Kapitel 7

Carl konnte in der ersten Nacht auf dem Hof nicht schlafen, was sicher nicht am gleichmäßigen Schnarchen seines Vaters lag, mit dem er sich eine Kammer teilte. Man hatte ihnen zwei Kammern im oberen Stockwerk des Hofes hergerichtet, jeweils mit zwei Betten ausgestattet. Hätte er gewusst, wie laut sein Vater nachts schnarchte, wäre er lieber mit Gustav oder Fritz in die Kammer gegangen. Im Zweifel hätte er auf dem Boden geschlafen und die Enge in der Kammer der Gesellen gern dafür in Kauf genommen. Doch jetzt war es zu spät, und Carl würde bleiben. Außerdem wusste er nicht, wie er seinem Vater erklären sollte, dass er zu den Angestellten ziehen wollte. Nein, das würde Gerhard sicher nicht verstehen. Also versuchte sich Carl, so gut es ging, mit der Situation zu arrangieren. Es half nichts, und so fügte er sich seinem Schicksal.

Die Einrichtung der kleinen Unterkunft war spartanisch, die Tapeten an den Wänden vergilbt, ihre Betten knarrten bei jeder Bewegung, auch die Bilder an den Wänden – sie zeigten wohl die nähere Umgebung des Hofes – wirkten farblos. Doch Carl konnte sich nicht beklagen, denn eigentlich hatten sie es recht gut getroffen. Immerhin mussten sie nicht im Stall beim Vieh schlafen.

Als Carl den Kopf zur Seite wandte, konnte er durch das Fenster den Mond am Himmel stehen sehen, der sein silbriges Licht auf den Dielenboden der Kammer warf. Im Haus war noch keine Ruhe eingekehrt. Stimmen drangen an seine Ohren. Eine Männerstimme, tief und bestimmend, und die einer offensichtlich jungen Frau. Es klang, als würden die beiden sich zu später Stunde streiten. Ihre Worte konnte Carl nicht verstehen, und so drehte er sich auf die Seite und versuchte zu schlafen. Bei jeder Bewegung knarrte das Bett so laut, dass er fürchten musste, dass sein Vater aufwachen würde. Doch Gerhard hatte einen tiefen Schlaf.

Im Erdgeschoss kehrte langsam Stille ein. Eine Tür klapperte, dann kamen schwere Schritte die Treppe hinauf. Jemand zog sich in seine Kammer zurück, die sich auf demselben Korridor befand wie ihr Zimmer. Carl konnte hören, wie Stiefel ausgezogen und in die Ecke geworfen wurden. Als er Durst verspürte, schob er die Bettdecke fort und setzte sich im Bett auf. Wieder knarrte der Holzrahmen. Mit einem Blick zu seinem Vater vergewisserte sich Carl, dass Gerhard nicht aufgewacht war. Barfuß schlich er über den Flickenteppich bis zur Tür. Die Hand bereits auf der Klinke, zögerte er. Schickte es sich, nachts alleine durch das Haus seiner Auftraggeber zu schleichen, um sich etwas zu trinken aus der Küche zu holen? Es half nichts, seine Kehle fühlte sich an wie ausgedörrt. Vorsichtig drückte er die Klinke nieder und öffnete die Tür einen Spalt. Gerade als er auf den Flur treten wollte, erkannte er den Lichtschein einer Kerze, der sich zielstrebig näherte. Leise knarzten die Dielen des Fremden bei jedem Schritt, es war auffällig, dass die Gestalt vergeblich versuchte, keinen Lärm zu machen. Der Widerschein der zuckenden Flamme an den Wänden verriet die Person dennoch.

Einbrecher!, schoss es Carl durch den Kopf. Er hielt die Luft an und wich ins Zimmer zurück. Durch den Spalt warf er einen Blick nach draußen. Das Licht schien die Holztreppe hinaufzuschweben. Carl fragte sich, wer um diese Zeit noch durchs Haus geisterte.

