgerufen wurden. Demnach könnte man meinen, das Geschäft florierte. Sie fragte sich, ob die Bescheidenheit, die Botti hier zur Schau stellte, seinem Wesen entsprach oder ob er womöglich nur ihnen gegenüber so agierte. Aber wieso sollte er sein Licht unter den Scheffel stellen? »Beeindruckend«, sagte sie, was sie auch wirklich so meinte.
Das kitzelte ihn sichtbar. »Das Pariser Chaillot plant eine Camus-Aufführung«, sagte er.
Giulia nickte anerkennend.
»Achtundsechzig identische Ratten?«, fragte Elena ungläubig. »Von Hand gemacht?«
Wieder zeigte sich Unverständnis in Bottis Gesicht.
»Sie arbeiten nur auf Bestellung?«, fragte Giulia.
»Ja«, entgegnete er.
»Und die Pierantognettis bestellen seit über hundert Jahren bei Ihrer Familie?«, legte sie nach.
»Ja«, antwortete er.
»Ihr Kontakt ist entsprechend intensiv«, schlussfolgerte Giulia.
»Ich kenne alle meine Kunden persönlich«, erklärte er ungerührt.
»Auch die vom Pariser Chaillot-Theater?«, hakte Giulia nach.
Er schwieg.
»Signore Botti«, sagte Giulia. »Die Familien Botti und Pierantognetti sind nicht nur seit vielen Jahren gute Geschäftspartner, sondern ich denke, sie sind auch befreundet.« Sie hielt kurz inne. »Ich habe die Puppen gesehen, die Sie für die Pierantognettis gemacht haben, vor allem die schöne Bäckersfrau aus Corenno Plinio hatte es mir angetan.« Giulia versuchte, in seiner Mimik irgendetwas abzulesen, aber es misslang. »Das Teatro befindet sich momentan, wie Sie sicherlich wissen, auf einer Tour am Lario. Sie gehörten in Corenno Plinio sogar zu den Gästen. Nach dem Brand des Tourbusses waren Sie auch dort.«
Er stutzte augenscheinlich. »Manchmal passt das einfach. Ich war zufällig in der Gegend. Mein Sohn Andrea nimmt dort Surfstunden, und ich hatte etwas Zeit. Und der Brand?« Er hielt kurz inne. »Schlimme Sache. Die ganze Ortschaft hat davon geredet.«
»Und dann wollten Sie Romualdo und Paolo beistehen«, provozierte Giulia und dachte an Bottis schnelles Verschwinden am Montag. Dabei war es ihr, als ob Botti beim Namen der Frau kurzzeitig ein nervöses Zucken um die Augen bekam.
»Wie gesagt, schlimme Sache«, antwortete Botti, ohne ansonsten weiter darauf zu reagieren.
»Wenn Sie die Pierantognettis gut kennen und schon Stücke von Ihnen gesehen haben, dann wissen Sie sicherlich auch, was da abgeht? Also in Corenno Plinio hat es ja die Bäckersleute getroffen, und dieser Rufmord war mindestens genauso schlimm wie der Brand, oder finden Sie nicht?«, wollte Elena wissen. »Abgesehen davon müssen Sie ja schon im Vorfeld davon gewusst haben. Immerhin sind Sie der Erschaffer dieser Schönheit. Wie verhält sich das eigentlich? Bekommen Sie von den Pierantognettis Fotos ihrer Opfer? Ganz sicher ist das so. Ansonsten können Sie die Puppen unmöglich so hinbekommen.« Elenas Stimmlage ließ keinen Zweifel an ihrer Meinung über das Ganze.
Botti ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich bin Puppenschnitzer. Mehr nicht. Meine Kunden sagen mir, was sie gern hätten, und ich mache mich an die Arbeit, mit oder ohne Vorlagen.«
»Und damit sind Sie fertig …«, entgegnete Elena bissig.
Giulia schaute zu einer der Zeichnungen hinüber. »Aber Sie zeichnen die Puppen vorab immer und arbeiten nach diesem Modell?«, wollte sie wissen.
»Ja«, antwortete er.
»Könnten Sie mir bitte den Mönch zeigen, den Sie für den Auftritt des Teatro in Colico gemacht haben?«, bat Giulia.
»Wenn eine Puppe erst einmal in der Welt ist, vernichte ich die Skizzen«, sagte er.
