Über Nacht hatte Regen eingesetzt, der sich bis zum Morgen hielt und dann zu einem leichten Nieselregen wurde, der die Landschaft mit seinem feuchten Netz überzog. Wind war aufgekommen, der über die sanften Hügel der Umgebung strich. Eine graue Wolkendecke lag schwer über dem Hof. Katharina sog den Duft des Sommerregens ein, als sie sich auf den Weg in die Küche machte, nachdem das Vieh versorgt war. Jeder Tag begann damit, dass sie im Morgengrauen im Stall verschwand, um die Kühe zu melken. Danach versorgte sie das Milchvieh mit Wasser und Futter. Später würde sie Aurora und zwei Kühe vor die Wagen spannen, damit die Landarbeiter die Fuhrwerke beladen konnten. Doch noch war es nicht so weit. Obwohl Katharina heute besonders müde war, ging ihr die Arbeit leicht von der Hand, und sie sang leise ein Lied vor sich hin, das sie vor Ewigkeiten in der Kirche gehört hatte. Sie sammelte im Gehege der Hühner die frischen Eier ein und sah zu, dass sie in die Küche kam, um Lina und ihrer Mutter zur Hand zu gehen. Um die Schweine würde sie sich später kümmern. Sie wurden über den Tag hinweg mit Küchenresten gefüttert und mussten sich noch ein wenig gedulden.
In der Küche saßen heute die Maurer mit am Tisch. Bei Carls Anblick schlug Katharinas Herz gleich ein paar Takte schneller. Ihm schien es ähnlich zu ergehen, denn als sie eintrat und freundlich in die Runde grüßte, lächelte er ihr zu. Nur sie wusste, was sein verschwörerisches Augenzwinkern zu bedeuten hatte. Sie verband ein Geheimnis, denn offenbar hatte niemand auf dem Hof etwas von ihrem nächtlichen Treffen mitbekommen. Beide hatten sie sich wohl vorgenommen, jeder für sich, niemandem etwas davon zu erzählen.
Rasch setzte sich Katharina auf ihren Platz gleich neben ihrem Vater.
Beim Frühstück verkündete Bernhard Zumwinkel, dass die Feldarbeit heute ausfiel und man sich um die Dinge auf dem Hof kümmern werde. Es gab genügend zu tun, einige Arbeit war in den letzten Tagen liegen geblieben. »Ich bin froh, dass wir die Heuernte gestern zu Ende gebracht haben«, verkündete er mit zufriedener Miene. »In ein paar Tagen können wir damit beginnen, das Getreide zu dreschen.«
Alle am Tisch wussten, dass jede helfende Hand gebraucht wurde. Lange würde es nicht mehr dauern, bis der Herbst Einzug hielt. Dann wurden die Tage kürzer und die Nächte kälter. Katharina betrachtete die Männer und Frauen am Tisch. Sie sah in größtenteils teilnahmslose, von Wind und Wetter gegerbte Gesichter und auf das mehr als ein Dutzend Paar Hände, die harte Arbeit gewohnt waren und nun auf der Tischplatte ruhten. Schräg gegenüber saßen die Maurer, die seit gestern auf dem Zumwinkel-Hof wohnten und heute mit dem Bau des neuen Stalls beginnen würden.
Lina und Theresa servierten frischen Malzkaffee und Tee, kurz darauf herrschte gefräßiges Schweigen am Tisch.
Neben Carl saß Thomas. Dem Knecht schienen die Blicke, die Katharina und Carl getauscht hatten, nicht entgangen zu sein. Mit versteinertem Blick biss er in sein Brot, kaute mit energischen Bewegungen und spülte mit einem Schluck Malzkaffee hinterher. Als Carl ihn unbeabsichtigt mit dem Ellenbogen anstieß, fing er sich gleich einen vernichtenden Blick von Thomas ein. Für jeden am Tisch war klar, dass der Knecht den Maurergesellen nicht leiden konnte.
Katharina vermutete, dass Thomas eifersüchtig war. So ein aufgeblasener, eingebildeter Gockel, dachte sie zornig, als sie die feindseligen Blicke des Knechts bemerkte. Auch Carl schien nicht mehr zu wagen, Katharina anzuschauen. Offensichtlich hatte ihm der mahnende Blick des Knechts genügt. Die Spannung zwischen den beiden Männern schien am Tisch spürbar zu sein, jedenfalls für Katharina, die ahnte, was in Thomas’ Kopf vorging. Sie würde ihn bei passender Gelegenheit darauf ansprechen.
*
Thomas kochte einmal mehr vor Wut, während er sich nach dem Frühstück an die Arbeit machte. Nicht nur, dass ihn Katharina mit Nichtachtung strafte – jetzt hatte sie offenbar Interesse an dem dahergelaufenen Maurerburschen gefunden. Die Blicke, die sie eben am Tisch miteinander getauscht hatten, waren sehr eindeutig gewesen. Katharinas Wangen hatten geglüht wie Bratäpfel im Winter, als er ihr Lächeln mit einem verschwörerischen Augenzwinkern erwidert hatte. Es war kaum zum Aushalten gewesen. So, wie Katharina Carl Thiele anschmachtete, hatte sie ihn noch nie angeschaut. Dabei war der Maurerbengel doch erst gestern auf dem Hof angekommen. Offenbar hatte er der schönen Bauerntochter vom ersten Moment an ganz gehörig den Kopf verdreht.
