8»Brauchst du etwas, Kaffee, Kekse?« Elena steckte nun schon zum wiederholten Male ihren Kopf in Giulias Büro herein. »Ich könnte auch eine Pizza holen, nachdem man uns um die letzte gebracht hat. Oder magst du lieber ein Wasser?«

»Elena, bitte!«, brummte Giulia, die den Blick fest auf die handgeschriebenen Zeilen gerichtet hielt. »Ich bin noch nicht fertig.«

Elena maulte irgendetwas und verschwand. Kurz darauf tauchte sie erneut auf. »Soll ich nicht wenigstens einmal die Fingerabdrücke nehmen lassen? Zur Sicherheit.«

»Schon veranlasst«, entgegnete Giulia, woraufhin Elena wieder ging. Natürlich brannte sie darauf, zu erfahren, was Pater Donato ihnen hinterlassen hatte. Schließlich hatte niemand mehr so recht an das Auftauchen seines Tagebuches geglaubt. Dass Fiora Ogliari es am heutigen Morgen in ihrer Post vorgefunden hatte, war zweifelsohne kein Zufall. Jemandem bedeutete es etwas, dass Fiora in den Besitz des Tagesbuches kam, und dies musste nach allem, was Giulia nun wusste, ein Mensch sein, der es gut mit den Ogliaris meinte. Pater Donatos Schwester hatte sorgfältig und zweifelsohne auch, um sich von jedem Verdacht reinzuwaschen, das Kuvert, in dem sie das Buch empfangen hatte, beigefügt. Es war ein anonymes Schreiben gewesen, aber immerhin bestand die Möglichkeit, Fingerabdrücke oder DNA-Spuren daran zu finden. Dass Giulia nicht im Haus gewesen war, um die Sendung persönlich in Empfang zu nehmen, bedauerte sie ein bisschen, aber vielleicht war dies auch nicht so schlecht, damit sie sich selbst erst einmal ein Bild von alldem machen konnte, bevor sie mit Fiora reden würde. Signora Ogliari hatte den Text ihres Bruders zweifelsohne gelesen, obwohl sie nichts dazu in den knappen Zeilen, die beigefügt waren, erwähnt hatte. Ohne Frage würde dies bei ihr unzählige Fragen aufwerfen, im Zweifel sogar ihr Leben verändern, so wie es die Ermordung ihres Bruders ohnehin bereits getan hatte.

