Freudestrahlend betrat Katharina den Rohbau des neuen Stalls. Die Männer waren in ihre Arbeit vertieft und bemerkten sie nicht gleich. Erst, als sie Carls Unterarm berührte, blickte er sich zu ihr um. Die anderen Maurer taten, als würden sie Katharinas Anwesenheit nicht bemerken. Sie mauerten weiter.
»Katharina«, sagte er mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. Seine Augen leuchteten bei ihrem Anblick. »Was gibt es?«
»Gute Nachrichten«, antwortete sie ihm. »Vater hat versprochen, dir das Material für den Bau einer Zentrifuge zu beschaffen.«
»Wirklich?«
»Wirklich.« Sie nickte stolz. »Er gibt dir eine Chance.«
»Was ist mit Thomas?«
»Ich habe ihn bereits zu meinem Vater geschickt.«
»Hoffentlich kehrt dann endlich Ruhe ein«, murmelte Carl.
»Das wäre zu schön, um wahr zu sein.« Kurz schmiegte sich Katharina an seinen muskulösen Oberkörper.
Carl schloss sie in den Arm und strich ihr durch das Haar. »Wann soll ich mit der Arbeit beginnen?«
»Sobald er das Material zusammengestellt hat.«
»Das klingt gut«, musste Carl zugeben.
»Du fängst erst mit der neumodischen Maschine an, wenn der Stall fertig gemauert ist«, mischte sich jetzt sein Vater ein.
»Selbstverständlich, Vater.«
Katharina überlegte. Wenn Gerhard Thiele seinen Sohn nicht für den Bau der Zentrifuge freistellte, würde er damit erst beginnen, wenn die Maurer ihre Arbeit fertiggestellt hatten. Das wiederum bedeutete, dass Carl auch nach der Abreise seines Vaters und der beiden Gesellen auf dem Zumwinkel-Hof bleiben würde. Eine durchaus verlockende Vorstellung.
»Wann wird das sein?«, fragte sie den Maurermeister interessiert.
Gerhard Thiele sah sich im Innern des Neubaus um. Seine Gesellen waren gerade damit beschäftigt, die Wände grob zu verputzen. »Ein paar Tage, denke ich.«
Katharina fiel ein Stein vom Herzen. Würde Carl nicht an der neuen Zentrifuge arbeiten dürfen, würde er schon bald wieder abreisen müssen. Nun blieb ihnen noch etwas Zeit. Am liebsten hätte sie Gerhard Thiele umarmt.
»Einverstanden«, nickte sie und war um einen sachlichen Tonfall bemüht. Sie wandte sich an Carl. »Du solltest mit meinem Vater besprechen, was du für deinen Prototypen benötigst.«
»Ein paar Dinge werde ich noch kaufen müssen«, vermutete er. »Schrauben, Beschläge und Handgriffe, vielleicht eine Kurbel, die die Welle im Innern antreibt – solange euer Hof nicht elektrifiziert ist.«
»Das ist sicher kein Problem.« Katharina strahlte. »Du solltest mit meinem Vater sprechen.«
»Das werde ich tun.«
Sie umarmten sich flüchtig, dann ließ Katharina die Männer arbeiten. Erst, als sie draußen auf dem Hof angelangt war, kam ein Freudenschrei über ihre Lippen.
*
»Du musst vorsichtiger sein.« Bernhard Zumwinkel redete mit gesenkter Stimme auf Thomas ein. Er hockte auf seinem Bürostuhl und sah zu seinem Großknecht auf. »Es erfüllt mich mit Stolz, dass dir meine Tochter gefällt. Und es imponiert mir, dass du bereit bist, um sie zu kämpfen. Aber bitte geh bei deinen Annäherungsversuchen dezenter vor.«
Thomas musste ein gequältes Stöhnen unterdrücken. Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust und ließ die Standpauke des Bauern über sich ergehen. Er durfte nicht daran denken, dass Katharina gerade wahrscheinlich wieder mit diesem Maurer ihre Zeit verbrachte. Voller Ungeduld trat er von einem Fuß auf den anderen. »War es das dann?«
»Nein.« Bernhard Zumwinkel schüttelte den kantigen Schädel. »Ich will, dass du meine Worte ernst nimmst, Junge.« Schwerfällig erhob er sich von seinem Platz. Jetzt waren die Männer auf Augenhöhe.
