Dumpf hallten die Glocken von Sankt Laurentius durch die Nacht. Es klang wie eine Begrüßung Gottes, als Katharina und Carl ihr Ziel erreichten. Irgendwo in der Nacht bellte ein Hund, ein Mann fluchte. Im benachbarten Wirtshaus herrschte längst Stille. Zwar brannte noch Licht in der Gaststube, aber Katharina vermutete, dass dort geputzt wurde und die unzähligen benutzten Gläser der Gäste gespült wurden. Sie beide ahnten nicht, dass Lina sie händeringend auf dem Hof gesucht hatte, weil es Neuigkeiten gab.
Die Polizeiwache war nur einen Steinwurf weit von der Propstei in der Dorfmitte von Clarholz entfernt. Alte Kastanienbäume rahmten einen Platz ein, der irgendwann einmal zum Kloster gehört hatte. Jetzt gab es Ziegel- und Fachwerkhäuser, die sich hier angesiedelt hatten, einen Gasthof, ein Geschäft und das Schulgebäude, in dem Katharina zur Schule gegangen war. Gleich nebenan lag das Backsteingebäude mit dem dunkelblauen Polizeiwappen über dem Eingang. Ortspolizei-Behörde Clarholz las Katharina die schwungvollen Lettern auf dem Schild neben der Tür. Eine Treppe führte hinauf. Entschlossen erklomm Carl die Stufen und betätigte den Türklopfer, einen eisernen Ring, der im Maul eines Löwen klemmte. Hohl klang das Klopfen durch die Nacht.
»Dann mal los, wecken wir den Gesetzeshüter«, sagte Carl gut gelaunt. Er schien sich zu freuen, dass nun Bewegung in die Geschichte kam.
»Sei vorsichtig«, warnte Katharina ihn. »Mit dem Vorsteher der Wache ist nicht gut Kirschen essen. Er hat lange Zeit als Soldat bei den Preußen gedient, bevor er sich in den Polizeidienst versetzen lassen hat. Ein strenger Zeitgenosse ist er.«
»Wir haben wohl nichts zu befürchten«, entgegnete Carl, während er erneut auf das Holz der Tür hämmerte.
»Es brennt kein Licht mehr«, stellte Katharina flüsternd fest. Sie fragte sich, warum sie überhaupt die Stimme senkte. Um diese Zeit befand sich niemand mehr auf der Straße. Die Menschen im Dorf lagen in ihren Betten und schliefen tief und fest.
Carl brummte etwas Unverständliches, dann klopfte er erneut. Auch diesmal rührte sich in der Wache nichts. »Sicherlich schläft der Wachtmeister längst.«
»Ich kann es ihm nicht verdenken«, bemerkte Katharina, die sich plötzlich danach sehnte, mit Carl in einem warmen, weichen Bett zu liegen und seine Nähe und Geborgenheit zu spüren. Doch der Anlass für ihren nächtlichen Ausflug war ernst und ließ den Wunsch nach Zweisamkeit in weite Ferne rücken. Für Zärtlichkeiten war es gerade nicht der rechte Zeitpunkt.
»Dein Vater hat gesagt, dass der Polizist über der Wache wohnt«, erinnerte Carl sie mit gedämpfter Stimme. »Wir müssen von hinten ans Haus kommen.«
Katharina nickte. »Lass es uns versuchen.« Diesmal ging sie voran. Sie suchte die Häuserzeile nach einem Durchgang ab und wurde schnell fündig. Seite an Seite durchschritten sie die Hofeinfahrt und wurden von der Dunkelheit verschluckt. »Links«, raunte Carl ihr zu, »wir müssen uns links halten.« Wenige Schritte weiter standen sie in einem fast quadratischen Innenhof. Auch hier waren alle Fenster dunkel.
Carl nahm Katharinas Hand. »Komm schon.« Nachdem sie sich orientiert hatten, entdeckten sie die Rückseite des Hauses, in dem sich die Polizeiwache befand. »Da muss es sein.«
»Auch alles dunkel.« Katharina war enttäuscht, doch was erwartete sie? So blieb ihr nichts, als Carl zu folgen. Er war bereits am Hintereingang angelangt. Einen Türklopfer suchte man hier vergebens. So ballte er die große Hand zu einer Faust und hämmerte gegen das Holz. »Wie heißt der Wachtmeister?«, fragte er Katharina.
»Petermann, Wilhelm Petermann«, antwortete sie ihm. »Er sorgt hier seit vielen Jahren für Recht und Ordnung.«
»Herr Petermann?«, rief Carl, nachdem er erneut geklopft hatte. »Hauptwachtmeister Petermann, sind Sie zu Hause?«
Es dauerte einen Moment, dann tat sich endlich etwas im Innern des Hauses. Oben wurde eine Laterne angezündet. Der Lichtschein geisterte über die Wände, schließlich ertönten schwere Schritte. Dann wurde die Tür geöffnet.
Katharina hatte Hauptwachtmeister Petermann schon lange nicht mehr gesehen. Er war alt geworden, strahlte aber trotz seiner zu dieser Stunde nachlässigen Kleiderwahl immer noch Strenge und Autorität aus. Sein Blick war durchdringend, vor dem rechten Auge klemmte ein Monokel, der prächtige Kaiserbart war frisch gestriegelt, die schmale Nase leicht angehoben.