Gedankenverloren schob Giulia das Tagebuch vorsichtig ein wenig beiseite und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, um das Gelesene in Ruhe zu überdenken. Augusto Ogliari, Pater Donato, war für sie bis vor wenigen Tagen ein Fremder gewesen. Erst sein gewaltsamer Tod hatte ihn in Giulias Leben geführt, eine späte Fügung, die sie nun zutiefst bedauerte. Gianmarco hatte recht gehabt mit dem, was er über den Pater gesagt hatte. Er musste ein ganz außergewöhnlicher Mensch gewesen sein. Dieses Tagebuch, insbesondere das darin liegende Ansinnen, hatte ihr das noch einmal mehr vor Augen geführt. Dabei ging es ihm nicht, was man vielleicht bei einem Manne seines Schlages hätte vermuten können, um ein vor Vernunft und Weisheit triefendes Vermächtnis, auch suchte man diverse Glaubensbekenntnisse oder Schilderungen seiner Erlebnisse vollkommen umsonst. Entsprechend war der Adressat auch nicht die Allgemeinheit. Pater Donato gewährte einen Blick in seine Seele, eine Wahrheit, die er nicht aussprechen konnte und der er sich doch verpflichtet fühlte. Diese war einzig und allein für seine Schwester Fiora bestimmt. Und auch wenn er das so nicht explizit vermerkt hatte, war sie die Einzige, die ein Anrecht auf all diese Dinge hatte. Den Rahmen dafür hatte er mit Bedacht gewählt. Das Buch bestand aus edlem, schnörkellosem Leder und feinem weißem Papier. Es war mit Sorgfalt geschrieben, ohne erkennbare Hast und den daraus vermeintlich resultierenden Ausstreichungen. Was Donato zu sagen hatte, tat er in völliger Besonnenheit, und die brauchte keine Korrekturen. Wenn Giulia an den goldenen Füllhalter dachte, den sie in seinem Schreibpult gefunden hatte, ahnte sie, wie viel Mühe Donato sich damit gegeben haben musste. Es begann am Tag der Diagnose seiner irreparablen Nierenschäden. Jede Minute dieses Schicksalsmomentes schien er vermerkt zu haben. Streckenweise hatte er dazu sogar den Arztbericht zitiert. Fiora sollte alles wissen, denn nur so konnte sie wohl auch verstehen, was ihn auf der letzten Etappe seines Lebens antrieb. Von Groll oder Rache vor allem gegenüber Gianmarco, seinem Arzt, fand sich nichts in seinen Worten. Stattdessen sprach er von einem Freund, dessen Hilfe er wieder und wieder ausgeschlagen hatte. Es schien ihm ausnehmend wichtig, dass auch Fiora diesen Gianmarco sah, den Mann, der, wie Donato es formuliert hatte, ihm eine Erkenntnis ermöglicht hatte, die sich ihm ansonsten niemals offenbart hätte. Sein Umzug nach Piona beruhte nicht auf einem Zufall oder einer Laune, sondern er war der erste und ganz bewusste Schritt zu sich selbst gewesen. Die Rückkehr in die Heimat, die Nähe zu der geliebten Schwester bedeuteten ihm sehr viel, aber sie waren auch die Grundlage für all das, was er sich vorgenommen hatte. Dass seine Schwester das nicht wissen konnte, ihr bis auf einen einzigen Besuch stetiges Ausbleiben, erwähnte er jedoch mit keiner Silbe. Überhaupt fand sich in seiner Darstellung nicht ein einziger Vorwurf oder auch nur der Eindruck, er könnte Gram empfunden haben. Allenfalls wenn es um die Abtei ging, las man Wehmut in seinen Zeilen. So bedauerte er es, die Blüten seiner geliebten Pfirsichbäume irgendwann nie wieder sehen zu können. Auch die Sorge um seine Bienen fand Erwähnung. Von seiner Nachfolge als Abt oder auch von seiner Verantwortung für die Mitbrüder sprach er jedoch nicht. Das verwunderte wenig, denn sein Gang nach Piona war zu keiner Zeit ein Plan für die Zukunft gewesen. Sein Zustand, den er den anderen rücksichtsvoll so tunlichst verschwiegen hatte, verbot ihm das. Und obwohl er Hochachtung für Piona und seine Menschen empfand, schienen sie zu diesem Zeitpunkt seines Lebens nur noch Mittel zum Zweck für ihn gewesen zu sein, mit Ausnahme von Gianmarco. Irgendwann, Giulia hatte schon kaum noch Hoffnung gehabt, kam Donato auf das zu sprechen, was er vormals immer nur als »Weg zu sich selbst« umschrieben hatte. Es begann mit den ausführlichen Erinnerungen an seinen Vater. Anfänglich hatte sich Giulia auf diese keinen rechten Reim machen können. Sie hatte sogar vermutet, Donato wollte seiner Schwester ein Bild einpflanzen, das real so nicht existiert hatte, aber je weiter sie las, umso mehr wurde ihr klar, was Donato mit all dem bezwecken wollte. Er war an den See zurückgekehrt, um das Geheimnis seiner Familie zu lüften, das ihn seit dem Tod seines Vaters beschäftigte. Giulia nahm die eingerahmte Fotografie in die Hand, die sie in dem Koffer unter Pater Donatos Bett gefunden hatten. Sie zeigte ein junges Paar, vermutlich kaum dreißig Jahre alt, das sich einander zugetan anlächelte. Giulia erinnerte sich an das erste Mal, als sie dieses Bild in Donatos Zelle in den Händen gehalten hatte. Sie hatte das naheliegende und fraglos auch korrekte angenommen, nämlich Donatos Eltern, Ennio und Anna, darauf zu sehen. Sie legte das Foto zurück auf ihren Schreibtisch und zog sich zum wiederholten Male das andere Schwarz-Weiß-Bild, das zwischen den Seiten des Tagesbuches gesteckt hatte und von den Jahren deutlich mitgenommener war, heran. Auf dem kleineren vergilbten Foto war ebendieser Mann zu sehen, nur dass die Frau, der er seine verliebten Blicke schenkte, eine andere war. Beim ersten flüchtigen Betrachten beider Bilder war Giulia noch der Meinung gewesen, dass Donato neben dem Hochzeitsbild seiner Eltern aus unerfindlichen Gründen auch noch eine Erinnerung an eine frühere Liebschaft seines Vaters aufbewahrt hatte. Sogar an einen geschiedenen oder verwitweten Ennio hatte sie gedacht. In den Wirren des Krieges waren so einige Lebenslinien von Brüchen und Veränderungen gezeichnet gewesen. Wieso sollte es Pater Donatos Vater anders ergangen sein? Doch nichts war so, wie sie es vermutet hatte. Wie zur Versicherung, dass sie keinem Irrtum aufgesessen war, drehte Giulia das zweite Bild noch einmal um. Dort hatte jemand mit schnörkeliger Schrift »Lucilla und Tullio, 1942« vermerkt, zwei andere Namen, ein identischer Mann. Dieses Bild, das Pater Donato im Nachlass seines verstorbenen Vaters gefunden hatte, war der Schlüssel zu einem traurigen Geheimnis gewesen, auf dessen Spur sich Donato seit seiner Ankunft in Piona befand und dessen Lösung er kurz vor seinem Tod zum Greifen nah gewesen sein musste.

»Ich halte es nicht mehr aus.« Elena marschierte mit ihrem iPad unter dem Arm in Giulias Büro und setzte sich entschlossen auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. »Was steht da drin?« Sie deutete mit dem Kopf auf das Tagebuch vor Giulia.

Giulia holte tief Luft. »Donatos Vater war jemand anderes, als er vorgegeben hatte zu sein«, sagte sie nur.

»Häh?« Elena Nachfrage war ein wenig zu plump, aber sie entsprach in etwa dem, was in Giulias Kopf vorging.

»Er hat nach dem Zweiten Weltkrieg seine Identität gewechselt«, entgegnete Giulia.