Thomas nickte. Er war es leid, dass er ständig zurückgewiesen wurde. Für ihn galt es, keine Zeit zu verlieren. Solange der Maurerbengel sich noch auf dem Zumwinkel-Hof herumtrieb, musste er um Katharinas Gunst kämpfen. Es scherte ihn einen Kehricht, dass sie ihm schon klargemacht hatte, kein Interesse an ihm zu haben. Ganz im Gegenteil, das erhöhte für ihn den Reiz. Einen Korb würde er sich von ihr nicht noch einmal einfangen, ein weiteres Nein würde er nicht akzeptieren.
Inzwischen hatte der Bauer weiter auf ihn eingeredet. Seine Worte waren an ihm abgeprallt, ohne ihn zu erreichen. Thomas ließ sich von dem Bauern keine Vorschriften machen. Er würde seinen Kampf fortsetzen, vielleicht sogar aggressiver um Katharina kämpfen. Während der alte Zumwinkel weiter auf ihn einredete, sah sich Thomas im Büro um. Einer der Schränke stand offen. Darin befanden sich Ordner und Papierstapel.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, riss ihn die energische Stimme des Bauern aus den Beobachtungen.
»Aber klar«, nickte Thomas und mahnte sich zur Konzentration. »Sie haben recht, ich werde es langsamer angehen lassen.«
»Ich bitte darum.« Zumwinkel nickte. »So, und jetzt an die Arbeit, Junge.«
»Ich bin schon weg.« Thomas drückte den Rücken durch, nickte dem alten Zumwinkel zu und machte, dass er aus dem Büro kam. Ihm qualmte der Kopf. Thomas verschwand im Stall, ohne die Angestellten, die auf dem Hof ihren Dienst verrichteten, zu beachten. Auch als der Hufschmied, ein kahlköpfiger Hüne, ihn ansprach, reagierte Thomas nicht. Der Knecht kochte vor Wut. Wenn Katharina sich nicht – noch nicht – für ihn interessierte, dann musste sein Erzfeind verschwinden. Im Halbdunkel des Stalls angekommen, stellte Thomas die Werkzeuge bereit, die er gleich benötigen würde.
»So«, sagte Thomas leise zu sich selbst, »jetzt schlägt deine Stunde. Jetzt oder nie.« Ein diabolisches Grinsen huschte um seine Mundwinkel. Er hatte einen Plan und bald würde er Carl los sein.
*
Am Abend saß Carl wieder in der Kammer und zeichnete an seinem Entwurf für eine moderne Zentrifuge, eine Maschine, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Doch zunächst galt es, den Bauern von der Erfindung zu überzeugen. Sein Vater saß mit den anderen Maurern in der Stube zusammen. Ihr Lachen war bis hier oben zu hören. Carl schmunzelte. Er gönnte seinem Vater und den Jungs ihren Spaß, doch er hatte andere Pläne. So schnell wie möglich wollte er Katharina seine Entwürfe zeigen.
Der Bleistift flog förmlich über das Papier. Immer wieder hielt Carl inne, betrachtete sein Werk und radierte, was ihm nicht gefiel.
»So könnte es funktionieren, sagte er schließlich und betrachtete sein Werk. Es folgten Detailskizzen, die den Antrieb und die Handkurbel zeigten, sowie eine Zeichnung, auf der er den hölzernen Rahmen darstellte.
Carl war derart in seine Arbeit vertieft, dass erst ein spitzer Schrei ihn jäh in die Wirklichkeit zurückholte. Eine Frau war es gewesen, die gerufen hatte. Etwas Schlimmes musste geschehen sein. Carl war sofort in Alarmbereitschaft. Er ließ den Stift fallen und sprang so schnell von seinem Platz auf, dass der Stuhl nach hinten kippte und polternd auf den Dielen landete. Mit einem Satz erreichte er so, wie er war – barfuß, in Hose und Unterhemd – die Tür der Kammer und riss sie auf.
