Kapitel 17

Am Abend zog sich Carl früh zurück in die Kammer. Er gab vor, vom Arbeitstag müde zu sein, als er die fragenden Blicke seines Vaters sah. Die Männer hockten noch in der Stube zusammen, spielten Karten und tranken Schnaps und Bier. Carl war es recht, so hatte er die kleine Kammer für sich allein und konnte seinen Gedanken nachhängen. Ihm war nicht nach Gesellschaft. Katharina fehlte ihm, doch noch mussten sie ihre Liebe geheim halten. Er erwischte sich dabei, immer wieder an sie zu denken, an das, was sie im Strohlager getan hatten. Sie hatte sich so vertraut angefühlt, als würden sie sich schon seit einer Ewigkeit kennen.

Doch da war noch etwas, das Carl bewegte. Der Traum von einer Maschine, die imstande war, Milch zu verarbeiten. Eine erste Skizze hatte er vollendet, und heute hatte er bereits die Materialien für den Bau einer solchen Maschine zusammengesucht. Morgen schon würde er beginnen. Er freute sich auf die neue Aufgabe.

Carl hockte im Schein der Petroleumlaterne auf seinem Bett. Er nahm ein neues Blatt Papier und griff zu einem Stift, dachte nach, stützte das Kinn in die Hände, während er die Augen schloss und überlegte, wie eine solche Maschine aussehen könnte. Die erste Skizze war ihm eine große Hilfe, und jetzt konnte er die Zeichnung perfektionieren. Aufgeregt flog der Stift über das Papier. Wie im Fieber zeichnete er seine Konstruktion, die die Landwirtschaft revolutionieren sollte. Er war so versunken in die Arbeit, dass er nicht mitbekam, wie schnell die Zeit verging.

»Noch wach, Junge?«

Erschrocken fuhr Carl hoch, als sein Vater die Kammer betrat. Seine Zunge war ein wenig schwer, offensichtlich hatte er getrunken. Doch es wäre unfair, Gerhard Thiele als betrunken zu bezeichnen. Mit klopfendem Herzen beugte sich Carl über die Zeichnung, so dass sein Vater nicht sehen konnte, was er zu Papier gebracht hatte. Doch gerade seine verkrampfte Haltung erweckte Gerhards Interesse. Er trat hinter Carl und schaute ihm über die Schulter.

»Was malst du da?«

»Ich male nicht – ich zeichne.«

»Entschuldigung.« Gerhard setzte eine schuldbewusste Miene auf. »Was zeichnest du denn da?«

Carl seufzte. Er beobachtete seinen Vater, der schwerfällig auf sein Bett sank, um die Schuhe auszuziehen. Seine Socken hatten große Löcher. »Sag schon«, forderte er seinen Sohn auf. »Was hast du gezeichnet?« Er grinste. »Ein Mädchen etwa?«

»Nein, Vater, wo denkst du hin?« Vorwurf lag in Carls Stimme. »Ich habe etwas erfunden.« Stolz schwang nun in seiner Stimme mit.

»Soso. Was hast du denn erfunden?« Gerhard erhob sich von dem Kastenbett und trat wieder zu seinem Sohn. Er versuchte, einen Blick auf Carls Zeichnung zu erhaschen, doch der hatte ein Blatt darübergelegt.

»Willst du das wirklich wissen?«

»Sonst würde ich nicht fragen, Junge.«

Carl nahm das Deckblatt fort und präsentierte seinem Vater die Skizze. »Und?«, fragte er aufgeregt. »Wie gefällt sie dir?«

Gerhard zog die buschigen Augenbrauen zusammen und schien angestrengt nachzudenken, während er die Zeichnung betrachtete. »Also«, sagte er schließlich und massierte sich den Nasenrücken. »Ich verstehe nicht, was das sein soll.«

Obwohl Gerhard Thiele über eine hohe Auffassungsgabe verfügte, schien er mit dem Entwurf seines Sohnes nichts anfangen zu können. »Hilf mir auf die Sprünge, Junge.«

»Das ist eine Milchzentrifuge«, erklärte Carl mit Stolz in der Stimme.