»Entschuldigen Sie die Störung zu später Stunde«, bat Katharina ihn, bevor er etwas sagen konnte, »mein Name ist Katharina Zumwinkel, ich bin die Tochter vom Zumwinkel-Hof.«
Der Hauptwachtmeister musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Ich erinnere mich an dich«, nickte er schließlich und betrachtete Carl voller Misstrauen. »Und Sie sind?«
»Mein Name ist Thiele, Carl Thiele. Ich bin Maurer und arbeite derzeit auf dem Hof.«
»Was treibt Sie um diese Zeit hierher?« Er zog eine Taschenuhr hervor und klappte sie auf. Mit dem Zwicker auf der Nase warf er einen Blick auf das Zifferblatt.
»Diebe«, sagte Carl schnell. »Es hat einen Diebstahl auf dem Hof gegeben heute Abend. Dem Bauern wurden die Löhne seiner Angestellten geklaut.«
»Ich verstehe.« Hauptwachtmeister Petermann nickte. »Schrecklich ist das.«
Carl warf Katharina einen Blick zu. Er schien nicht viel von dem Polizisten zu halten, doch es gab nur diesen einen Staatsdiener in Clarholz, also würden sie mit Petermann vorliebnehmen müssen.
»Begleiten Sie uns zum Hof?«, fragte Carl.
Der Hauptwachtmeister dachte nur kurz nach, dann nickte er energisch. »Selbstredend. Ich bin gleich startklar. Und Sie«, er deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger erst auf Carl, dann auf Katharina, »bewegen sich nicht von der Stelle. Wir werden den Dieb schon noch dingfest machen, darauf können Sie sich verlassen.« Ohne die Antwort seiner nächtlichen Besucher abzuwarten, schlug er ihnen die Tür vor der Nase zu.
»Und jetzt?«
Katharina musste lachen, als sie Carls hilfloses Gesicht sah. »Warten wir«, sagte sie. »Eine andere Wahl haben wir wohl nicht.« Sie fröstelte, die Temperatur war weiter gesunken, und von Tag zu Tag wurde es herbstlicher. Carl bemerkte, dass ihr kalt war, und legte einen Arm um sie, um ihr Wärme zu spenden. Kaum, dass sie sich einander genähert hatten, flog die Tür auf, und ein uniformierter Hauptwachtmeister Petermann stand vor ihnen. Am Gürtel trug er einen Schlagstock und eine Trillerpfeife, auf dem Kopf ragte eine Pickelhaube in die Höhe. Petermann legte großen Wert auf sein Äußeres. Er hakte die Hände hinter sein Koppel und musterte das Paar. »Was wird das?«
»Ich wärme sie«, erklärte Carl ein wenig verunsichert. »Ist das verboten?«
»Nicht, wenn Sie verheiratet sind«, erwiderte der Hauptwachtmeister in strengem Ton und schüttelte den Kopf. »Sie sind doch verheiratet, richtig?«
Katharina und Carl tauschten einen flüchtigen Blick, bei dem Katharina sich das Lachen verkneifen musste.
»Bald«, beeilte sich Carl zu sagen. »Bald sind wir verheiratet.«
Am liebsten hätte Katharina ihn auf der Stelle geküsst, so glücklich war sie über die eher scherzhaft gemeinte Aussage. Er lächelte, als er ihren verzückten Gesichtsausdruck sah, dann trieb er den Wachtmeister zur Eile an. »Können wir dann los?«
»Selbstredend, worauf warten Sie denn noch?«, schnarrte der Polizist. Er schritt voran und sah sich nicht mehr zu den beiden um. Der Hauptwachtmeister hatte ein Verbrechen aufzuklären, ein Umstand, der ihm offensichtlich große Freude bereitete. »Moment«, rief Carl ihm hinterher. »Wo steht Ihre Kutsche?«
»Kutsche?« Wilhelm Petermann blieb stehen. »Sie machen wohl Witze. Mir wurde noch kein Fuhrwerk zur Verfügung gestellt. In diesem Jahr noch soll ich ein Dienstfahrrad bekommen, aber selbst, wenn ich es schon hätte, würden wir da nicht alle draufpassen.«
»Wie kommen wir zum Hof zurück?« Carl machte große Augen. Offenbar war er nicht auf einen weiteren Fußmarsch eingestellt gewesen.
»So wie Sie hergekommen sind, fürchte ich.« Der Vorsteher der Polizeiwache zuckte die Schultern. »Und nun Abmarsch, ich möchte keine Zeit verlieren.«
*
Lina erwachte eine Stunde später, als es an ihrer Tür klopfte. Sie war sofort hellwach. Ihr Herz raste vor Aufregung, als sie sich mit einem Ruck aufrichtete. Da sie darauf verzichtet hatte, die Gardinen zu schließen, genügte ihr das einfallende Mondlicht, um sich in der Kammer zu orientieren. Nachdem der Bauer den Angestellten verkündet hatte, dass der Wachtmeister sie unter Umständen noch zu einer Befragung wecken würde, war Lina bekleidet unter die Decke geschlüpft.