Hatte er zunächst vermutet, dass es sich bei der Frauenstimme um Katharina gehandelt hatte, so erkannte er schnell, dass es ihre Mutter war. Sie stand starr vor Schreck am unteren Treppenabsatz.
»Bernhard«, kreischte sie, »das Geld ist verschwunden.«
Carl hetzte die Treppe herunter. »Wovon redest du?«
Theresa betrachtete ihn wie einen Geist. Sie selbst war kreidebleich und zitterte am ganzen Körper. »Unser Bargeld wurde gestohlen. Morgen müssen wir die Angestellten bezahlen.« Theresa umklammerte den hölzernen Treppenlauf. Ihre Fingernägel gruben sich in den roten Lack.
»Was ist da los, Weib?«
Bernhard Zumwinkel polterte ins Haus. Der Hut saß ihm tief in der Stirn, an seiner Arbeitsjacke war Dreck. Offenbar hatte auch er seine Arbeit sofort stehen und liegen gelassen, als er den Hilferuf seiner Frau gehört hatte. Mit den schweren Stiefeln verteilte er Lehm auf den großen Fliesen im Schachbrettmuster.
»Das Geld«, jammerte Theresa und schnappte nach Luft, »es wurde geklaut, Bernhard.« Sie sah ihren Mann mit großen Augen an.
»Kann ich irgendwie helfen?«, mischte sich Carl ein. Die Bäuerin war mit ihren Kräften am Ende. Der Schreck hatte ihr übel mitgespielt. Doch niemand in der Stube schien mitbekommen zu haben, was passiert war. Jemand spielte Akkordeon, andere sangen dazu. Der Schrei der Bäuerin war im Lärm der Stube untergegangen.
»Ein Glas Wasser wäre gut«, nickte sie.
Carl setzte sich in Richtung Küche in Bewegung. Auf dem Weg dorthin hörte er die Bäuerin sprechen. »Ich war in deinem Büro, um etwas zu suchen. Dabei fiel mir auf, dass der Umschlag mit dem Lohn fehlt.«
»Ist nicht möglich«, brummte Zumwinkel mit belegter Stimme.
»Doch, Bernhard«, beharrte seine Frau. »Ich habe noch danach gesucht, er ist und bleibt verschwunden.«
Carl hatte die Küchentür erreicht. Er schämte sich ein wenig, das Gespräch der beiden mitgehört zu haben, und machte, dass er ein Glas Wasser für Katharinas Mutter besorgte. Unwillkürlich fragte er sich, wo Katharina steckte. Nachdem er ein Glas aus dem Holzregal genommen und mit Wasser befüllt hatte, kehrte er in den Flur zurück. Inzwischen war auch Katharina bei ihren Eltern.
»Unter uns befindet sich ein Dieb«, raunte Zumwinkel gerade. Er wirkte niedergeschlagen und enttäuscht. Als Carl Theresa das Glas reichte, bedachte Zumwinkel ihn mit einem misstrauischen Blick. »So etwas hat es in der Geschichte unseres Hofes noch nie gegeben.« Er schüttelte den Kopf. »Niemand hat es bisher gewagt, uns zu beklauen.«
Katharina warf Carl einen hilfesuchenden Blick zu. »Ich war oben und habe gezeichnet«, murmelte er betroffen.
»Und die anderen sitzen in der Stube in geselliger Runde beieinander«, krächzte Theresa, nachdem sie einen großen Schluck Wasser genommen hatte. »Ich weiß nicht, wer als Dieb infrage kommt.«
»Wer auch immer es war – er muss das geheime Versteck kennen«, überlegte Katharina.
»Außer uns«, der Bauer zeigte auf Katharina, Theresa und auf sich selbst, »kennt niemand das Versteck.«
»Mein Gott, was sollen wir denn jetzt machen? Unsere Leute warten doch auf ihren Lohn.« Theresa war völlig aufgelöst. Tränen standen in ihren Augen und Carl befürchtete, dass sie gleich ohnmächtig werden könnte.
