Kapitel 10

In dieser Nacht fand Carl wieder keine Ruhe. Doch diesmal lag es nicht am Schnarchen seines Vaters. Katharina ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie war eine schöne junge Frau und schien ebenfalls nicht abgeneigt zu sein. Doch wie sollte es ihm gelingen, näher an die Tochter des Bauern heranzukommen?

Ein eigenartiges Geräusch störte ihn in seinen Gedanken. Lauschend legte er den Kopf schief und versuchte, die Ursache zu erraten. Es handelte sich um ein gleichmäßiges, stampfendes Geräusch. Carl stellte fest, dass sein Vater im anderen Bett lag und tief und fest schlief. Von der Neugier getrieben, richtete sich Carl auf. Das Geräusch war immer noch da.

Barfuß stapfte er zu dem Stuhl am Fenster, der als provisorischer Herrendiener herhielt. Eilig schlüpfte er in die Hose und das Hemd, stets darauf bedacht, jeden unnötigen Lärm zu vermeiden. Umso mehr ärgerte er sich über das unvermeidliche Knarren der Dielen. Wenn sein Vater jetzt aufwachte, würde er ihn fragen, warum Carl nicht in seinem Bett lag. Doch Gerhard rührte sich nicht. Zufrieden legte Carl die Hand auf die Klinke des Kastenschlosses, hielt kurz inne, um die Tür dann zu öffnen. Jetzt war das Geräusch etwas lauter zu hören.

Was ist das nur?, fragte er sich und trat hinaus auf den dunklen Flur, der sich wie ein finsterer Schlund vor ihm erstreckte. Nachdem er die Tür leise hinter sich geschlossen hatte, lauschte er erneut. Da war wieder das gleichmäßige, stampfende, hölzerne Geräusch. Von seiner Neugier angetrieben, schlich Carl die Holztreppe ins Erdgeschoss hinunter. Mit jedem Schritt nach unten wurde das Geräusch lauter. Die Tonfliesen unter seinen Füßen fühlten sich kühl an. Plötzlich herrschte Stille im Haus, das Geräusch brach ab. Dafür glaubte Carl jetzt, ein Stöhnen zu hören. Verwundert stand er mitten auf dem Korridor. Was hatte das zu bedeuten? Regungslos stand er da und starrte auf das Oberlicht der massigen Haustür, die um diese Zeit verschlossen war. Fahl drang das Mondlicht durch die Scheiben und tauchte den Flur in ein kühles Licht.

Als das stampfende Geräusch erneut ertönte, zuckte er erschrocken zusammen. Es klang, als würde es aus der Küche kommen. Carl durchmaß den Flur und öffnete die Haustür. Er wollte zunächst versuchen, einen Blick durch das Küchenfenster ins Innere des Hauses zu werfen. Einfach in die Küche zu stürmen, erschien ihm unpassend. Carl setzte einen Fuß auf die steinerne Schwelle und atmete tief durch. Verlassen lag der Hof vor ihm. Die Stallungen zeichneten sich als schwarze, kantige Umrisse vom tiefen Blau des inzwischen sternklaren Nachthimmels ab. Verwundert stellte Carl fest, dass ihn der Geruch von Vieh und Mist nicht mehr störte. Vereinzelt drangen die Geräusche der Tiere an seine Ohren. Eigentlich, so dachte Carl, hatten es die Menschen auf dem Land gar nicht so schlecht. Es waren rechtschaffene Menschen, die mit sich und ihrem Leben zufrieden waren, obwohl sie von früh bis spät arbeiteten und kaum Freizeit hatten.

Das hölzerne Stampfen drang jetzt gedämpft an seine Ohren. Carl machte ein paar Schritte auf den Hof und sah sich zum Wohngebäude um. Ein paar vereinzelte Stalllaternen sorgten für die nötige Orientierung. Kein Mensch war weit und breit zu sehen, nur das leise Plätschern des Brunnens war zu hören.

Carl trat in die Mitte des Hofes und sah an der Fassade des Wohnhauses empor. In den Zimmern brannte kein Licht mehr, nur aus dem Küchenfenster drang ein warmer Lichtschein in die Nacht hinaus. Also hatte er sich nicht getäuscht. Carl näherte sich dem Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen, dennoch konnte er einen Schatten erkennen, der sich gleichmäßig bewegte. Carl trat näher. Durch einen Spalt in den Gardinen sah er, was sich in der Küche abspielte. Im Licht der Petroleumlampe saß Katharina auf einem Stuhl am Tisch. Sie hatte ein hohes, schmales Holzfass zwischen die Beine geklemmt und hielt mit beiden Händen einen hölzernen Stiel fest, mit dem sie immer wieder in das Fass stieß. Ihr Gesicht wirkte konzentriert und angespannt. Immer wieder unterbrach sie die Arbeit, um sich die Schultern zu massieren. Es war offensichtlich, dass es ihr schwerfiel.

Katharina stampfte zu später Stunde noch Butter. Er schalt sich einen Narren. Dass er nicht eher darauf gekommen war!

Carl fragte sich, ob sie wohl niemals schlief. Am liebsten wäre er ihr zu Hilfe geeilt, doch wie würde das aussehen? Außerdem wäre das dann schon ihre zweite Begegnung zu nächtlicher Stunde.