Was hat er, was ich nicht habe?, fragte sich Thomas, während er zwei Sensen auf das Fuhrwerk warf. Außer sich fasste er den Entschluss, sich diesen Carl vorzunehmen. Unter vier Augen, ohne Zeugen. In einem Gespräch von Mann zu Mann.
Für Thomas war es unerträglich, dass Katharinas sehnsüchtiger Blick nicht ihm gegolten hatte. Ein Plan musste her, sonst würde er im Kampf um Katharinas Gunst das Nachsehen haben, und allein die Vorstellung war unerträglich für ihn. Er war nicht gewillt, sich von einem einfachen Maurer die Butter vom Brot nehmen zu lassen, und würde kämpfen, wenn es sein musste.
*
Carl ahnte nichts von den düsteren Wolken, die sich über ihm zusammenbrauten. Er war sich keiner Schuld bewusst und hatte sich gleich nach dem Frühstück an die Arbeit gemacht. Der Tag verging wie im Fluge. Die vier Männer arbeiteten, ungeachtet des anhaltenden Regens, Hand in Hand und kamen gut voran. Irgendwann schweiften Carls Gedanken ab, zu seiner nächtlichen Begegnung mit Katharina. Ein Lächeln erhellte seine Miene, als er an sie dachte. Dem Namen nach war sie die Tochter des Bauern und Auftraggebers.
Seinem Vater hatte er nichts von dem ungewöhnlichen Kennenlernen erzählt. Zu groß war seine Angst vor einer Standpauke, die ihn erwarten könnte.
Die erste Mauer stand schon schulterhoch, und die Kleidung der fleißigen Maurer war längst durchnässt. Das Wasser lief ihnen, jedes Mal, wenn sie sich nach vorn beugten, in breiten Bahnen von den Krempen ihrer Filzhüte. Obwohl sie gut in der Zeit lagen, erlaubten sie sich keine Pause. Der Bauer hatte sie zur Eile gemahnt, und Carls Vater war ebenfalls daran gelegen, den Auftrag schnellstmöglich und zur vollsten Zufriedenheit abzuschließen, um sich im heimischen Herzebrock auf den Winter vorbereiten zu können.
Plötzlich behagte Carl der Gedanke daran, dass sie schon bald wieder abreisen würden, nicht mehr. Er fragte sich, was dann aus ihm und Katharina werden würde. Vermutlich würden sie sich nie wieder begegnen. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Die Vorstellung daran war betrüblich.
Carl fröstelte in seiner längst durchnässten Kleidung, doch er wollte sich keine Blöße geben. Die anderen arbeiteten unermüdlich und ließen sich vom Regen nicht abhalten. Ist es zu Ende, bevor es begonnen hat?, überlegte er.
Er nahm einen Stein und stieß dabei mit dem Ellenbogen gegen einen anderen Steinstapel, der unter lautem Poltern in sich zusammenstürzte. Wie angewurzelt stand Carl da und registrierte die Blicke der anderen. Kleinlaut murmelte er eine Entschuldigung.
»Carl«, rief sein Vater, »wo bist du denn mit deinen Gedanken?« Er eilte Carl zu Hilfe. »Was wir mit den Händen aufgeschichtet haben, reißt du mit dem Hintern um.«
Peinlich berührt blickte Carl zu den Gesellen, die so taten, als hätten sie von dem Zwischenfall nichts mitbekommen. Fritz und Gustav arbeiteten weiter. Ihre eisernen Kellen mit dem Mörtel kratzten über die Steine. »Konzentrier dich, Junge«, raunte Gerhard seinem Sohn zu, sodass es die Gesellen nicht mitbekamen.
Bevor Carl etwas erwidern konnte, näherten sich Schritte, die von einem rhythmischen Klimpern begleitet wurden. »Macht mal eine Pause, Männer.«
Carl drehte sich um und sah direkt in das lächelnde Gesicht von Katharina, die einen Korb vor sich hertrug. Die Schürze hatte sie abgelegt und gegen einen dünnen Mantel getauscht, auf dem Kopf trug sie einen etwas zu groß geratenen Hut, den sie sich offenbar von ihrem Vater geliehen hatte und der ihr Schutz vor dem Regen bot. Als sich ihre Blicke kurz trafen, lächelte auch er ihr zu, und Carl glaubte, zu sehen, dass sich ihre Wangen rot färbten. Er eilte herbei, um ihr den schweren Korb abzunehmen. »Was bringst du uns Schönes?«, fragte er und wagte einen Blick in den Korb. Darin befanden sich Tonflaschen, aus denen es herrlich dampfte. Der würzige Duft von frisch aufgebrühtem Malzkaffee stieg in Carls Nase.