»Ich komme«, rief sie mit vor Aufregung zitternder Stimme, als es erneut klopfte. Hastig öffnete sie die Tür und blickte in drei Gesichter. Zwei von ihnen kannte sie – Carl und Katharina, der Dritte musste der Wachtmeister aus dem Dorf sein. Er trug eine dunkelblaue Uniform, eine Pickelhaube auf dem Kopf und sah sehr streng aus. Ein Monokel klemmte vor seinem linken Auge. Der Mann betrachtete sie argwöhnisch mit auf dem Rücken gekreuzten Armen.
»Was kann ich tun?«, fragte sie.
Katharina lächelte ihr zu. »Das ist Hauptwachtmeister Petermann. Er hat ein paar Fragen an dich.«
Der Polizist nickte mit grimmiger Miene. »Und Sie sind?«
»Lina, ich bin die Küchenmagd.« Sie gab den Eingang frei. »Bitte kommt herein.«
»Ich übernehme das allein«, sagte der Hauptwachtmeister mit Blick auf Katharina und Carl. Die beiden zuckten die Schultern und ließen ihn mit Lina allein.
»Haben Sie schon einen Verdacht, Herr Wachtmeister?«
»Hauptwachtmeister – so viel Zeit muss sein.«
»Herr Hauptwachtmeister«, korrigierte sich die Magd hastig. Der uniformierte Gesetzeshüter hatte sie eingeschüchtert. Linas Neugier war jedoch größer. »Wissen Sie schon, wer hinter dem schrecklichen Diebstahl steckt?«
»Ich stecke noch mitten in den Befragungen«, erwiderte Petermann ausweichend, während er sie mit wachsamem Blick betrachtete. »Als Küchenmagd arbeiten Sie eng mit der Bäuerin zusammen, richtig?«
»Ja, das stimmt.« Lina überlegte fieberhaft, ob es richtig war, dem Hauptwachtmeister von Thomas’ Verdacht zu berichten. Von ihrer Mutter hatte sie schon als Kind gelernt, dass Ehrlichkeit immer siegte.
»Ich möchte Ihnen etwas erzählen«, sagte sie an den Hauptwachtmeister gewandt. »Nehmen Sie Platz.« Sie zeigte auf den klapprigen Stuhl am Fenster.
»Nicht nötig.«
Lina sank schulterzuckend auf die Bettkante. »Also gut.«
»Was wollen Sie mir erzählen?« Fragend hatte Petermann eine Braue gehoben. Mit zackigen Bewegungen zog er ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch und einen Stift aus der Tasche.
»Es geht um einen Verdacht«, eröffnete Lina ihm kleinlaut.
*
»Ist dir aufgefallen, dass Lina mich wie einen Geist angesehen hat?« Carl hatte Katharina in ihre Kammer begleitet. Eigentlich war das nicht erlaubt, doch in dieser eigenartigen Nacht war das ohnehin nebensächlich. Katharina hatte die kleine Petroleumlaterne angezündet, die nun einen behaglichen Lichtschein in der Kammer verbreitete. Der Docht knisterte leise. Carl betrachtete gedankenverloren das florale Muster auf dem Lampenschirm aus Milchglas. Er hatte sich verkehrt herum auf den Stuhl gehockt, während Katharina auf dem knarrenden Kastenbett saß. »Allerdings.« Als sie zu ihm aufblickte, nickte sie. »Vielleicht war sie wegen der Befragung einfach aufgeregt«, vermutete Katharina. »Man wird ja schließlich nicht jeden Tag von der Polizei vernommen.«
»Weiß sie von uns?«
Katharinas Wangen röteten sich. »Ich habe ihr von uns erzählt – nicht alles, aber sie kann sich den Rest sicher denken.« Kurz erhellte sich ihre Miene, dann wurde sie wieder ernst.
Carl nickte.
»Ihr seid befreundet?«
»Ja, ich kann ihr vertrauen.« Katharina seufzte. »Sie ist in Thomas verliebt, aber er lässt sie ständig abblitzen, während er immerzu um mich herumschwänzelt.«
Carls Miene verfinsterte sich. Gestenreich krempelte er sich die Hemdsärmel hoch. »Soll ich mal mit ihm reden?«
»Nein, lass nur.« Trotz der Situation musste Katharina lachen. Carls Eifersucht gefiel ihr. Das zeigte ihr, wie sehr er sie liebte. Und einen Nebenbuhler würde er nicht akzeptieren, so viel stand fest. »Ich weiß mich schon zu wehren, wenn er zudringlich wird. Wobei er sich ein wenig zurückhält, nachdem ich ihm eine Backpfeife verpasst habe.« Als sie kurz die Augen schloss, tauchte schlaglichtartig die Erinnerung an das zerstörte Fass auf. Thomas schien ein schlechter Verlierer zu sein.
»Ist Lina integer?«
»Aber sicher.« Katharina hatte bisher keinen Gedanken daran verschwendet, ob die Magd möglicherweise etwas mit dem Diebstahl zu tun haben könnte – etwas Derartiges traute sie dem braven Mädchen einfach nicht zu. Zwar hatte Lina ihr immer wieder von ihrer armen Mutter berichtet, die sie mit ihrem gesparten Lohn unterstütze, so gut es ging, doch Diebstahl passte nicht zu ihr. Fast schämte sie sich bei dem Gedanken, die Magd mit dem Diebstahl in Zusammenhang zu bringen. »Ich vertraue ihr, auch wenn sie sicherlich weiß, wo Vater den Lohn versteckt hat. Sie hätte wohl viel zu viel Angst, dass man sie erwischen könnte – ach nein, wahrscheinlich käme sie gar nicht erst auf die Idee, uns zu beklauen. Und es ist …«
Das Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken.