»Ein Kriegsverbrecher?«, schlussfolgerte Elena das aus ihrer politischen Denke heraus Naheliegende.

»Das nehme ich nicht an, zumindest steht hier nichts davon«, entgegnete Giulia. »Angeblich wurde Pater Donatos Vater als junger Soldat im Jahr 1943 von den Deutschen gefangen genommen und auf die griechische Insel Kefalonia gebracht. So wie ich die Schilderungen Donatos deute, war das alles, was sein Vater von dieser Zeit erzählt hat.«

»Die schweigende Generation«, murmelte Elena nachdenklich und bemühte gleichzeitig das Gerät auf ihrem Schoß.

»Pater Donato hat alles niedergeschrieben, was er zu seinem Vater herausgefunden hat, aber es ist lückenhaft«, erklärte Giulia. »Er war noch nicht am Ende seiner Nachforschungen, zumindest steht hier davon nichts. Das Tagebuch endet zwei Tage vor seiner Ermordung. Selbst wenn er schon auf mehr gestoßen war, hatte er nicht die Zeit gehabt, es festzuhalten. Leider.«

Elena blies die Wangen auf. »Der Vater war auf Kefalonia, in Griechenland?«, versicherte sich Elena. »1943?«

Giulia bestätigte das.

»Da gab es ein Kriegsgefangenenlager der Deutschen«, berichtete Elena das, was sie offenkundig dazu im Internet gefunden hatte. »Rund fünftausend italienische Soldaten haben sie hingerichtet aus Rache dafür, dass der einstige Verbündete Italien den »Stahlpakt«, den Bündnisvertrag mit dem Deutschen Reich, aufgekündigt hat.« Elena hob den Kopf und schaute Giulia fragend an. »Wusstest du das?«

»Nein, nie gehört«, gestand Giulia.

»Das ist ja mal wieder typisch«, meckerte Elena, als sie weiterlas.

»Was meinst du?«, fragte Giulia nach.

»Die Aufarbeitung«, entgegnete Elena. »Kaum jemand hat sich um eine anständige Aufarbeitung bemüht. Erst in den Siebzigerjahren kam etwas Bewegung hinein. Aber die Schuldigen wurden niemals zur Rechenschaft gezogen. Immer das Gleiche.« Elena machte ein verkniffenes Gesicht. »Angeblich sollen sogar Unterlagen dazu im ›Schrank der Schande‹ gefunden worden sein.«

Jeder in Italien, so auch Giulia, kannte den »Schrank der Schande«, einen Schrank, der sich im Palazzo Cesi, dem Sitz der Allgemeinen Militäranwaltschaft in Rom befand und in den in den Sechzigerjahren die Akten über deutsche Kriegsverbrechen verbracht wurden. Die Tragik lag darin, dass man den Schrank nicht nur versiegelt und mit einem Eisengitter versehen, sondern ihn auch noch mit der Tür zur Wand aufgestellt hatte. Der Plan war aufgegangen, denn bis in das Jahr 1994 blieben die Akten unentdeckt. »Pater Donatos Vater muss das Massaker überlebt haben«, schlussfolgerte Giulia das Naheliegende.

»Mhm. Aber warum wechselt man seine Identität, wenn man nichts Unrechtes getan hat?«, fragte Elena, während sie sich nach vorn beugte und sich die beiden Fotos nahm, um sie ausgiebig zu betrachten.

»Das müssen wir herausbekommen. Auch für Signora Ogliari«, antwortete Giulia.

***

Abt Benedetto saß auf einer Bank vor dem Eingang zur Kirche. Von Weitem wirkte er wie ein alter, einsamer Mann, der die Wärme der Sonnenstrahlen gesucht hatte, um seine müden Knochen zu stärken. Je näher ihm Giulia jedoch kam, umso mehr wurde ihr klar, dass er sie erwartet hatte. Der Abt hob sogar erleichtert die Mundwinkel, als er ihrer gewahr wurde, kehrte aber umgehend zu seinem traurigen, ja fast schon schuldvollen Gesichtsausdruck zurück. Sie beide wussten, was ihr erneutes Zusammentreffen zu bedeuten hatte.

»Es ist wohl an der Zeit«, sagte er leise, nachdem sie sich schweigend zu ihm gesetzt hatte.

»Fiora hat das Tagebuch bekommen«, sagte Giulia. Dabei war es ihr, als ob der Abt dies mit einem zaghaften Nicken quittierte. »Es war mit Ihren Fingerabdrücken übersät.«

Das schien ihn zu verwundern. »Ich wusste nicht …«, hob er an, brachte aber den Satz nicht zu Ende.

»Sie haben es nicht gelesen?«, fragte Giulia, obwohl er ihr diese Frage schon einmal beantwortet hatte.

»Nein«, entgegnete er entschieden. »Ich habe eine Vermutung, was drinstehen könnte, aber ich habe es nicht angerührt. Es ist allein für seine Schwester bestimmt. Sie stand ihm so nahe wie kein zweiter Mensch.« Er hielt kurz inne. »Haben Sie etwas darin finden können, was Ihnen weiterhilft?«, fragte er und klang dabei, als würde ihn die Vorstellung verstören.