Giulia schaute sich demonstrativ um. »Mhm. Der große Botti trennt sich komplett von seinen Schöpfungen? Nun, Signore, das glaube ich Ihnen nicht«, sagte sie herausfordernd. »Die Puppen müssen verkauft werden, aber Ihre Bilder …« Sie atmete tief ein. »Ich gehe sogar so weit, Ihnen zu unterstellen, dass man hier die Originalskizze von Tavà, der Puppe von Riccardo Pierantognetti finden würde. Immerhin liegt sie Ihnen doch am Herzen, oder wie sonst sollte ich Ihre Nachfrage bei Romualdo nach deren Unversehrtheit deuten? Meister Botti, Sie sind der gelebte Inbegriff der Tradition Ihrer Familie, bitte halten Sie mich nicht zum Narren.«
»Das sind Betriebsgeheimnisse«, erwiderte er und wirkte dabei ganz und gar nicht wie jemand, den man beim Flunkern ertappt hatte.
»Darauf kann ich leider keine Rücksicht nehmen«, entgegnete Giulia. »Uns führt ein eiskalter Mord zu Ihnen und nicht die kindliche Leidenschaft für das Puppentheater.« Das war überaus deutlich.
Er stand auf, ging zu einem unweit von der Werkbank stehenden Aktenschrank und öffnete ihn. Eine Fülle an Ordnern, auf deren Rücken fette schwarze Jahreszahlen geklebt waren, offenbarte sich ihnen. Botti zog den aktuellsten heraus, öffnete ihn, blätterte ohne jede erkennbare Eile oder auch Unsicherheit und reichte Giulia schließlich die Kladde.
Die Zeichnung war gut. Die Striche schienen mit einer erstaunlichen Leichtigkeit gezogen worden zu sein. Schnell und trotzdem präzise.
»Wer ist das?«, fragte Elena, die hinter Giulia getreten war, um ihr neugierig über die Schulter zu schauen.
»Ein Mönch«, murmelte Giulia, als ob sie das rechts unten auf dem Blatt hingekritzelte Wort vorlesen würde. Dabei brauchte sie sich nicht einmal bemühen, eine Ähnlichkeit zu Pater Donato zu finden. Es bestand schlichtweg keine. Auch mit den anderen Mönchen, die in Piona lebten, hatte dieses Bild nichts gemein. Giulia spürte, wie plötzlich ihr Mund trocken wurde. Sie hatte gehofft, zumindest in das stilisierte Antlitz Donatos zu blicken. Das hätte ein wichtiger Hinweis sein können. Aber das hier war nichts als eine Fantasiefigur.
Alfredo Botti fühlte sich sichtlich unwohl. Er sprach dies jedoch nicht aus, sondern machte sich schleunigst daran, Giulia den Hefter wieder abzunehmen, bevor Elena und sie noch weitere Indiskretionen von ihm fordern konnten. »Ich sagte es ja, kein Frankenstein«, sagte er und zog sich wieder auf seinen Platz zurück.
»Ihre Familie hatte ihre Werkstatt schon immer in Colico?«, fragte Giulia weiter, wobei sie sich noch immer darum bemühte, ihre Enttäuschung herunterzuschlucken.
»Ja«, antwortete er. »Genau hier.«
»Dann kennen Sie selbstverständlich das Kloster sowie dessen Mönche?«, wollte Giulia wissen.
»Jeder kennt das Kloster«, antwortete er, als hätte Giulia ihn nach der Uhrzeit gefragt. »Aber ich bin nicht gläubig und auch nicht sonderlich erpicht auf Honig und Kräutertees.«
Giulia fragte sich, wieso diesen Mann nichts aus der Ruhe zu bringen schien. Er saß hier und beantwortete ihre Fragen, als wäre das alles das Unwichtigste auf der Welt. Er schien es nicht einmal eilig zu haben, sie wieder loszuwerden, zumindest gab es keine Anzeichen dafür.
»Was ist mit den Mönchen?«, hakte Giulia nach. »Kannten Sie Pater Donato?«
»Nein«, sagte er.
Giulia verschränkte die Arme und lehnte sich gegen einen der Stützpfeiler, der nicht mit Puppen zugehängt war. »Bei allen Auftritten des Teatro, die ich bis jetzt erlebt habe, schwang ein unbändiger Hass auf die Kirche, aber auch auf das Kloster von Piona mit«, erklärte Giulia. »Sie kennen die Pierantognettis gut. Haben Sie eine Erklärung dafür?«
Er sagte eine Weile nichts. Dann hob er an: »Puppenspieler sind ein ganz eigener Menschenschlag. Eine rationale Erklärung für deren Verhalten zu finden, ist nahezu ausgeschlossen.«
»Da mag etwas dran sein«, erwiderte Giulia. »Und trotzdem kann ich mich damit nicht zufriedengeben. Ich denke, da steckt etwas mehr dahinter, das weit in die Vergangenheit zurückreicht. Ihr Großvater, Tullio Botti, und Riccardo Pierantognetti, der Großvater von Paola und Romualdo, waren Freunde.«
Alfredo Botti wartete höflich, aber ein großartiges Interesse an ihren Ausführungen zeigte er nicht.