Sollte es sich tatsächlich um einen Einbrecher handeln, so konnte er nicht tatenlos zusehen. Schnell durchquerte er die Kammer und angelte nach dem eisernen Kerzenhalter des Nachtlichts. Carl zog die Kerze aus dem Schaft und warf sie achtlos auf sein Bett. Das Nachtlicht war aus Messing gefertigt und lag schwer in seiner Hand. Damit würde er sich zur Wehr setzen, sollte es notwendig werden. Na warte!, rief Carl in Gedanken. Komm nur, und du wirst es bereuen!

Lauschend hielt er inne. Schritte näherten sich mit dem irrlichternden Kerzenschein. Leise, vorsichtige Schritte, so, als wolle der Einbrecher niemanden aufwecken. Carl umklammerte den Leuchter jetzt so fest, dass die Knöchel seiner Finger weiß unter der Haut hervortraten. Er hielt den Atem an, wartete, bis sich die Gestalt unmittelbar vor der Zimmertür befand, dann riss er die Tür auf und hechtete mit einem wilden Sprung hinaus auf den Korridor.

»Stehen bleiben!«, rief er so laut, dass ein spitzer Schrei über die Lippen seines Gegenübers kam. Große, verängstigte Augen starrten ihm voller Schreck entgegen. Und plötzlich war Carl sicher, dass von seinem Gegenüber keine Gefahr ausging.

*

Es war spät geworden. Nach der Unterredung mit ihrem Vater zog es Katharina ins Bett. Im Haus herrschte Stille, das Gesinde und ihre Eltern schienen zu schlafen. So zündete sie sich eine Kerze an, die ihr den Weg nach oben, in ihre Kammer, leuchten sollte. Nachdem sie die Küchentür leise hinter sich ins Schloss gezogen hatte, verharrte sie einen Moment lang auf dem verlassen daliegenden Korridor.

Ganz dunkel war es nicht, denn das fahle Licht des Mondes drang durch das halbrunde Oberlicht der verschlossenen Haustüre. Katharina begab sich zur Treppe. Sie beobachtete den geisterhaften Lichtschein der flackernden Kerze in ihrer Hand. Eigentlich, so dachte sie, benötigte sie gar kein Licht, denn sie war in diesem Haus aufgewachsen und würde den Weg notfalls auch mit verbundenen Augen finden. Doch mit der Kerze in der Hand war es eindeutig leichter. Das Licht verlieh ihr zusätzliche Sicherheit. Als sie die freie Hand auf den hölzernen Treppenlauf legte, knarzte das Holz leise. Ihr Fuß auf der ersten Stufe erzeugte ebenfalls ein Geräusch, das ihr in der nächtlichen Stille des Hauses überlaut erschien. Vorsichtig erklomm sie eine Stufe nach der anderen. Das Nachtlicht in ihrer Hand warf zuckende Schatten. Am oberen Treppenabsatz angekommen, drang ein leises Geräusch an ihre Ohren. Mit pochendem Herzen verharrte sie mitten in der Bewegung, um lauschend den Kopf schräg zu legen. War es eine Tür gewesen, die leise geknarrt hatte?

Wer schlich um diese Zeit noch durch das Haus?

Als nichts mehr zu hören war, setzte sie den Weg zu ihrer Kammer, die am Ende des Ganges lag, fort. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. Plötzlich wurde eine der Türen zu ihrer rechten Seite aufgerissen und eine hochgewachsene Gestalt sprang in den Korridor, um sich in bedrohlicher Haltung vor ihr aufzubauen. »Wer da?«, rief ihr Gegenüber.

Katharina machte einen Sprung rückwärts, bei dem sie um ein Haar die brennende Kerze verloren hätte. Das Wachs tropfte auf ihre Hand und verursachte einen brennenden Schmerz. Sie fluchte leise.

Die unheimliche Gestalt, zu der eine tiefe Männerstimme gehörte, baute sich vor ihr auf. Katharina versuchte, sich zu beruhigen.