»Können Sie kurz ein Auge auf meine Frau haben?«, fragte Zumwinkel an Carl gewandt. Er nickte. »Gehen Sie nur.«
Bernhard murmelte eine Entschuldigung und suchte sein Büro auf. Carl hörte ihn darin herumhantieren. Der Bauer stieß einen Fluch aus.
»So eine verdammte Sauerei«, rief er ungehalten.
Carl mutmaßte, dass er sich vergewissert hatte, dass seine Frau sich nicht getäuscht hatte. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann stand er wieder auf dem Flur. »Wir sollten die Polizei rufen«, brummte er. »Die Diebe dürfen nicht ungestraft davonkommen.«
»Ich werde einen Knecht losschicken«, nickte Katharina.
»Schick Thomas«, empfahl Zumwinkel ihr.
Carl blieb nicht verborgen, wie sich Katharinas Miene verfinsterte. Sie schien keine große Lust zu haben, den Knecht um einen Gefallen zu bitten.
»Ich wollte Erich bitten, ins Dorf zu gehen«, antwortete sie. »Auch er ist ein äußerst zuverlässiger Knecht.«
Bernhard Zumwinkel lächelte. »Ich verstehe«, sagte er. »Du möchtest den Großknecht nicht mit Botengängen beauftragen.«
»So war das nicht gemeint«, beeilte sich Katharina zu sagen. »Ich dachte nur …«
»Schon gut, schon gut.«
»Ich werde Thomas beauftragen.«
»Wie du meinst.« Zumwinkel lächelte. »Ich werde mich derweil um deine Mutter kümmern.« Er beugte sich zu Theresa. »Wie geht es dir, mein Engel?«
Er hat Engel gesagt, durchzuckte es Carl. Dass der Bauer seine Frau nach all den Jahren voller Entbehrungen noch beim Kosenamen ansprach, machte Zumwinkel noch sympathischer. In diesem Augenblick war Bernhard Zumwinkel wie ein Vorbild für ihn. Carl nahm sich vor, seine Liebe auch nach vielen Jahren noch respekt- und liebevoll zu behandeln. Prompt erwischte er sich dabei, Katharina sehnsuchtsvoll zu betrachten. Vielleicht war sie die Frau, mit der er den Rest seines noch jungen Lebens teilen würde.
Theresa zuckte die Schultern. »Dr. Benthien würde sagen, es geht mir den Umständen entsprechend.« Sie nahm einen weiteren Schluck Wasser. Carl bemerkte, dass ihre Hand noch zitterte. Immerhin war zwischenzeitlich die Farbe in ihr Gesicht zurückgekehrt.
»Ich werde zur Polizei gehen«, schlug Carl vor.
Alle drei musterten ihn mit überraschten Mienen. »Warum das?«
»Nun, wenn ich etwas Sinnvolles machen kann … ich übernehme das gern.«
Zumwinkel nickte. Er wirkte erleichtert. »Meinetwegen«, brummte er. »Dann haben wir einen zuverlässigen jungen Mann, der dem Wachtmeister gleich den Vorfall aus erster Hand schildern kann.«
»So ist es.« Carl nickte. »Ich gehe nur kurz hoch und ziehe mir etwas an.«
»Selbstverständlich.«
Carl nickte den dreien zu und stieg die Treppe hinauf. Während er sich nach oben begab, hörte er die Stimme von Katharinas Mutter. »Er ist so ein zuvorkommender junger Mann«, raunte sie ihrem Mann und Katharina zu.
»Trotzdem ist er kein Bauer«, brummte Zumwinkel ein wenig missmutig.