»Zu diesem Gespann gesellte sich jedoch noch ein Dritter, ein Pater aus der Abtei in Piona«, fuhr sie fort. »Irgendetwas hat die Männer entzweit. Und dies muss so einschneidend gewesen sein, dass der Hass, der daraus erwachsen ist, bis heute anhält. Können Sie mir sagen, was das gewesen sein könnte?«
»Tullio ist seit fast dreißig Jahren tot«, entgegnete Botti. »Meinen Vater haben wir vor zwei Jahren unter die Erde gebracht. Es gibt niemanden mehr, den ich danach fragen könnte. Und so bedeutsam scheint diese Angelegenheit nicht gewesen zu sein, da sie niemand überliefert hat.«
»Sehr schade«, erwiderte Giulia nachdenklich. »Wirklich sehr schade.«
Alfredo Botti wirkte nun ebenfalls so, als würde er es bedauern.
»Sie hatten ein gutes Verhältnis zu Ihrem Vater und Großvater?«, fragte Giulia.
»Ich hätte keine besseren Lehrmeister haben können«, erwiderte Botti.
Giulia schaute ihn eine Weile schweigend an. Er hielt ihrem Blick scheinbar mühelos stand. »Wir müssen dann wieder. Wir haben Ihnen genug Zeit gestohlen.« Sie lächelte.
Er erhob sich. »Ich begleite Sie hinaus.«
Giulia hob abwehrend die Hände. »Keine Umstände bitte. Wir schließen auch die Tür.« Sie zwinkerte ihm zu und schickte sich zum Gehen an. Sie hätte den Weg an der Regalreihe vorbei hinüber zur Treppe nehmen können. Er lag etwas im Dunkeln, aber führte direkt zum Ausgang. Aus irgendeinem Grund schlug sie jedoch einen kleinen Haken. Womöglich lag es an dem Licht, das sie anzog, oder einfach nur an einem achtlosen Moment. Sie hätte es nicht sagen können. Der Grund dafür war auch unwichtig. Entscheidend war, dass sie etwas zu sehen bekam, das unter Garantie nicht für ihre Augen bestimmt gewesen war. Es handelte sich um eine Zeichnung. Darauf zu sehen war sie, die Commissario Giulia Cesare aus Abbadia Lariana.
***
Etwa vierzig Minuten später waren Giulia und Elena zurück in der Questura. Giulia hatte sich vorgenommen, die wenigen persönlichen Dinge von Pater Donato, die sich bei den Kriminaltechnikern befanden, noch einmal genauer zu sichten. Sie hegte zwar nicht viel Hoffnung, aber möglicherweise fand sie mit dem Erkenntnisstand von heute irgendetwas, was sie ein Stück weiterbrachte. Hilfsbereit wie Elena war, hatte sie sich angeboten, die Sachen bei den Kollegen abzuholen. Giulia, die ohnehin nie besonders darauf erpicht war, Riso zu begegnen, hatte dem dankbar zugestimmt. Jetzt lehnte sie bequem mit einer Tasse Espresso in der Hand in ihrem Schreibtischstuhl und betrachtete ihr Spiegelbild im schwarzen Bildschirm ihres Computers. Diese durchgeknallten Puppenspieler hatten tatsächlich vor, sie zu einer Figur bei einer ihrer nächsten Aufführungen zu machen. Womöglich sollte sie das erschrecken oder zumindest verunsichern, aber nichts dergleichen ging in ihr vor. Alfredo Botti würde in ein Stück Holz ihre Gesichtszüge einarbeiten. Womöglich würde er auch noch die für Giulia fast schon obligatorische Jeans nähen und ihr ein blaues T-Shirt anziehen. Sie trug öfters Blau, eigentlich ständig, und jemand mit einem geschulten Auge für solche Dinge hätte dies natürlich mühelos bemerkt. Konnte es diesem undurchschaubaren Botti wirklich gleichgültig sein, wen er da erschuf? Zumindest hatte er alles darangesetzt, diesen Eindruck zu vermitteln. Womöglich war das auch vollkommen in Ordnung. Ob achtundsechzig Ratten oder eine Commissario vom Comer See, welche Rolle spielte das schon? Er bekam einen Auftrag, arbeitete ihn ab und kassierte dafür sein Geld. Gestalterisch waren seine Kreationen sicherlich alle wertvoll, echte Handarbeiten mit einem besonderen Blick für die Details, und was dann damit geschah, fiel unter das Credo der künstlerischen Freiheit, allerdings die eines anderen. Nein, sie konnte Botti nicht für die Taten Dritter verantwortlich machen. Eine Maskenbildnerin war auch nicht zur Rechenschaft zu ziehen, wenn ein Schauspieler sein Fach nicht beherrschte. Trotzdem sah sie in Alfredo Botti mehr als nur einen einfachen Puppenschnitzer. Sie unterschätzte ihn, wenn sie ihn zu einem willfährigen Handlanger degradierte. Giulia setzte sich zackig auf, stellte die Tasse auf ihrer Schreibtischunterlage ab und wackelte an ihrer Computermaus. Etwas später tat sich vor ihr die Veranstaltungsplanung der Puppenspieler auf. Sie fand, wonach sie suchte. Morgen gab das Teatro eine Sondervorstellung in ihrem Heimatdorf. Dann musste sie sich nicht mehr lange gedulden, um zu sehen, was der Frankenstein der Puppen zu Wege gebracht hatte. Hoffentlich hatte er sie wenigstens ein paar Jahre jünger gemacht. Das war das Mindeste, was er für sie tun konnte.