»Eine Kleinigkeit zum Aufwärmen«, sagte Katharina, als sie seinen dankbaren Blick sah.
Täuschte er sich, oder lag ihr Blick länger, als es nötig gewesen wäre, auf ihm?
»Männer, wir bekommen eine Stärkung«, rief Carl, ohne sich zu den anderen umzublicken. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Katharina. Sie übte eine Anziehung aus, die er so noch nie zuvor bei einer Frau verspürt hatte. Womöglich lag das am Blick ihrer wunderschönen blauen Augen, vielleicht auch an den lustigen Grübchen auf ihren Wangen – oder an den vollen Lippen. Hätte man ihn gefragt, er hätte wohl nicht beschreiben können, was ihn an Katharina Zumwinkel derart faszinierte. »Danke«, hörte er sich sagen, »das ist äußerst zuvorkommend.«
Sie lachte, und in seinen Ohren klang es wie ein Glöckchen. »Mir ist daran gelegen, dass ihr bei Kräften bleibt, sonst wird es nichts mit dem neuen Stall.«
»Was gibt es?«
Unbemerkt von Carl und Katharina war Gerhard Thiele hinter sie getreten. Neugierig spähte er in den Korb. »Kaffee«, schwärmte er, »das nenne ich mal eine gute Sache.«
»Bedienen Sie sich.« Katharina trat zur Seite und machte eine einladende Geste. »Der Kaffee wird euch sicher wieder munter machen und euch von innen wärmen.«
»Wir haben uns längst warmgearbeitet«, behauptete Gerhard mit einem Augenzwinkern, dann bedachte er seinen Sohn mit einem Blick, den Carl nicht recht zu deuten vermochte. So schwieg er, rief die Maurergesellen herbei und ließ sich von Katharina eine Flasche reichen. Als sich für den Bruchteil einer Sekunde ihre Hände berührten, war es ihm, als würde ein Blitz durch seinen Körper jagen.
»Eigentlich haben wir gar keine Zeit für eine Pause«, bemerkte Gerhard schließlich. Er trank in kleinen Schlucken und genoss sichtlich den malzigen Geschmack.
»Ach was«, rief Katharina unbekümmert und zeigte auf den Grundriss des neuen Stalls, »das kann sich doch schon blicken lassen.« Sie lachte. »Und denkt daran – auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, Männer.« Sie wandte sich zum Gehen. »Wenn die Flaschen geleert sind, stellt sie einfach in den Korb zurück. Ich muss dann wieder an die Arbeit – wir müssen heute buttern.«
»Ihr müsst … was?« Carl verstand nicht.
»Buttern«, wiederholte Katharina geduldig. »Aus Milch wird Butter gemacht, eine Knochenarbeit, aber es hilft nichts.«
»Na dann.« Carl legte zwei Finger an die Hutkrempe. Mit einem versonnenen Blick starrte er ihr hinterher und schien der Welt entrückt zu sein. Auf halbem Wege blieb sie stehen, um sich noch einmal zu ihm umzudrehen. »Aber wenn ihr mit dem Stall fertig seid, kannst du mir vielleicht etwas bauen, das mir die Arbeit erleichtert. Das kannst du doch, oder?«
»Na klar, das ist eine meiner leichtesten Übungen«, versicherte er ihr mit einem breiten Grinsen.
Im nächsten Augenblick war er verwundert, wie sie jetzt plötzlich auf eine derartige Idee kam. »Wie kommst du darauf?«
Katharina lachte. »Die Arbeit auf dem Land ist schwer genug«, fand sie. »Da braucht es die richtigen Maschinen und Werkzeuge.«
»Ich bin Maurer«, erinnerte er sie.
»Ich weiß.« Damit ließ sie ihn stehen.
»Was ist, Junge – du bist ja total durch den Wind.«
»Was?« Carl starrte seinen Vater an wie einen Geist.
»Du führst dich auf wie ein Esel«, rügte Gerhard ihn.
»Warum denn?«
»Weil du in die Tochter des Bauern verliebt bist.« Gerhard grinste seinen Sohn wissend an und leerte die Tonflasche.
»Unsinn, Vater.« Carl schüttelte halbherzig den Kopf. »Wie kommst du denn auf so etwas?«
Gerhard scheuchte seine Männer an die Arbeit, bevor er sich wieder seinem Sohn widmete. »Weil ich Augen im Kopf habe, Junge.« Damit ließ er Carl stehen und machte sich wieder an die Arbeit. Carl hing weiter seinen Gedanken nach. War er wirklich verliebt in Katharina? Sie übte eine bisher unbekannte Faszination auf ihn aus, das stimmte schon – aber es fiel ihm schwer, zu behaupten, dass er sich in die Tochter des Bauern verliebt hatte. Doch vielleicht, so dachte Carl weiter, hatte sein Vater sogar recht, denn bei ihrem Anblick vergaß er die Welt um sich herum, sein Herzschlag beschleunigte sich, und ein dümmliches Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. So etwas hatte er bisher bei keiner Frau erlebt.