»Ein wenig«, antwortete Giulia. »Aber er konnte es nicht mehr zu Ende bringen.«

Der Abt seufzte. »Dann sollte es so sein«, erwiderte er. »Ich hätte ihm so sehr gewünscht, dass er das findet, was er gesucht hat.«

»Ich bin mir sicher, dass er es gefunden hat«, sagte Giulia.

Den Abt durchfuhr ein Schreck. »Sie meinen …«, haspelte er aufgeregt, »… er wurde … seine Suche könnte im Zusammenhang mit seinem Tod stehen?«

Giulia bejahte das.

»Aber …?« Die Hände des Abtes, die bislang ruhig auf seinen Knien gelegen hatten, fingen an zu zittern. Er sagte nichts mehr, doch Giulia konnte ihm ansehen, dass ihn diese Erkenntnis innerlich förmlich zerriss. »Dann habe ich eine Mordermittlung behindert«, hauchte er kraftlos. »Das war zu keinem Zeitpunkt meine Absicht. Herr im Himmel! Ich wollte doch nur Donatos Privatsphäre schützen! Um etwas anderes ist es mir niemals gegangen.«

»Wie gesagt, Donato ist uns eine Antwort schuldig geblieben«, sagte Giulia. »Und Sie haben aus Ihrer Sicht das Richtige getan. Sie hätten es mir nur sagen müssen, anstatt mir die Geschichte von einem verschwundenen Tagebuch zu erzählen.« Ganz sicher hatte sie das eigenmächtige Handeln des Abtes Zeit gekostet. Aber nichts von alledem, was sie in Pater Donatos Vermächtnis gelesen hatte, war so eindeutig, dass es ihr den Mörder auf dem Silbertablett serviert hätte. Zudem konnte sie sich noch nicht einmal jetzt, nachdem sie sein Geheimnis kannte, hundertprozentig sicher sein, dass dies auch der Grund für seinen Tod war. Was sie jedoch bei dem Ganzen noch mehr umtrieb, war die Tatsache, dass der Abt sie eiskalt angelogen hatte. Er hatte die Fäden gezogen, Richtig und Falsch definiert, nach seinen Maßstäben und ohne Rücksicht auf andere. Er hatte, angetrieben vom Wunsch, seine Abtei zu schützen, für sich die Deutungshoheit reklamiert. Und die stand über Recht und Gesetz, also im weltlichen Sinne. Giulia gefiel das nicht, und sie fragte sich, was der Abt wohl noch hinter ihrem Rücken trieb. »Was hat der Pater Ihnen über seine Nachforschungen erzählt?«, fragte sie.

Der Abt brauchte eine Weile mit der Antwort. »Ich wusste, dass es um seine Familie ging«, sagte er.

»Das ist alles?«, hakte Giulia nach und ärgerte sich, dass er im Vorfeld auch darüber kein Sterbenswörtchen verloren hatte.

»Ja. Pater Donato hat alles Wesentliche, wirklich alles, wie ich heute weiß, mit sich selbst und unserem Herrn ausgemacht«, sagte er. »In den letzten Wochen war er anders, viel schweigsamer und nachdenklicher. Ich weiß noch, dass ich ihn gefragt habe, was ihn umtreibt. ›Familienangelegenheiten‹, war seine Antwort gewesen. Nun, ich verabscheue Indiskretionen. Deswegen habe ich mich an diesem Punkt auch zurückgezogen.« Er machte eine Pause. »Sie haben mich vor ein paar Tagen nach den Puppenspielern gefragt«, fuhr er fort. »Ich weiß, Sie vermuten, der Mord an Donato könnte etwas mit ihnen zu tun haben. Mir erschließt sich das nicht, aber ich möchte nicht den gleichen Fehler noch einmal machen.« Der Abt erhob sich und verschwand in dem Gebäude. Ein paar Minuten später kam er zurück und reichte Giulia ein altes Foto. Darauf waren drei junge Männer zu sehen. Sie standen nebeneinander, lachten in die Kamera. Einer von ihnen hielt eine Puppe auf dem Arm. Es war Tavà, kein Zweifel. Neben ihm stand ein Mönch. Giulia hielt sich das Bild fast direkt unter die Nase, um alles besser erkennen zu können.

»Ist das Abt Benedetto?«, fragte sie, noch immer wie gebannt auf die Aufnahme blickend.

»Ja«, antwortete der Abt. »Das ist Benedetto.«

Giulias Haut fing vor Aufregung an zu kribbeln. Das war der Mönch, der Mönch auf der Zeichnung, die ihnen Alfredo Botti vorhin so widerwillig präsentiert hatte. Die herben Gesichtszüge, die eng stehenden Augen, das dichte, dunkle Haar, alles stimmte überein. Die Mönchspuppe, die die Puppenspieler am Samstag vor ihren Augen geköpft hatten, sollte den alten Abt Benedetto darstellen. Aber wieso machten sich diese unsäglichen Geschwister dermaßen viel Mühe, wenn es kaum noch jemanden gab, der den Abt kennen konnte? Alfredo Botti hatte die Puppe zweifelsohne extra für ihren Auftritt in Colico anfertigen müssen. Was versprachen sich die Puppenspieler von einer Gemeinheit, die niemand deuten konnte?