»Giuli?« Auf den Ausruf ihres Namens folgte ein kraftvolles Klopfen. Giulia schaute auf. Es war Riso, der Chef der Kriminaltechniker, der im Rahmen ihrer Bürotür stand und, als wäre ihr Aufschauen eine Einladung gewesen, eintrat.
»Commissario, du hast Post«, sagte er mit gedämpfter Stimme und streckte ihr einen aufgerissenen Umschlag entgegen.
Giulia wollte gerade etwas darauf erwidern, als Elena an Riso vorbeifegte und ihr einen Karton auf den Schreibtisch stellte. »Er hat sich einfach nicht abwimmeln lassen, der Kollege«, sagte sie wie zum Scherz, aber Giulia wusste, dass es ihr Ernst war.
»So etwas übergibt man persönlich«, sagte Riso mit halb beleidigtem Unterton, die Hand mit dem Umschlag noch vor sich haltend.
»Schon offen?«, fragte Giulia irritiert.
»Ein Versehen«, entgegnete Riso. »Die Handschrift ähnelte Tildas, und ich dachte, sie hätte mir die neueste Vogue geschickt.«
Elena konnte sich einen Lacher nicht verkneifen.
»Wieso sollte dir deine Frau eine Modezeitung ins Büro schicken?«, fragte Giulia. An normalen Tagen hätte sie diese Frage nicht einmal mehr gestellt, aber heute konnte sie einfach nicht anders. Risos Verhalten und auch das seiner Tilda war dermaßen absurd, dass ihn irgendwann mal jemand darauf bringen musste.
»Wieso nicht?«, entgegnete er voller Arglosigkeit.
»Ihr wohnt zusammen, seht euch jeden Abend, und du kannst die Zeitung nach deiner Arbeit lesen«, entfuhr es Giulia.
Elena senkte den Kopf und bemühte sich sichtbar darum, nicht auf Giulias Worte einzusteigen. Innerhalb der Questura herrschte eine festgeschriebene Hierarchie, und auch wenn diese nichts mit der Arbeitseinstellung oder dem Engagement zu tun hatte, befand sich Riso oben und Elena unten.
»Heute ist der zwölfte«, antwortete Riso trotzig.
»Und?«, wollte Giulia wissen.
»Das Erscheinungsdatum der Vogue«, entgegnete er. »Tilda kauft sie auf dem Weg zur Arbeit am Kiosk und gibt sie für mich an der Pforte ab. Dann bin ich absolut up to date, wenn ich nach Hause komme. Verstehst du?«
Giulia biss sich auf die Zunge und nahm ihm den Umschlag ab.
»Das, was da drin ist, verstehe ich nicht. Es sieht aus wie ein Tagebuch, aber es ist langweilig wie ein Film von Paolo Sorrentino«, bemerkte er beiläufig und im Herausgehen begriffen. »Nur wirres Zeug ohne Zusammenhang. Grauenvoll.«
Giulia wusste, dass Riso Sorrentino spätestens seit seinem Berlusconi-Film abgrundtief hasste, was für den Regisseur und nicht für Risos politische Einstellung sprach. »Ein Tagebuch?«, fragte sie und griff nach dem Umschlag.
Riso nickte. »Ich will aber mal hoffen, dass sich das derjenige, der das zu Papier gebracht hat, nur ausgedacht hat. Bei einem so trögen Leben ist man ja lieber tot.« Er schüttelte den Kopf. »Grauenvolle Existenzen gibt es. Ganz grauenvoll.« Er gähnte.
Giulia hätte ihn am liebsten zurück zu seiner Vogue geschickt. Stattdessen fasste sie in den Umschlag. Was sie herausbeförderte, war ein kleines Heftchen. Bereits auf der ersten Seite war ihr klar, was sie da in den Händen hielt. Sie hatten das Tagebuch von Pater Donato gefunden. Endlich.