*
Wenig später machte sich Carl auf den Weg nach Clarholz. Zuvor hatte der Bauer ihm den Weg zur Polizeiwache erklärt. »Sollte die Tür verschlossen sein, gibt es einen Hintereingang, dort können Sie klopfen. Der Hauptwachtmeister bewohnt ein paar Kammern über der Wache und ist rund um die Uhr erreichbar.«
Mit diesem Wissen stapfte Carl los. Er war froh, den dicken Mantel seines Vaters übergezogen zu haben, denn es war eine frische und sternklare Nacht. Vor seinem Mund bildeten sich bei jedem Atemzug winzige Wölkchen. Fröstelnd schob er die Hände in die Manteltaschen. Nachdem er die Einfahrt des Zumwinkel-Hofes passiert hatte, stand er am Straßenrand. Die Chaussee zwischen Münster und Paderborn war von alten Bäumen gesäumt, die sich in der Dunkelheit über ihm zu verneigen schienen. Tiefhängende Äste bildeten ein natürliches Dach über der Straße. Es hatte den Anschein, als läge der Anfang eines nicht enden wollenden Tunnels vor ihm.
Im Unterholz raschelte es unheilvoll. Wahrscheinlich trieben sich um diese Zeit Tiere in den Büschen jenseits der Straße herum. Ab und zu glaubte er, leuchtende Augen durch das Gehölz irrlichtern zu sehen. Ein unheimlicher Anblick, der jedoch eine natürliche Ursache hatte. Gut, dass ich nicht ängstlich bin, dachte er bei dem bizarren Anblick, denn es drang nur an einzelnen Stellen das fahle Licht des Mondes durch die Zweige. Das einzige Geräusch war jetzt das Plätschern des Axtbaches, der an dieser Stelle parallel zur Straße verlief und den Verlauf der Chaussee ein Stück weit begleitete.
Am Ufer gluckste es, einige Kröten quakten am Wasser. Als Carl den Blick nach vorn richtete, erstarrte er: Blitzartig sprang eine schwarze Gestalt vor ihm auf die Straße. Carls Herzschlag drohte einen Moment auszusetzen. Er fürchtete, ausgeraubt zu werden.
»Stehen bleiben«, rief die dunkle Erscheinung ihm entgegen und breitete die Arme aus. Wie angewurzelt blieb Carl stehen und blickte dem Etwas mit schreckgeweiteten Augen entgegen. »Ich komme mit nach Clarholz.« Es war eine Frauenstimme, die zu ihm gesprochen hatte.
Carls Puls beruhigte sich nur langsam, als er Katharinas Stimme erkannte, die offensichtlich hinter einem der dicken Baumstämme auf ihn gewartet hatte. Als sie seine erschrockene Miene sah, murmelte sie eine Entschuldigung. »Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte sie schnell und fiel ihm in die Arme.
»Was treibt dich hierher?«
»Ich habe meinem Vater Bescheid gesagt, dass ich dich begleite.«
»Und?«
»Er war einverstanden.«
»Na gut.« Carl holte tief Luft. Der Schreck saß ihm noch in den Knochen. »Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen.«
»Das tut mir wirklich leid.«
»Schon gut, schon gut.« Er lächelte. »Dann mal los«, sagte er und deutete nach vorn. »Ich möchte heute noch ein paar Stunden schlafen, damit ich morgen frisch ans Werk gehen kann.«
»Also los«, nickte sie und nahm wie selbstverständlich seine Hand.
*
Die Schreckensnachricht verbreitete sich auf dem Hof wie ein Lauffeuer. Auch Lina war unruhig. Da sie nicht schlafen konnte, trat sie noch einmal vor das Haus, um frische Luft zu schnappen. Dort sah sie eine hochgewachsene Gestalt stehen, die ihr den Rücken zukehrte. Ihr Herz schlug schneller vor Aufregung, als sie den Knecht erkannte.