»Eine was?«

»Eine Milchzentrifuge«, wiederholte Carl geduldig. »In ihr wird die frische Milch weiterverarbeitet.« Er tippte mit der Miene des Stiftes auf die Öffnung der Maschine. »In ihr wird der Rahm von der Magermilch getrennt.«

»Das gibt es schon.« Gerhard winkte ab. »Im Süddeutschen hat das jemand erfunden, ist also leider nichts Neues.«

»Katharina hat das auch schon gesagt«, stellte Carl betrübt fest.

»Also verschwende deine Zeit nicht, Junge.«

»Das tu ich nicht, denn unsere Maschine wird besser als alles, was es bisher gab.«

»Unsere Maschine?«

»Ja, Katharina hilft mir mit ihrer Expertise.«

»Na dann«, lachte Gerhard und betrachtete die Zeichnungen seines Sohnes nachdenklich. »Was ist jetzt neu an dem Ding?«

»Der Antrieb zum Beispiel. Ich habe ihn so entwickelt, dass er sich leicht betätigen lässt. Außerdem habe ich die Zufuhr und den Abfluss komplett neu erfunden, damit die Handhabung sich leicht gestaltet.«

Gerhard lauschte den Ausführungen seines Sohnes, ohne ihn zu unterbrechen. Immer wieder nickte er verstehend und warf Blicke auf die Skizzen, die Carl ihm geduldig und aufgeregt zugleich erläuterte.

»So etwas«, sagte Carl abschließend, »gibt es bisher nicht, da bin ich ganz sicher.«

»Das stimmt, Junge.« Gerhard nickte zufrieden. Er klopfte seinem Sohn anerkennend auf die Schulter. »So etwas habe ich tatsächlich noch nirgendwo gesehen.« Er atmete tief durch. »Du solltest dir deine Erfindung patentieren lassen – bevor es ein anderer tut.«

*

Auch in dieser Nacht fand Katharina keinen Schlaf. Das Buch, in dem sie schon seit Tagen las, lag auf dem Kabinett ihrer Kammer, während sie sich in ihr Bett zurückgezogen hatte, wo sie seit einer guten Stunde lag, um ihren Gedanken nachzuhängen. Die Lampe auf dem Kabinett verbreitete einen warmen Lichtschein. Das Stimmengewirr der Männer in der Stube drang nur gedämpft an ihre Ohren. Immer wenn sie die Augen schloss, sah sie Carls gütiges Gesicht vor ihrem geistigen Auge auftauchen. Sah den warmen Blick seiner Augen, seine wunderschön geschwungenen Lippen und seine Hände, die harte Arbeit gewohnt waren. Der Mann, der erst vor wenigen Tagen in ihr Leben getreten war, lag ihr derart am Herzen, dass sie ständig an ihn denken musste. Zwar war sie noch nie verliebt gewesen, doch ahnte sie, dass es sich genauso anfühlte. Carl interessierte sich für sie, er machte sich Gedanken und sorgte sich um sie. So etwas hatte sie bisher bei keinem Mann erlebt. Er hatte sich fest vorgenommen, ihr eine Maschine zu bauen, die ihr die Arbeit erleichtern sollte.

Und er hatte von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen.

Doch wie würde es sein, wenn der neue Stall von den Maurern fertiggestellt war? Der Trupp würde verschwinden und wahrscheinlich niemals wiederkommen. Ob Katharina ihn dann wiedersehen würde? Es war unwahrscheinlich. Sie spürte einen Stich im Herzen, als sie daran dachte.

Doch es würde so kommen, wie es kommen würde: Wenn die Arbeit getan war, würden die Maurer ihre Zelte in Clarholz wieder abbrechen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Fast so, als hätte es sie nie gegeben. Katharina erwischte sich bei dem Gedanken, dass sie Carl am liebsten hierbehalten würde. Hier, auf dem Zumwinkel-Hof, hier und in ihrem Herzen. Die Vorstellung, dass er bald schon wieder aus ihrem Leben verschwinden würde, ließ es ihr schwer in der Brust werden.

»Carl«, murmelte sie sehnsüchtig, »ach mein lieber Carl, am liebsten würde ich dich nie wieder gehen lassen.« Ihren Worten folgte ein schwerer Seufzer. Sie nahm sich vor, die Zeit, die ihnen noch blieb, so gut wie möglich zu nutzen. Mit einem weiteren sehnsüchtigen Stöhnen auf den Lippen löschte sie das Licht, um auf das Kopfkissen zu sinken.