Bevor Carl sich einen Plan zurechtlegen konnte, spürte er eine schwere Hand auf seiner Schulter. »Was schleichst du hier herum?«

Kurz dachte Carl, sein Herzschlag würde aussetzen, so sehr erschrak er. Am ganzen Leibe zitternd fuhr er herum und blickte in das finstere Gesicht des Großknechts. »Wenn sich hier einer angeschlichen hat, bist das wohl du!« Der Knecht grinste ihn an. Carl schüttelte den Kopf. »Du hast mich zu Tode erschreckt, was denkst du dir dabei?«

Der Ansatz eines zufriedenen Grinsens huschte um die schmalen Lippen des Knechts. »Das beantwortet meine Frage nicht«, flüsterte er. »Was schnüffelst du hier nachts herum?«

»Ich habe nicht herumgeschnüffelt«, verteidigte Carl sich, während er die Hand des Knechts abschüttelte. »Ein Geräusch ließ mich nicht einschlafen, und ich wollte nach dem Rechten sehen.«

»Schön.« Thomas nickte langsam. »Jetzt weißt du, was das Geräusch verursacht hat.

Dann kannst du jetzt beruhigt ins Bett gehen.«

»Ich glaube nicht, dass es dir obliegt, meine Schlafenszeiten zu bestimmen.« Carl spürte Unmut in sich aufsteigen. Was bildete sich dieser Knecht nur ein? »Solltest du nicht in deiner Kammer beim Vieh liegen?«, fragte er. »Bist du eifersüchtig?«, fügte Carl grinsend hinzu.

»So ein Unsinn«, herrschte Thomas ihn kopfschüttelnd an. Doch an seinem Gesichtsausdruck erkannte Carl, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

»Ich kann es nur nicht leiden, wenn Leute, die hier nicht wohnen, nachts herumschleichen und spionieren«, erklärte Thomas.

»Davon werde ich dem Bauern berichten.«

»Tu, was du nicht lassen kannst.« Carl zuckte unbekümmert die Schultern.

»Lass die Hände von Katharina«, sagte Thomas dann. »Sie ist vergeben.«

»Ach ja?«, wunderte sich Carl. »An wen denn?«

»An mich«, behauptete Thomas im Brustton der Überzeugung. »Wir sind bereits verlobt.«

»Davon hat Katharina mir gar nichts erzählt.«

»Ihr sprecht darüber?« Das Gesicht des Knechts drückte Verwunderung aus. Zum ersten Mal entglitten ihm seine Gesichtszüge.

»Selbstverständlich.« Carl nickte eifrig. »Und wenn sie verlobt wäre, dann hätte Katharina mich das bestimmt wissen lassen. Und jetzt lass mich in Ruhe …«

»Sonst?« Thomas baute sich in bedrohlicher Haltung vor Carl auf. Er ballte die Hände zu Fäusten und schob kämpferisch das Kinn nach vorn.

»Sonst …« Carl ärgerte sich, dass ihm keine Antwort einfallen wollte. »Sonst frage ich Katharina, ob sie …«

»Was möchtest du mich fragen?«

Beide Männer erstarrten, als Katharina plötzlich neben ihnen stand. Die Hände hatte sie energisch in die Hüften gestemmt. »Also … was möchtest du mich fragen?«, wiederholte sie ihre Frage, als Carl betroffen schwieg.

»Nichts, Katharina, nichts«, sagte er ein wenig kleinlaut.

»Das stimmt nicht«, fuhr ihm Thomas in die Parade. »Der Maurer spioniert hinter dir her, Katharina.«

Die Tochter des Bauern neigte fragend den Kopf.

»Das stimmt so nicht«, beeilte sich Carl zu sagen. »Ich habe ein Geräusch gehört. Und da ich nicht wusste, was im Haus vorgeht, habe ich nach dem Rechten gesehen.«

»Er ist auf dem Hof herumgeschlichen wie ein Dieb und hat ins Küchenfenster geguckt«, stellte Thomas klar. Carl sah ihm an, dass dem Knecht die Begegnung mit Katharina nicht behagte.

»Stimmt das?«, fragte Katharina.

»Ja, aber ich habe mir Sorgen gemacht.«

Katharinas Gesichtszüge entspannten sich. »Schon wieder auf Jagd nach Einbrechern?«, fragte sie kokett und schenkte Carl ein warmes Lächeln. »Und dann?«

»Dann wurde ich von deinem … Verlobten auf frischer Tat ertappt.«

»Von meinem … was?« Katharina betrachtete ihn, als hätte Carl den Verstand verloren.

»Von deinem Verlobten«, wiederholte er beharrlich.

Erst jetzt schien Katharina zu begreifen, wovon er sprach. Sie betrachtete Thomas mit ernster Miene, dann musste sie lachen. Ihr Lachen schallte über den nächtlichen Hof. Es klang erfrischend und befreiend zugleich, fand Carl und registrierte, dass sich sein Herzschlag beschleunigte.

»Thomas soll mein Verlobter sein?«

»Das hat er jedenfalls behauptet.«

»Katharina, ich …«, setzte Thomas an, brach aber ab, als sie ihn mit einer einzigen Geste zum Schweigen brachte.

»Du bist sicher betrunken«, stellte Katharina kopfschüttelnd fest und tippte sich gegen die Schläfe.

»Ich habe nicht getrunken«, behauptete Thomas entrüstet. Katharina winkte ab. Offensichtlich hatte sie genug gehört. »Es ist besser, wenn du jetzt zu Bett gehst, in wenigen Stunden beginnt die Arbeit.«

»Aber ich …«

»Gute Nacht, Thomas.« Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.

Beleidigt zuckte der Knecht die Schultern. »Gute Nacht«, erwiderte er und wandte sich zum Gehen, nicht, ohne Carl einen letzten, vernichtenden Blick zuzuwerfen.