»Kannst du auch nicht schlafen?« Lina war zu Thomas getreten, der auf dem Hof stand und rauchte. Eine ganze Zeit lang schon hatte sie im Hauseingang gestanden, um ihn zu beobachten. Sie musste sich eingestehen, trotz seiner abweisenden Art immer noch für den Großknecht zu schwärmen. Seine herablassende Art hatte es nicht geschafft, sie auf Distanz zu halten. Und Lina gab die Hoffnung nicht auf. Jetzt, wo Katharina ihm mehrfach klargemacht hatte, kein Interesse an ihm zu haben, war er schließlich frei. Selbst wenn er sich jetzt für sie entscheiden würde, so würde sie sich nicht fühlen wie eine Notlösung. Kommt Zeit, kommt Liebe, dachte Lina immer, wenn Zweifel in ihr aufkeimten, ob es richtig war, Thomas anzuhimmeln.
»Nee, es lässt mir keine Ruhe.« Er schüttelte den Kopf und deutete ein Lächeln an. Gedankenverloren paffte er den Rauch in den Nachthimmel. Lina betrachtete ihn von der Seite. Sein markantes Gesicht wirkte ernst. Sekundenlang betrachtete er sie mit regungsloser Miene. »So was hat es noch nie gegeben auf dem Hof.« Empört schüttelte er den Kopf.
»Ist das nicht schrecklich?« Lina freute sich, ein Gesprächsthema gefunden zu haben. Bei der Feldarbeit war er streng und abweisend zu ihr gewesen. Jetzt wirkte er betroffen über die Ereignisse im Bauernhaus.
»Tragisch, nicht nur für Zumwinkel«, nickte Thomas. »Er hat lange für das Geld arbeiten müssen, und wir werden wohl keinen Lohn bekommen.«
Darüber hatte sich Lina noch keine Gedanken gemacht. Obwohl sie eigentlich kein Geld brauchte, so stopfte sie ihren Lohn fast komplett in das Futter ihres Kopfkissens, um es für ihre arme Mutter zu sparen, die in der Nähe von Gütersloh lebte. Carla war Witwe und musste jeden Groschen dreimal umdrehen, bevor sie ihn ausgab. Immer wenn sie die Miete nicht zahlen konnte, half Lina ihr mit dem Ersparten. Sie hatte ein großes Herz und den dringenden Wunsch, ihrer Mutter etwas Gutes zu tun.
»Weiß man denn schon, wer dahinterstecken könnte?«, wagte sie einen zaghaften Vorstoß. Der Knecht war die rechte Hand des Bauern und er war meistens in alle Geschehnisse eingeweiht. Wenn jemand auf dem Hof Details wusste, dann er.
»Ich verrate niemandem etwas«, versprach Lina, als sie sein Zögern bemerkte. Sie sah ihm förmlich an, dass er etwas wusste.
Thomas nahm einen Zug an seiner Zigarette und schien nachzudenken. Vermutlich war er sich nicht sicher, ob er ihr vertrauen konnte. »Man hat einen Verdacht«, äußerte er schließlich leise. Dabei sah er sich um, so, als fürchte er, belauscht zu werden.
»Es kann nur jemand von den Maurern infrage kommen.«
Lina machte große Augen. Mit dieser Antwort hatte sie am wenigsten gerechnet. »Du meinst, die Maurer haben das Geld gestohlen?«
Er nickte und betrachtete sie mit einem intensiven Blick. Die Zigarette klemmte dabei lässig in seinem Mundwinkel. »Wer sonst?«
»Ich weiß es nicht.«
»Die Maurer sind nicht mehr lange auf dem Hof. In wenigen Tagen schon ist der neue Stall fertiggestellt, und sie werden abreisen – vermutlich auf Nimmerwiedersehen.«
»Aber der Maurermeister wird das nicht nötig haben, ihm gehört ein gut laufendes Baugeschäft.«
»Ob es gut läuft, weiß man nicht. Und als Geschäftsmann ist man immer auf Geld angewiesen.« Thomas lachte. »Und mal ehrlich: Wem von den Arbeitern, den Knechten und Mägden auf dem Hof traust du so etwas zu?«
Lina dachte nach. Im Geiste ging sie die ganze Belegschaft durch. Niemand fiel ihr ein, dem sie so etwas zutrauen würde.