Carl holte tief Luft. »Das wird der Polizist sein«, vermutete er und erhob sich vom Stuhl. Er machte Katharina Platz, der es oblag, die Tür ihrer Kammer zu öffnen.
Auf dem Korridor stand tatsächlich der Hauptwachtmeister, in Begleitung von Lina. Sie zitterte und war kreidebleich. Katharina fiel auf, dass die Magd es vermied, ihr oder Carl in die Augen zu blicken. Mit ihrem eigenartigen Verhalten erhärtete sich Katharinas Verdacht, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein seltsames Gefühl beschlich sie.
»Dürfen wir eintreten?«, fragte der Polizist.
»Selbstverständlich.« Das möglichst unbekümmerte Lächeln fiel Katharina schwer. »Treten Sie ein.«
»Schlechtes Gewissen?« Der Hauptwachtmeister schien bemerkt zu haben, dass Katharina gerade tausend Gedanken durch den Kopf gingen.
»Ich wüsste nicht warum«, log Katharina. Ihr fiel auf, dass Lina dem Polizisten auf dem Fuß folgte. Noch immer mied sie den Blickkontakt zu ihr und zu Carl.
»Warum sollten wir ein schlechtes Gewissen haben?« Carl runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Weil Sie nicht verheiratet sind und zur nachtschlafenden Zeit gemeinsam in einer Kammer anzutreffen sind. So etwas schickt sich nicht.«
»Na hören Sie mal«, rief Carl erbost. »Das geht Sie nichts an, Herr Hauptwachtmeister.«
»Was können wir für Sie tun?«, fragte Katharina, bevor die Situation eskalierte. Ihr Bedarf an Ärger war für heute bereits gedeckt.
»Es liegt ein Verdacht vor«, knurrte der Hauptwachtmeister und bedachte Carl mit einem seltsamen Blick, den Katharina nicht recht zu deuten wusste.
»Sie wissen, wer der Dieb ist?«, rief Katharina. »Aber das ist doch großartig!«
»Das liegt im Auge des Betrachters.«
»Wovon sprechen Sie?« Katharina spürte, wie sich ein Bleigürtel um ihren Brustkorb legte.
»Dass ich nicht weiß, ob Ihnen meine Hinweise auf den Täter gefallen werden.« Petermanns Stimme hatte einen eigenartigen Tonfall, den Katharina nicht recht zu deuten wusste. Sie sah an dem Staatsdiener vorbei auf ihre Freundin. Lina mied noch immer den direkten Blickkontakt.
»Erzählen Sie es«, forderte Wilhelm Petermann die Magd jetzt auf. Offenbar wollte er jedem Verdacht nachgehen, um den Fall möglichst schnell abschließen zu können.
»Ich weiß nicht …«
»Haben Sie keine Angst, wenn Sie einen sachdienlichen Hinweis liefern können, der zur Ergreifung des Täters führt, dann müssen Sie ihn jetzt aussprechen.«
»Du stehst unter Verdacht«, sagte Lina so forsch an Carl gewandt, dass Katharina glaubte, sich verhört zu haben.
»Wie bitte?«, fragte sie.
»Thomas ist sicher, dass du hinter dem Diebstahl steckst, weil du viel Geld für deine Erfindung brauchst.«
»Das ist doch Unsinn«, keuchte Carl.
»Carl bekommt das Material für den Bau seiner Maschine von meinem Vater gestellt, das kostet ihn keinen einzigen Taler.« Katharina baute sich vor Lina auf. »Wie kommst du dazu, dem Knecht zu glauben?«
»Hier wird ein teuflisches Spiel gespielt«, murmelte Carl und barg das Gesicht in den Händen. Seine Stimme klang hohl. »Man möchte mir eins auswischen.« Er blickte auf und sah dem Hauptwachtmeister in die Augen. »Glauben Sie ernsthaft, was der Knecht behauptet?«
Bevor Petermann antworten konnte, ging Katharina dazwischen. »Er ist eifersüchtig auf Carl. Thomas ist in mich verliebt, Herr Wachtmeister.«
»Hauptwachtmeister!«, mahnte er sie mit erhobenem Zeigefinger.
»Entschuldigen Sie, Herr Hauptwachtmeister. Der Knecht ist verliebt in mich, er stellt mir nach, und er bedrängt mich. Ich will aber nichts von ihm.« Mit Tränen in den Augen betrachtete sie Carl. »Ich bin verliebt, aber nicht in Thomas. Carl ist der Mann meiner Träume.«
»Das ist nicht zu übersehen«, murmelte der Polizist und klang plötzlich gar nicht so streng, wie sie es von ihm gewohnt waren. Dann wurde er wieder ernst. »Was unterstellen Sie dem Knecht? Bezichtigen Sie ihn, er würde Carl Thiele ans Messer liefern, damit er freie Bahn hat?«
»Ich weiß es doch nicht«, gestand Katharina ihm mit tränenerstickter Stimme. Sie fühlte sich wie in einem Alptraum. Warum, um Himmels willen, sollte Carl ihrem Vater das Geld gestohlen haben?