»Das sind sie, die drei Freunde«, sagte der Abt bekümmert. »Darin liegt die Verbindung der Puppenspieler zu unserem Kloster. Allein darin.«

»Tullio Botti, Riccardo Pierantognetti und der Abt Benedetto«, murmelte Giulia.

Ein tiefer Atemzug des Abtes war zu hören. »Es war die letzte Zusammenkunft, bevor die Männer in den Krieg gezogen sind«, sagte er. »Das Ende der glücklichen Zeiten.«

Nach dem Krieg gab es keine Freundschaft mehr, erwiderte Giulia in Gedanken. »Was war der Grund?«, fragte sie laut.

Abt Benedetto schwieg.

Giulia ließ von der Aufnahme ab und schaute zum Klostergarten hinüber. Eine sanfte Brise fuhr in die Blätter der alten Bäume. Die Vögel zwitscherten. Sie betrachtete erneut das Foto. »Der mit der Puppe ist Riccardo Pierantognetti«, sagte sie irgendwann.

Der Abt reagierte noch immer nicht, aber sie wusste, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag. »Dann ist das Tullio Botti«, hauchte sie nahezu tonlos. Ein dicker Kloß schien ihr den Hals zuzuschnüren. Der Mann war niemand anderes als der, den sie auf den beiden Fotos von Pater Donato gesehen hatte.

***

»Pater Donato? Der Sohn?« Der Abt konnte offenbar nicht glauben, was Giulia ihm da gerade erzählte. »Aber das ist nicht möglich. Augusto Ogliari stammt aus Gravedonna, von der anderen Seite des Sees. Seine Eltern haben sich nach dem Krieg ein kleines Unternehmen aufgebaut. Er ist dort aufgewachsen. Niemals hat er etwas anderes erwähnt. Sie müssen sich irren, Commissario, ganz gewiss.«

Giulia irrte sich nicht. Ennio Ogliari war Tullio Botti. Die Fotos ließen keine Zweifel zu. Wieso der einstige Tullio aber zu Ennio geworden war, erschloss sich ihr nicht. Die Bottis waren bereits damals eine angesehene Familie gewesen, erfolgreich, wohlhabend und in ganz Italien bekannt. Jeder Nachfahre bekam eine ganz besondere Chance mit in die Wiege gelegt. Um diese auszuschlagen, brauchte es schon einen triftigen Grund. Noch dazu wenn Ennio Ogliari nach dem Krieg vollkommen neu hatte anfangen müssen. Giulia erinnerte sich an die Schilderungen Signora Fioras, laut denen das Leben ihrer Eltern äußerst beschwerlich gewesen sein musste. »Kannte Pater Donato dieses Foto?«, fragte Giulia.

»Ich weiß nicht … Es ist …«, stammelte der Abt. »Es gehört zu meinen privaten Sachen. Abt Benedetto hat es mir kurz vor seinem Tod geschenkt.« Er hielt inne und schien nachzudenken. »Er hat mir gesagt, diese Freundschaft sei das Wichtigste in seinem Leben gewesen. Genau das hat er gesagt.«

»Mehr nicht?«, hakte Giulia nach.

»Nein«, entgegnete der Abt. »Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe«, stammelte er, »bei seiner Beerdigung … Keiner der Männer war anwesend. Zuerst habe ich vermutet, sie wären im Krieg geblieben, aber dann war das Teatro dei Burattini in Colico zu Gast und …«

»Beide haben den Krieg überlebt«, wusste Giulia.

»Das Zerwürfnis muss so groß gewesen sein, dass sie ihm nicht einmal die letzte Ehre erweisen konnten«, redete der Abt weiter. »Auch die Zeit schien das nicht geheilt zu haben. Solange ich hier lebe, habe ich niemals einen der Männer bei uns gesehen.«

Giulia fielen die Worte von Romualdo Pierantognetti wieder ein. Er und seine Schwester Paola wollten niemals im Kloster gewesen sein. Und auch Alfredo Botti hatte sich ähnlich geäußert. »Kannte Pater Donato dieses Foto?«, wollte Giulia noch einmal wissen.

»Entschuldigung, ich …« Der Abt wischte sich mit der flachen Hand über das Gesicht. »Es ist nicht auszuschließen«, gab er zu. »In meinem Alter beginnt man, seinen Nachlass zu ordnen. Sie glauben vielleicht, das ist bei einem Mann Gottes nicht der Rede wert, aber da irren Sie sich. Vor ein paar Tagen ist Pater Donato dazugekommen. Es war Zufall, wenn es das überhaupt gibt. Jedenfalls lag das Bild auf meinen Schreibtisch.«

Das muss ein weiterer Puzzlestein in Donatos Suche gewesen sein, wenn nicht sogar der entscheidende, dachte Giulia.

»Dann war Donato ein Botti«, schlussfolgerte der Abt. »Ein Nachfahre der berühmten Puppenschnitzerfamilie?«

Giulia nickte verhalten. Und bei dem Gedanken daran schlug ihr das Herz bis zum Hals.