»Siehst du.« Thomas nahm einen letzten Zug an der Zigarette, dann schnippte er den Stummel auf den Boden. Er betrachtete die Glut, die langsam verlosch, dann widmete er Lina wieder seine ganze Aufmerksamkeit. »Mich würde es nicht wundern, wenn es der Filius des Maurers war«, raunte ihr Thomas ins Ohr.
»Carl?«, fragte sie. »Du meinst, dass es Carl war, der …«
»Wer sonst?« Thomas nickte. »Denk doch mal nach, Lina. Er hat Flausen im Kopf, spinnt ständig davon herum, Erfinder werden zu wollen. Dafür braucht es Geld, viel Geld. Wer Maschinen konstruieren will, der braucht Material, womöglich auch viel Geld, um ein Patent anmelden zu können.« Er atmete tief durch, ohne Lina aus den Augen zu lassen. »Wenn jemand auf dem Hof Geld braucht, dann der junge Maurergeselle.«
»Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«, fragte Lina ein wenig zu laut.
»Ach wo.« Er winkte ab. »Es ist ein Leichtes, ins Haus zu huschen, während alle bei der Arbeit sind, um sich in einem unbeobachteten Moment am Schrank im Büro des Bauern das Geld zu holen und damit zu verschwinden. Den Umschlag kann er sich ganz leicht unter die Arbeitsjacke schieben.«
»Ich glaube das nicht.« Lina schüttelte ungläubig den Kopf. Katharina schwärmte ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor, wie höflich und rücksichtsvoll, ja schon einfühlsam Carl Thiele war. Er war schlau und hatte gute Manieren, und jetzt wurde er von Thomas als Dieb bezichtigt. »Ich werde …« Katharina fragen, wollte sie sagen, doch Thomas unterbrach sie mit einer herrischen Geste. Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen und stieß einen zischenden Laut aus. »Psst«, machte er warnend. »Niemand muss etwas von unserem Gespräch mitbekommen.« Wieder blickte er sich um. Sie waren allein auf dem Hof, alle anderen schienen sich in ihre Kammern verkrochen zu haben. Der Bauer hatte alle zu Bett geschickt. Morgen stand ein langer Arbeitstag auf dem Programm, bei dem alle helfenden Hände gebraucht wurden, um das Korn zu dreschen. Der Bauer hatte sogar Tagelöhner aus der Stadt eingestellt.
»Die Polizei wird schon alle der Reihe nach befragen«, hatte Bernhard Zumwinkel gesagt, nachdem sich alle in der Stube versammelt hatten. »Und solange ihr nicht gebraucht werdet, solltet ihr euch ausruhen.« Sicherlich hatte der Bauer auch den Hintergedanken gehabt, dass sich so niemand vom Hof schleichen konnte. Irgendjemand hatte vorgeschlagen, eine Wache einzurichten, war damit jedoch auf wenig Gegenliebe gestoßen. »Was nicht mehr da ist, muss auch nicht bewacht werden«, hatte der Bauer lakonisch geantwortet, bevor sich alle zurückgezogen hatten.
»Aber die Maurer sind nicht die einzigen Männer, die nicht ständig auf dem Hof sind«, gab Lina zu bedenken. »Die Radmacher, die Korbmacher, der Schmied, die Scherenschleifer, die Küfer – alle gehen ein und aus und genießen Tag für Tag das Vertrauen des Bauern.«
»Das sind rechtschaffene Leute, ich kenne sie alle.« Seine Wangenknochen mahlten. »Nein, nein, von denen kommt niemand infrage, Lina.«
Sie gab es auf. Thomas war sicher, dass die Maurer hinter dem Raub steckten. Und je länger sie über seine Argumente nachdachte, umso mehr musste sie ihm recht geben. Niemals wäre ihr Verdacht auf die Maurer gefallen. Alle waren nette Gesellen, sie lachten gern und arbeiteten wie besessen an der Fertigstellung des neuen Stalls. Aber dass Thomas ausgerechnet Carl in Verdacht hatte … Lina wusste, dass Katharina sich in Carl verguckt hatte. Sie turtelten seit ein paar Tagen wie die verliebten Täubchen. Ob die Tochter des Bauern ihn auch in die Geheimnisse des Hofes eingeführt hatte? Ob er wusste, wo Zumwinkel das Bargeld für die Löhnung versteckte? Sie wusste es nicht. Aber sicher konnte es nicht schaden, Katharina über den Verdacht des Knechts zu informieren.