»Mit solchen Behauptungen sollten Sie vorsichtig sein«, warnte Petermann sie. »So etwas kann schnell eine Beleidigungsklage nach sich ziehen.« Die Hand, mit der er Stift und Notizbuch festhielt, ließ er sinken. Der Staatsdiener wandte sich zu Lina um, die kleinlaut dastand. »Erzählen Sie«, forderte er die Magd auf.
»Thomas ist sicher, dass du das Geld genommen hast«, sagte sie, ohne Carl anzusehen.
»Das ist doch Unsinn!«, wetterte Carl außer sich. »Ich war die ganze Zeit mit den anderen Maurern und meinem Vater zusammen. Und mit …« kurz entspannten sich seine Gesichtszüge, »und mit Katharina. Es gab keinen Moment, in dem ich allein war.«
»Soso.« Petermann schrieb mit. »Das können die Personen, die Sie eben benannt haben, sicher auch bezeugen?«
»Aber selbstverständlich – jedenfalls, was meine Person betrifft«, sagte Katharina aufgebracht.
»Dieser Knecht behauptet weiterhin, Sie beobachtet zu haben, wie Sie mit Ihrer Beute in Ihrer Kammer verschwunden sind.«
»Das ist eine Frechheit!«, rief Carl außer sich. Sein Gesicht hatte eine tiefrote Färbung angenommen. Obwohl sie ihn als einen friedliebenden Menschen kennengelernt hatte, war ihm anzusehen, dass er Thomas am liebsten verprügelt hätte. »Wie kommt dieser Kerl dazu?«
»Er wird es wissen«, wiederholte Petermann.
Katharina rang um Fassung. »Der Wahrheitsgehalt lässt sich doch ganz leicht herausfinden, indem wir in Carls Kammer nach dem Rechten sehen«, sagte sie. »Wenn dieser Knecht die Wahrheit gesagt hat, dann befindet sich die Beute vielleicht bei Carl im Zimmer.«
»Gute Idee«, nickte Carl und sprang auf. »Kommt schon, worauf wartet ihr?« Ihm war anzusehen, dass er sich sehnlichst wünschte, der Alptraum möge bald enden. »Sie werden nichts finden, Herr Wacht… Herr Hauptwachtmeister!«, rief er und riss die Zimmertür auf. Ohne auf die anderen zu warten, ging er eiligen Schrittes voran. Seine Schuhe polterten auf dem Boden des dunklen Korridors. Petermann, Lina und Katharina folgten ihm auf dem Fuß. Nach wenigen Metern standen sie vor Carls Zimmertür. Carl verharrte einen Augenblick und wandte sich um. »Sind alle da?«
»Selbstredend«, nickte Petermann mit entschlossener Miene. »Los, sperren Sie schon auf, junger Mann!«
Das ließ sich Carl nicht zweimal sagen. Er drückte mit einem energischen Ruck die Klinke nach unten und stieß die Tür auf. Den Angeln entwich ein schauerliches Quietschen. Kühle Luft strömte ihnen entgegen.
»Mach bitte Licht, Katharina«, bat er sie. Katharina nickte und entzündete die Laterne auf seiner Kommode. Dort lagen die Skizzen seiner neuen Maschine.
»Was soll das denn?«, meldete sich eine verschlafene Stimme aus dem Dunkel. Im zweiten Bett lag Gerhard Thiele. Er hatte bereits geschlafen und räkelte sich jetzt. Mit einem herzhaften Gähnen richtete er sich auf. »Polizei?«, fragte er und schüttelte die Müdigkeit ab. »Was hat das zu bedeuten?«
»Vater, man bezichtigt mich, hinter dem Diebstahl zu stecken«, erklärte Carl ihm.
»Dich?« Thiele senior rieb sich den Schlaf aus den Augen, schüttelte den Kopf, dann lachte er. »Der ist gut«, prustete Thiele, »ernsthaft?«
»Ich beliebe nicht zu scherzen«, schnarrte Petermann. »Und Sie sind?«
»Thiele, Gerhard Thiele. Ich bin der Vater von … Ihres Verdächtigen.« Wieder musste er lachen. »Ein schlechter Scherz ist das.«
»Bedauerlicherweise nicht.« Petermann schüttelte den Kopf und sah sich in der Kammer um. Wie selbstverständlich trat er an den Schrank. »Ich darf doch?« Ohne Carls Antwort abzuwarten, öffnete er die Schranktüren, warf einen Blick hinein und durchstöberte den Inhalt, der größtenteils aus Kleidungsstücken bestand.
»Ja, nur zu«, sagte Carl. »Ich habe nichts zu verbergen.«
»Dann ist das ja kein Problem.«
»Morgen ist Waschtag«, bemerkte Katharina entschuldigend, als sie die Schmutzwäsche im Schrank entdeckte.
»Das interessiert mich nicht«, erwiderte Petermann und riss alle Kleidungsstücke aus dem Schrank, um sie achtlos auf den Boden zu werfen. Er ging vor dem Schrank in die Hocke. Ein eigenartiger Anblick, denn er versuchte trotzdem, eine würdevolle Haltung einzunehmen, während er sich weiterhin um den Schrankinhalt kümmerte. Er ließ kein Kleidungsstück auf dem anderen liegen und durchsuchte alles, was ihm zwischen die Finger kam. »Irgendwo hier muss doch …«
»Sie werden nichts finden«, behauptete Carl. Er konnte es kaum erwarten, dass er seine Unschuld beweisen konnte.