***

Im Gastraum der Osteria Sali e Tabacchi konnte man kaum noch Luft holen, so dicht drängten sich die Menschen aneinander. Der Auftritt des Teatro dei Burattini gehörte zweifelsohne auch auf Giulias Berg zu den Höhepunkten. Fast das ganze Dorf war gekommen, einschließlich natürlich Giulias Eltern Maria und Piergiuseppe. Brutus durfte selbstverständlich auch nicht fehlen, aber im Gegensatz zu sonstigen Anlässen saß er heute nicht neben Giulia und Jacopo, sondern mit Elena in der ersten Reihe. Sie hätte doch zu gern gewusst, was zwischen ihnen lief, aber darüber schwiegen sich beide aus. Stattdessen hatte sich zu Giulias Erstaunen Tiziana De Angelis, ihre alte Bestatterfreundin, zu ihnen gesellt. Und auch Fiora Ogliari war gekommen, hielt sich aber weit ab vom größten Tumult in einer der hintersten Ecken auf.

»Es ist an der Zeit, liebe Freunde«, rief Tavà in die Menge. Niemand schien bereits mit dem Beginn der Vorführung gerechnet zu haben, und entsprechend unruhig war es im Auditorium. Aber da die Puppenspieler immer für eine Überraschung gut waren, hatten sie sich sicherlich auch bei diesem seltsamen Start etwas gedacht. Jedenfalls verfehlte Tavà sein Ziel nicht, denn es kehrte schlagartig Ruhe ein. »Selbst wenn ihr glaubt, das Ende zu kennen, so ist dies doch nicht mehr als ein Nebelschweif eurer Fantasie«, fuhr Tavà fort. »Niemals werdet ihr das Leben in seiner Gesamtheit begreifen, zu klein und unwichtig sind die Menschen, als dass sie dies vermögen können.« Abgang Tavà.

Im Publikum herrschte eine nahezu knisternde Spannung.

Ein Spot ging an, und mit ihm tauchte eine Puppe auf. Sie war noch kaum richtig zu sehen, da begannen die Leute, ausgelassen zu grölen. Begeisterungspfiffe wurden laut. »Unsere Giulia, das ist unsere Giulia«, riefen einige voller Freude. Brutus stand sogar auf und winkte ihr überschwänglich zu, während Jacopo neben ihr die Luft anzuhalten schien. Das war sie also, die Giulia Cesare, wie Alfredo Botti sie sah, dachte Giulia bei sich. Und sie musste zugeben, dass diese Puppe ihrem strengen Urteil durchaus standhalten konnte. Nein, sie war sogar ausnehmend liebreizend. Giulia jedoch ließ sich nichts anmerken.

»Es gibt sie also doch, die Drachenfrau«, raunte ihr Jacopo leise zu, wobei er diese Boshaftigkeit mit einem sanften Kuss auf ihre Wange verband.

»Da kannst du sicher sein«, entgegnete Giulia ernst. »Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«

»Du hast was?«, sagte Jacopo mit fragendem Blick.

Sie winkte ab. Cotoletta war ein Geheimnis wert, und irgendwie war sie das Bottis besonderem Können auch schuldig. Wenigstens dieses Geheimnis sollte er behalten dürfen. Es dauerte nicht lange, und das Stück konnte seinen Lauf nehmen. Mehr als eine auf der Bühne umherirrende Giulia-Puppe, die irgendwann frustriert verschwand, bekamen die Zuschauer jedoch nicht geboten. Die suchende, aber nicht findende Commissario, das war es also, was die Puppenspieler von ihr dachten. Giulia nahm es gelassen.

Zwei junge Burschen kamen zum Vorschein, deren einziger augenfälliger Unterschied die Farbe ihrer Mützen war. Beide machten Scherze, umarmten sich. Auch das Fräulein, das sie trafen, schien den einen wie den anderen zu mögen. Schließlich nahm sie den mit der blauen Kopfbedeckung zum Mann, während der andere seine rote Mütze vor Freude dazu schwenkte. Doch nichts im Leben war nur schön, und so erzählte die nächste Szene von einem Abschied, der der jungen Frau das Herz zu zerreißen schien.

»Die ziehen in den Krieg«, murmelte Giulia leise. Neben ihr nahm Tiziana einen schweren Atemzug.

Und in der Tat, die Männer kämpften gegen einen Feind, den man nicht zu sehen bekam. Sie hielten zusammen, trösteten sich und schienen das Schlimmste überstanden zu haben. Der Vorhang wurde zugezogen, und man hätte im Publikum eine Stecknadel fallen hören können. Dann ging er wieder auf. Die beiden Burschen waren noch da, aber sie saßen hinter einem hohen Zaun, müde, erschöpft und vergessen. Ein lauter Knall durchbrach die Stille. Nun blieb dem einen nur noch die blaue Mütze seines Freundes. Vor Ratlosigkeit schien er sich nicht rühren zu können. Irgendwann schien das vorüber zu sein, und ehe man sich’s versah, warf er seine blaue Mütze in den Dreck und marschierte mit der roten seines einstigen Freundes davon.

»Deswegen«, flüsterte Giulia. »Das war also der Grund.«

»Ein Botti ist nun mal ein Botti«, erwiderte Tiziana kaum hörbar.