»Ich werde mich hinlegen«, behauptete sie und täuschte ein Gähnen vor. »Es war ein langer Tag, und ich bin sehr müde.«
Thomas musterte sie misstrauisch. »Ich dachte, du findest keine Ruhe.«
»Jetzt vielleicht schon. Die frische Luft tat gut.« Lina schenkte ihm ein Lächeln und verabschiedete sich von Thomas, der es vorzog, sich noch einen Moment im Freien aufzuhalten. »Bist du denn nicht müde?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich warte auf die Ankunft des Hauptwachtmeisters aus Clarholz.«
»Wie du meinst.« Lina blickte ihm tief in die Augen. Dass das ungewohnt freundliche Lächeln seiner Lippen die Augen nicht erreichte, bemerkte sie nicht. So blieb ihr nichts, als sich zu verabschieden. Im Haus angekommen, überlegte Lina fieberhaft, was zu tun war. Thomas hatte keinen Hehl daraus gemacht, wen er in Verdacht hatte. Doch sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Carl etwas damit zu tun hatte. Und wenn doch, dann musste Katharina auf der Hut vor ihm sein. Sie musste Katharina warnen. Hastig huschte sie die Treppe ins obere Stockwerk hinauf, dabei wäre sie um ein Haar gestolpert. Im letzten Moment bekam sie das Treppengeländer zu packen und konnte Schlimmeres vermeiden. Atemlos hielt sie inne und lauschte ins Haus. Gott sei Dank schien niemand aufgewacht zu sein. So leise wie möglich schlich Lina weiter bis zum Ende des Korridors. Hier lag Katharinas Stube. Sicherlich schlief sie schon. Kurz zögerte Lina, doch es nutzte nichts, es war wichtig. Zaghaft klopfte sie an die Tür. Als sich drinnen nichts tat, klopfte sie noch einmal, diesmal etwas energischer. »Katharina«, flüsterte sie und legte lauschend ein Ohr gegen das Türblatt. »Schläfst du schon?«
Jenseits der Tür herrschte völlige Stille. Wieder klopfte Lina. Wieder tat sich nichts und Lina drückte die Türklinke nieder. Das Quietschen des einfachen Kastenschlosses klang in der nächtlichen Stille des Hauses überlaut. Mit einer fließenden Bewegung huschte Lina in die enge Kammer. Der Mond warf sein silbriges Licht durch das Fenster in den Raum und ließ das einfache Mobiliar surreal erscheinen. Ein Windstoß fegte durch eine Ritze im Fensterrahmen und blähte die Gardinen wie von Geisterhand auf. Obwohl Lina nicht sonderlich ängstlich war, rieselte nun doch ein Schauer ihren Rücken herunter. Es war eine unheimliche und beklemmende Situation. Die Türen des Kleiderschranks standen ebenfalls einen Spaltbreit offen. Das Bett hingegen war unberührt. Die selbstgestrickte Tagesdecke lag faltenfrei auf der Bettwäsche. Vor dem Bett standen graue Filzpantoffeln und ein Nachttopf aus Porzellan. Katharina war also noch nicht zu Bett gegangen. Aber wo, um Himmels willen, hielt sie sich zu dieser späten Stunde auf?
Lina dachte angestrengt nach, doch ihr wollte keine Erklärung für Katharinas Abwesenheit einfallen. Enttäuscht machte sie kehrt. Jetzt fühlte sie sich wie eine Schnüfflerin und hoffte, nicht gesehen worden zu sein. So schnell wie möglich machte sie, dass sie zu ihrem Zimmer kam. Nicht, dass der Verdacht noch auf sie fiel. Wer sich nachts in fremden Kammern herumtrieb, dem traute man sicher auch einen Diebstahl zu.