»Das sagen Sie.« Der Hauptwachtmeister wandte sich kurz zu ihm um, dann langte er in den Schrank. Als er die Hand zurückzog, lag ein Umschlag darin. »Und wie können Sie mir das hier erklären?« Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck musterte er Carl. Dabei hielt er ein Päckchen in die Höhe.
»Ich … das glaube ich nicht, das kann doch nicht möglich sein!« Carl wurde auf der Stelle leichenblass. Starr vor Schreck sank er auf seine Bettkante. Ihm war, als hätte man ihm einen kräftigen Hieb in den Magen versetzt.
Petermann nahm den prall gefüllten Umschlag mit beiden Händen und versuchte, ihn mit spitzen Fingern zu öffnen.
Dabei hielt er das Kuvert so, dass Carl und Katharina einen Blick hineinwerfen konnten. Darin befand sich ein dickes Bündel Banknoten. »Der Lohn«, kam es über Katharinas Lippen. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Es war unmöglich, dass Carl hinter dem Diebstahl steckte. So etwas traute sie ihm einfach nicht zu. »Wie um Himmels willen kommt das Geld in deinen Schrank?«
»Carl war es nicht«, ließ sich Gerhard Thiele von seinem Bett aus vernehmen. Während er von einem zum anderen blickte, schien es ihm nicht im Geringsten unangenehm zu sein, dass er im geblümten Pyjama auf dem Bett hockte. »Er kann es nicht gewesen sein, weil die beiden Turteltauben jede freie Minute zusammen verbringen.«
Katharina errötete bei den ehrlichen Worten des Maurermeisters. »Außerdem«, fuhr er fort, »war ich die ganze Zeit hier im Zimmer. Hätte mein Sohn also den Umschlag hier versteckt, hätte er sich ein paar unangenehme Fragen von seinem alten Herrn gefallen lassen müssen.« Er lachte, als wäre dies eine spaßige Veranstaltung.
Katharina blieb das Lachen in der Kehle stecken. In ihr rangen Zweifel mit dem blinden Vertrauen in Carl. Sie war sicher, dass er mit dem Diebstahl nichts zu tun hatte, auf der anderen Seite hatte der Wachtmeister die Beute in Carls Schrank gefunden. Wie, um Himmels willen, war sie dorthin gelangt? Die Gedanken rasten durch ihren Kopf. Immer wieder betrachtete sie Carl von der Seite.
»Ich kann das nicht gewesen sein«, schwor er immer wieder. »Ich war das nicht, ihr müsst mir glauben!«
»Aber die Beweislage ist erdrückend, junger Mann«, entgegnete Hauptwachtmeister Petermann. »Oder können Sie mir das hier«, er hob den Arm mit der Beute, »erklären?«
»Nein, das kann ich nicht«, antwortete Carl aufgebracht. »Aber ich bin sicher, dass es eine plausible Erklärung gibt.«
»Ich bin gespannt.«
»Hören Sie, Wachtmeister …«
»Hauptwachtmeister«, fuhr Petermann ihm mahnend in die Parade.
»Hauptwachtmeister Petermann, es ist Ihre Aufgabe, den Dieb zu stellen. Nicht den, bei dem die Beute versteckt wurde. Möglicherweise, um von sich selbst abzulenken.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Dass ich nicht der bin, den Sie suchen«, rief Carl. »Also suchen Sie gefälligst weiter!«
Petermann war für einen Augenblick sprachlos. Er hob die Augenbrauen, betrachtete erst Carl, dann die anderen im Raum und schüttelte den Kopf. »Ich denke, dass die Beweislage gegen Sie nahezu erdrückend ist, junger Mann.«
»Er kann es nicht gewesen sein«, stieß Katharina hervor. »Hören Sie denn nicht zu, was Carls Vater gesagt hat? Carl und ich waren die ganze Zeit beisammen. Wenn Sie also gedenken, Carl zu verhaften, dann müssten Sie mich auch verhaften.« Katharina konnte nicht ruhig dastehen. Trotz der Enge der Kammer wanderte sie auf und ab. »Und dann fehlt Ihnen noch das Motiv. Wenn ich an der Tat beteiligt war, dann erzählen Sie mir mal, warum ich meinen Vater beklauen sollte. Die Beute war der Lohn der Angestellten. Was hätte ich davon, wenn die Belegschaft keinen Lohn erhält und den Dienst quittiert?«
Sekundenlang herrschte Stille im Raum. »Nichts«, fuhr Katharina dann fort. »Im Gegenteil: Die ganze Arbeit wäre allein nicht zu schaffen.«
Petermann dachte nach, und in Katharina keimte Hoffnung auf, dass sie ihn zum Umdenken bewegt hatte.
»Was weiß ich«, rief der Polizist nach einer gefühlten Ewigkeit. »Es ist spät, wir sollten alle schlafen gehen – den Dieb habe ich ja jetzt überführt.«
»Carl ist kein Dieb«, behauptete Katharina.
»Dann ist er der Hauptverdächtige in diesem rätselhaften Fall«, konterte Petermann. »Für eine Verhaftung reicht es aber allemal.«
Katharina glaubte, sich verhört zu haben. »Verhaftung?«, wiederholte sie. »Was glauben Sie denn …«
»Ich glaube, dass es für heute reicht.« Petermann nickte Carl zu. »Kommen Sie freiwillig mit, oder muss ich Sie unter Zwang aufs Revier bringen?«
Carl erhob sich seufzend. Er warf Katharina einen herzerweichenden Blick zu. »Ich komme freiwillig mit«, sagte er an den Schutzmann gewandt.