Giulia ließ die Bühne nicht aus den Augen. Das Stück war noch nicht zu Ende, nein, es schien jetzt erst richtig Fahrt aufzunehmen. Der Soldat kehrte aus dem Krieg heim. Die junge Frau, die so sehnsüchtig ihren Geliebten erwartet hatte, wirkte ein wenig verhalten, ja fast sogar schüchtern. »Lucilla wusste, dass es nicht ihr Tullio ist«, sagte Giulia leise. »Natürlich wusste sie das.«

Wieder hörte man Tizianas lautes Atmen. Auch ging ein Raunen durch die Zuschauerreihen.

»Sie hat ihn trotzdem genommen«, schlussfolgerte Giulia, und genau das war es auch, was die Puppenspieler ihnen im Folgenden erzählten. Lucilla Botti war, wie vermutlich viele Frauen nach dem Krieg, froh, einen Mann an ihrer Seite zu haben. Sie hatte in die Familie Botti nur eingeheiratet. Womöglich befürchtete sie, alles zu verlieren. Die Zeiten waren damals andere, und sie hatte den Strohhalm, der sich ihr bot, ergriffen, mit allen Konsequenzen. Nach allem, was sich auf der Bühne nun abspielte, lebten die beiden glücklich mit dieser Lüge. Nur der Mann, der sie aus der Ferne beobachtete, um schließlich unbemerkt zu verschwinden, wirkte alles andere als froh.

Der Vorhang fiel.

***

»Augusto, äh … Pater Donato hätte unter keinen Umständen irgendetwas von den Bottis verlangt«, sagte Fiora Ogliari, die von den letzten Tagen sichtlich gezeichnet war. »Ich auch nicht. Unser Vater hätte das niemals gewollt.«

»Das konnte Alfredo nicht wissen«, entgegnete Giulia.

»Aber er hätte meinen Bruder anhören können, wenigstens ein einziges Mal«, klagte sie, »stattdessen verabredet er sich mit ihm einzig zu dem Zweck, ihn umzubringen. Wieso aber ist Augusto darauf nur eingegangen? Dieser gutgläubige Tropf.« Sie tupfte sich ein paar Tränen von der Wange. »Hätten Sie einen Grappa für mich?«

Giulia bedeutete Elena, dass sie einen besorgen sollte. Ihr Büro gab so etwas nicht her, wobei sie sich in Momenten wie diesen das Gegenteil wünschte.

»Hat er Ihnen etwas erzählt?«, fragte die Signora mit brüchiger Stimme. »Gibt es eine Erklärung?«

Giulia schloss kurz die Augen. Dann beugte sie sich über ihren Schreibtisch und griff nach Fioras Hand.

»Wir sind also nicht die, die wir ein ganzes Leben geglaubt haben zu sein«, sagte die Signora pathetisch. Dann schaute sie Giulia tief in die Augen. »Ich bin stolz auf unseren Vater. Diese Größe des Rückzuges und sogleich des Verzichtes hätte kaum jemand gezeigt. Aber natürlich erklärt sich mir jetzt auch diese Härte, die er immer hatte, gegen Augusto und mich, unsere Mutter und vor allem aber gegenüber sich selbst.«

Giulia bestätigte ihr das mit einem Nicken.

»Er und Augusto waren sich in allem so ähnlich. Es wäre schön gewesen, wieder eine richtige Familie zu haben.« Sie senkte den Kopf und schwieg.