»Ich bin es, Katharina Zumwinkel«, sagte sie leise, um die anderen nicht zu wecken. »Und darf ich fragen, warum Sie hier zu nachtschlafender Stunde durch das Haus geistern?«

»Zumwinkel?« Fragte die Stimme überrascht. »Katharina?«

»So ist es. Und Sie sind …«

»Thiele, Carl Thiele.«

Erst jetzt erkannte Katharina, dass der Mann einen Kerzenhalter als Waffe in der erhobenen Hand hielt. Er folgte ihrem Blick und ließ langsam den Arm sinken. »Oh«, murmelte er ein wenig kleinlaut. »Das … das tut mir leid, ich wollte nicht … ich wollte Ihnen keinen Schrecken einjagen, aber ich dachte, dass Einbrecher durchs Haus schleichen und …«

Jetzt traf der flackernde Kerzenschein das Gesicht des Mannes, und Katharina erkannte den jungen Maurer, der ihr schon am Nachmittag aufgefallen war. Es war der mit den Grübchen, die immer auftauchten, wenn er lächelte. Gleich schlug ihr Herz wieder schneller. Doch diesmal war es ein äußerst angenehmes Herzklopfen. Neugierig betrachtete sie den hochgewachsenen jungen Mann, in dessen Gesicht sich trotz der eigenartigen Situation ein Schmunzeln ausbreitete.

Katharina musste lachen.

»Was … was ist denn?«, fragte er.

Obwohl er ihr einen Mordsschrecken eingejagt hatte, konnte sie ihm einfach nicht böse sein.

»Ich dachte, ein Einbrecher …«.

Darüber musste Katharina noch mehr lachen.

»Du hast mich für einen Einbrecher gehalten?« Wie selbstverständlich war sie zum vertrauten Du gewechselt. Ihre Anspannung löste sich.

Carl zuckte unbeholfen die Schultern. »Was soll ich sagen?«

»Die Wahrheit, Carl Thiele.« Katharina wunderte sich über den Klang ihrer Stimme. Sie hatte gesprochen wie ihre Mutter früher.

»Das ist die Wahrheit.« Jetzt rang er sich ein Lächeln ab. »Und offen gestanden habe ich Durst und wollte mir etwas zu trinken holen.«

»Gut.« Katharina nickte. Sie fürchtete immer noch, dass sie die anderen im Haus wecken könnten, und hielt den Moment für gekommen, die Unterhaltung zu beenden. »Den Weg zur Küche kennst du?«

»Ja.«

»Gut. Sei vorsichtig und mach keinen Lärm. Vater kann sehr ungehalten werden, wenn man ihn mitten in der Nacht weckt.«

»Ich werde leise sein«, versprach Carl Thiele.

»Gute Nacht.« Katharina setzte ihren Weg fort.

*

Die eigenartige Begegnung auf dem Korridor beschäftigte Katharina noch, als sie sich ausgekleidet hatte und unter die Bettdecke geschlüpft war. Was sich dieser Maurer einbildet, dachte sie amüsiert. Schläft die erste Nacht in unserem Haus und glaubt schon, Einbrecher vertreiben zu müssen. Als sie die Augen schloss, tauchte Carls Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf. Das fast quadratische Gesicht mit dem markanten Kinn, die Wangen mit den jungenhaften Grübchen, die fein geschwungenen, schmalen Lippen und der feste Blick seiner grauen Augen gefielen ihr. Da war ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen gewesen, ein vorwitzig erhobener Mundwinkel, trotz der skurrilen Situation, in der sie sich begegnet waren. Carl Thiele war durchaus attraktiv, fand Katharina.

Unwillkürlich erwischte sie sich dabei, wie sie Carl mit Thomas verglich. Thomas war ebenfalls groß und kräftig, doch er war in ihren Augen nicht halb so anziehend wie dieser Maurer. Sobald sie an Carl dachte, schlug ihr Herz ein paar Takte schneller, und sie war auf eine eigenartige Weise beschwingt, wenn sie an den warmen Klang seiner tiefen Stimme dachte. Da war ein Timbre, das eine bisher unbekannte Saite in ihr anklingen ließ.

Bin ich etwa verliebt?, fragte sie sich. Unsinn. Nein, ich bin nicht verliebt. Oder wenn, dann höchstens ein ganz klein wenig. So nahm Katharina den jungen Maurer mit in ihre Träume, und schon wenig später war sie mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen eingeschlafen.