»Das darfst du nicht«, schrie Katharina. »Wenn du jetzt mit ihm gehst, dann ist das so, als würdest du die Tat zugeben.«
»Ich bin sicher, es wird sich alles klären«, antwortete Carl resigniert. Er warf seinem Vater einen Blick zu. »Ich war es nicht, Vater.«
»Ich weiß, mein Junge, ich weiß.« Gerhard Thieles Stimme war belegt. Katharina sah ihm an, dass er um seine Fassung bemüht war. Carl trat vor Katharina. Mit ernster Miene blickte er ihr in die Augen. »Wichtig ist, dass du an mich glaubst.«
»Das werde ich, Liebling.« Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Das werde ich.« Fassungslos sah sie zu, wie Carl in eine Jacke schlüpfte. »Bestellen Sie die Kutsche«, sagte er an den Hauptwachtmeister gewandt. »Den Weg ins Dorf möchte ich um diese Zeit und bei dieser Kälte nur ungern noch einmal laufen müssen, wenn Sie mich schon ins Zuchthaus bringen wollen.«
Ein flaues Gefühl breitete sich in Katharinas Magengegend aus, sie spürte kalten Schweiß, der auf ihrer Stirn stand. Sie fühlte sich machtlos und der Willkür des Gesetzeshüters ausgeliefert.
Mit Tränen in den Augen sah sie zu, wie Hauptwachtmeister Petermann ihren geliebten Carl aus dem Zimmer führte. An der Tür angekommen, verabschiedete er sich formvollendet, bevor er mit Carl die Treppe ins Erdgeschoss nahm. Die Haustüre schlug mit einem lauten Knall zu, dann kehrte eine bedrückende Stille ein. Auch der Umstand, dass das Geld wieder aufgetaucht war, machte die Sache nicht besser.
*
Der Bauer hatte ihnen seinen Einspänner zur Verfügung gestellt, um zurück nach Clarholz zu kommen. Dabei handelte es sich um einen modernen, offenen Wagen, der auf zwei gegenüberliegenden Bänken Platz für vier Personen bot. Auf dem Bock saß ein junger Knecht namens Robert, den Carl bis jetzt nur vom Sehen kannte. Er hatte von Zumwinkel den Auftrag bekommen, den Hauptwachtmeister und Carl zur Polizeiwache nach Clarholz zu bringen. Während der Fahrt über die holprige Chaussee herrschte zwischen den Männern eisiges Schweigen. Carl wunderte sich insgeheim, wie nachlässig der strenge Hauptwachtmeister ihn behandelte. Es wäre ein Leichtes für Carl gewesen, während der Fahrt vom Wagen zu springen, um über die umliegenden Felder zu flüchten. Im Schutz der Dunkelheit würde es ihm nicht schwerfallen, unterzutauchen. Er war sicher, dass der Schutzmann ihm körperlich unterlegen war, und ob der junge Knecht mit ihm mithalten konnte, wagte er ebenfalls zu bezweifeln. Der Junge war ein blasser Hering mit spindeldürren Armen. Nein, gegen ihn würde niemand ankommen.
Kurz war Carl versucht, sich der ungerechtfertigten Verhaftung zu entziehen. Doch was würde das bringen? Er würde sich einen Unterschlupf suchen, aus dem er sich in den nächsten Wochen nicht hervortrauen konnte, ohne einem Polizisten in die Arme zu laufen. Und dass Wilhelm Petermann nach ihm suchen lassen würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Außerdem war sein Vater in Herzebrock ein angesehener Handwerksmeister, der einen guten Ruf zu verlieren hatte.
Schließlich überwog die Vernunft. Mit verkniffenem Gesicht fügte Carl sich seinem Schicksal. Langsam kamen die ersten Häuser von Clarholz in Sicht. In den Fenstern der umliegenden Behausungen brannte zu dieser späten Stunde kein Licht mehr. Auch die Straßen waren wie ausgestorben. Carl fröstelte. Als er den Blick zum Nachthimmel richtete, schälte sich gerade die blasse Sichel des Mondes aus den tiefsitzenden Wolken hervor.
»Ich verstehe das alles nicht«, murmelte er leise.
»Wie belieben?« Petermann zog prüfend eine Augenbraue in die Höhe.
»Ich verstehe nicht, dass ich verhaftet werde, weil Sie mich für den Dieb halten.«
»Ich habe die Beute in Ihrem Schrank gefunden, haben Sie das schon vergessen?« Petermann holte tief Luft. »Ein denkbar schlechtes Versteck, wenn mir diese Bemerkung gestattet ist.«
»Ich bin kein Dieb«, beharrte Carl. »Und ich will nicht ins Zuchthaus.«
»Dann präsentieren Sie mir die Person, die Sie für den Dieb halten.«
»Das wird schwer sein, wenn ich erst in der Zelle sitze«, seufzte Carl, der sich so langsam bewusst wurde, was es bedeutete, für Diebstahl eingebuchtet zu werden.