Giulia dachte an das Verhör von Alfredo Botti. Er hatte sich nicht lange um ein Geständnis bitten lassen. Dass die Wahrheit am Licht war, schien ihm sogar eine gewisse Erleichterung zu verschaffen, doch Giulia hatte erst im Verlauf ihrer Unterhaltung begriffen, was für ihn noch schwerer wog als sein schlechtes Gewissen. Alfredo Botti hatte mit dem Auftauchen Pater Donatos alles verloren gesehen. Sein Leben, sein Erbe, all das, wofür er stand, hatte sich von jetzt auf gleich vor seinem geistigen Auge in Luft aufgelöst. Erschwerend hinzu kam, dass er keinen Grund hatte, an Donatos Entdeckung zu zweifeln. Er selbst hatte sie erst ein paar Jahre zuvor auf dem Sterbebett seiner Großmutter Lucilla erfahren. Sie hatte sie ihm gestanden, die Tragik ihres Lebens. Es waren ihre Schwiegereltern gewesen, die aus Sorge um den Fortbestand des Unternehmens die Wahrheit nicht hatten sehen wollen. Aber auch sie hatte Schuld auf sich geladen. Denn aus Angst vor dem Alleinsein, vor ihrem Dasein als Kriegswitwe, die alle nur mitleidig anblickten, hatte sie einen Mann genommen, den sie nicht liebte und der nicht der ihre war. Das hatte sich im Laufe der Jahre zweifelsohne geändert, aber ein Teil ihres Herzens hatte immer am echten Tullio gehangen. Dass der das Massaker von Kefalonia, entgegen der Annahme seines Freundes, schwer verletzt überlebt hatte und ein knappes Jahr nach seiner Rettung durch eine griechische Bauernfamilie nach Italien zurückgekehrt war, hatte sie hingegen niemals erfahren. Das hatte sich erst ihrem Enkel Alfredo durch den Besuch von Pater Donato offenbart. Der ansonsten so vernunftgeleitete Alfredo hat keinen anderen Ausweg gesehen. Sein Angebot, in aller Heimlichkeit, die ihm Donato wohl zugestanden hatte, mit der Geschichte seiner Familie im Gepäck in die Abtei zu kommen und zu reden, war von Anfang an vergiftet gewesen. Alfredo hatte nur ein Ziel gehabt: Donato aus der Welt zu schaffen. Das Stück vom geköpften Mönch hatte dem feinsinnigen, zurückhaltenden Mann, der sich niemals zuvor im Leben über so etwas wie einen Mord Gedanken gemacht hatte, die Lösung geboten. Und zugleich hatte es ihm ein wunderbares Gefühl der Genugtuung verschafft. Nicht gegenüber Donato, aber gegenüber den Geschwistern Pierantognetti. Denn Alfredos Tat lag zweifelsohne nicht allein nur in dieser bitteren Erkenntnis der Existenz Donatos begründet. Es war das betrügerische Familiengeheimnis der Familie Botti, das einen über Generationen hinweg andauernden Hass gesät, aber auch Abhängigkeiten geschaffen hatte, die sich irgendwann zu einer unerträglichen Belastung gesteigert hatten. So waren es keine Geringeren als der alte Abt Benedetto und Riccardo Pierantognetti, die engsten Freunde des Tullio Botti, die sofort wussten, dass der Mann, der da zu ihnen zurückgekehrt war, nicht der sein konnte, den sie ziehen lassen mussten. Auch wenn der Krieg einen Mann veränderte, noch dazu in so vielen durchlittenen Jahren, genügte das nicht, um die Freunde zu täuschen. Es war der Abt Benedetto gewesen, der diese Last der Lüge nicht hatte tragen wollen. Seinen Ehemann für tot erklären zu lassen und einen neuen zu ehelichen, war die eine Sache. Aber eine Ehe mit einem fremden Mann fortzuführen, der sich sogar noch der Identität des anderen bemächtigt hatte, war eine andere. Das widersprach allem, woran der Abt geglaubt hatte. Riccardo Pierantognetti hingegen musste wohl aus anderem Holz geschnitzt gewesen sein. Denn er ergriff die Chance, die sich ihm, dem damals noch mittellosen Puppenspieler, bot. Die Erpressung überlebte erstaunlicherweise die Generationen, denn der, der sein Leben auf einer Lüge aufbaute, verlor wohl niemals die Angst vor deren Entdeckung. Alfredo jedenfalls tat das, was die Familienehre von ihm verlangte: Er schnitzte Puppen für die Pierantognettis und sah dafür niemals nur einen Cent. Dass ausgerechnet Paola ihn dabei immer und immer wieder an seine falschen Gene erinnerte, war wohl allein ihrem miesen Charakter geschuldet, aber dennoch tat es seine Wirkung bei Alfredo. Mit jedem Jahr, das verging, wuchs der Druck in seiner Brust. Schließlich konnte er sich erst davon befreien, als er einen Unschuldigen richtete und dafür nun seiner gerechten Strafe entgegensah. Dass die Pierantognettis ohne die Kunst der Bottis etwas einbüßten, das durch nichts ersetzt werden konnte, war ihnen in ihrer Hochnäsigkeit sicherlich noch nicht bewusst. Sie hatten auch aus diesem menschlichen Drama, in dem sie selbst eine unrühmliche Rolle hatten, eine Geschichte gesponnen und sich damit nur noch einmal mehr über das Leben erhoben. Dass sie es waren, die Giulia den Hintergrund zu Alfredo Bottis Tat geliefert hatten, verunsicherte sie, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass Alfredo sich ihnen gegenüber offenbart hatte. Er jedenfalls stritt das vehement ab. Was auch immer außer ihrer eigenen Selbstgerechtigkeit die Puppenspieler zu ihrem Spiel getrieben hatte, Giulia würde es nicht ergründen. Dass sie es waren, die alte Feuer wieder entfacht hatten, stand für sie jedoch außer Zweifel. Das sabotierte Grab des alten Abt Benedetto war ein Beispiel dafür. Der Schuldige jedenfalls war noch nicht gefunden. Am Ende waren es wohl die Puppen, so zumindest würden es die Pierantognettis sehen, die die Wahrheit ans Licht gebracht hatten und dies auch in Zukunft tun würden.

»Ich habe das Stück der Puppenspieler womöglich nicht richtig verstanden«, redete Signora Fiora weiter und unterbrach damit Giulias Gedanken. »Aber ich habe für so etwas auch nicht viel übrig. Vielleicht ist das der Grund.«

»Ich werde Ihnen alles in Ruhe erklären, wenn der Fall abgeschlossen ist. Bitte haben Sie noch ein wenig Geduld«, entgegnete Giulia.

Die Signora nickte dankbar. »Die Puppen scheinen immer mehr zu wissen als wir normalen Menschen«, sagte sie, wobei in ihrer Stimme eine feine Ironie mitschwang.

»Nein, sie denken es nur«, entgegnete Giulia. »Aber ich glaube, dass auch das nun ein Ende gefunden hat.«

***