»Ich bin der Vorsteher der Ortspolizeibehörde. Und glauben Sie mir, junger Freund, dass ich durchaus beurteilen kann, wer für eine Straftat infrage kommt und wer nicht.«
Der Einspänner näherte sich der Dorfmitte von Clarholz. Auch hier war weit und breit niemand zu sehen. So war nur das rhythmische Klappern der Hufe und das metallische Rattern der Radreifen zu hören.
»Ich würde mir Gedanken machen, wer dafür verantwortlich ist«, versuchte es Carl erneut, dem langsam flau im Magen wurde. »Wenn Sie mich ließen.«
»Erst einmal kommen Sie in die Zelle.« Petermann schüttelte den Kopf. Als die Wache in Sicht kam, klopfte er Robert auf die Schulter. »Sie können vorn halten«, wies Hauptwachtmeister Petermann den Knecht an.
»Jawoll«, nickte der Knecht militärisch-zackig und lenkte die kleine Kutsche an das Trottoir vor der Wache. Das Pferd, ein prächtiger Kaltblüter, kam schnaufend zum Stehen. Der Knecht zog die Bremse an, dann schwang er sich vom Bock, um Petermann und Carl die kleine Tür auf der rechten Seite des Wagens zu öffnen.
»Erst einmal werden Sie jetzt der rechtskräftigen Strafe für Diebstahl zugeführt«, erklärte Wilhelm Petermann. »Kommen Sie.« Er schob Carl unsanft über den Bürgersteig zum Eingang der Wache. Es fühlte sich seltsam an. Als er vorhin hergekommen war, um die Polizei wegen des Diebstahls zu alarmieren, hatte er nicht im Traum daran gedacht, als ein Verbrecher hierher zurückgebracht zu werden.
Der Hauptwachtmeister bedankte sich bei dem Knecht, der das kleine Fuhrwerk in Bewegung brachte, um sich auf den Rückweg zum Zumwinkel-Hof zu machen. Wie gern wäre Carl wieder zurück zum Hof gefahren. Doch jetzt war er auf sich allein gestellt. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. Für den Polizisten stand fest, dass er der Dieb war. Es interessierte Petermann auch nicht im Geringsten, dass er einen Unschuldigen verhaftet hatte, der wohl schon morgen dem zuständigen Richter vorgeführt wurde. So blieb nur die Hoffnung auf einen milden und einsichtigen Richter. Doch was die heutige Nacht betraf, so hatte Carl die Hoffnung aufgegeben.
»Dann mal hereinspaziert«, riss ihn Petermanns Stimme aus den trüben Überlegungen. Der Hauptwachtmeister hatte die schwere Tür der Wache aufgeschlossen und bat ihn herein. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, geisterte es durch Carls Kopf. Das Gefühl der Ohnmacht zermürbte ihn. Er durfte sich jetzt nicht aufgeben, er musste einen klaren Kopf bewahren. Vielleicht setzte Katharina auf dem Hof die Suche nach dem wahren Täter fort. Nur, wenn es ihr gelang, den Dieb zu überführen, hatte Carl eine Chance, die Wache morgen als freier Mann zu verlassen.
*
Gerhard Thiele konnte es nicht glauben. Er war außer sich. Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung machte er sich auf die Suche nach dem Bauern. Für Thiele stand es außer Frage, dass sein Sohn mit dem Diebstahl nichts zu tun hatte.
Wütend stapfte er durch das Wohnhaus, sah in jedes Zimmer, bis er den Bauern in der Stube antraf. Er hockte in einem Sessel am Fenster und stierte ins Leere. Als Thiele in die Stube platzte, sah er erschrocken auf. »Herr Thiele«, rief er und setzte sich gerade hin.
»Zumwinkel, was soll das?«
Bernhard Zumwinkel wusste, wovon Gerhard Thiele sprach. Er konnte eins und eins zusammenzählen. »Für Sie steht fest, dass Ihr Sohn unschuldig ist.«
»Natürlich. Carl ist kein Dieb. Er bezieht seinen geregelten Lohn in meinem Betrieb und er nagt nicht am Hungertuch. Deshalb gibt es keinen Grund für ihn, das Geld zu klauen.«
»Die Polizei sieht das anders.«
»Ich weiß. Und ich sehe Sie in der Pflicht, die Sache richtigzustellen. Es kann nicht sein, dass mein Junge zum Opfer der Behördenwillkür wird, weil Sie Ihre Leute nicht unter Kontrolle haben.« Thiele hatte sich in bedrohlicher Haltung vor dem Bauern aufgebaut.
Zumwinkel sah zu ihm auf. Offenbar wusste er nicht recht, was er dem Maurermeister sagen konnte. »Ich werde alles tun, um Ihren Sohn aus der Schusslinie zu holen.«
»Tun Sie das.« Thiele wusste nicht, ob er den Worten des Bauern Glauben schenken konnte. Doch ihm blieb nur die Hoffnung, dass sich alles noch zum Guten wendete. »Ich verlasse mich auf Sie.« Ohne eine Antwort abzuwarten, begab er sich zur Tür. Dort angekommen, wandte er sich ein letztes Mal um. »Und wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann lassen Sie es mich wissen.«
»Das mache ich.« Zumwinkel nickte. Ihm war anzusehen, dass ihn die Situation überforderte. Er wirkte müde und schien um Jahre gealtert zu sein. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, seine Bewegungen waren fahrig und wirkten unsicher.