Kapitel 24

Carl hat damit nichts zu tun, und er ist kein Dieb«, beschwor Katharina ihren Vater. Sie hatte ihn gesucht, um mit ihm zu sprechen, und war in der Stube fündig geworden. Hier hockte ihr Vater in einem Sessel am Fenster. Gedankenverloren starrte er nach draußen. Wenn jemand Carl aus dem Zuchthaus holen konnte, dann er. Dafür mussten sie dem engstirnigen Hauptwachtmeister jedoch den wahren Dieb präsentieren. »Du hast ihn jetzt doch auch kennengelernt. Und du müsstest wissen, dass Carl so etwas nicht zuzutrauen ist, Vater.« Tränen sammelten sich in ihren Augen.

»Wem man was zutrauen kann … ach Kind.« Der Vater seufzte schwer, als würde eine große Last auf seinen Schultern liegen. »Man kann den Leuten doch nur vor den Kopf gucken. Was ich aber gesehen habe, ist, dass er in dich verliebt ist.«

Als Katharina ihn ansah, musste er lachen.

»Ich kenne dich, Kind, auch du hast dein Herz an ihn verloren. Und jetzt diese Enttäuschung.« Er senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

Nachdem Carl abgeführt worden war, wollte Katharina nicht allein sein. In der Kammer war ihr die Decke auf den Kopf gefallen. »Eigentlich«, murmelte Bernhard Zumwinkel, »müsste ich zu deiner Mutter ins Bett, sie war ganz aufgelöst und hat sich hingelegt.«

»Wie geht es ihr?«

»Nicht so gut. Die Aufregung der letzten Stunden hat sie sehr mitgenommen.«

»Du solltest gleich nach ihr sehen.«

Ihr Vater nickte. »Hier«, sagte er und hielt ihr ein Glas hin. »Trink das, es wird dich ein wenig beruhigen, Kind.«

»Was ist das?« Katharina nahm ihm das Glas aus der Hand und roch an dessen Inhalt. Darin befand sich eine dunkelrote Flüssigkeit. Der strenge Duft nach Kräutern und Hochprozentigem stieg ihr in die Atemwege.

»Ein selbstgebrannter Kräuterschnaps mit Baldrianwurzel.«

Angewidert rümpfte Katharina die Nase und schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall werde ich das trinken.«

»Schon der alte Kneipp sagte: ›alle Formen von nervösen Zuständen, ob im Krampf oder im Schmerz, verlangen Baldrian‹. Also – weg damit, und du wirst schlafen wie ein Stein.« Er zwinkerte ihr vergnügt zu und schenkte sich ein Glas ein. Er hob es an, um seiner Tochter zuzuprosten. »Jetzt zier dich nicht so, Kind. Es wird dich ein wenig beruhigen nach all der Aufregung.«

Katharina zögerte, kam dann aber zu dem Schluss, dass sie in ihrem aufgewühlten Zustand wohl tatsächlich kein Auge zutun würde. Gleichzeitig setzten sie die Gläser an die Lippen und tranken. Katharina leerte das kleine Glas in einem Zug. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle, sie schüttelte sich und schnappte nach Luft, war sie doch keinen starken Alkohol gewohnt.

»Igitt«, rief sie und stellte das Glas auf den Tisch. Ihr Vater lachte. »Wenn du im Bett liegst, wirst du deinem alten Vater dankbar sein.« Er griff zu Flasche und schenkte sich nach. »Du auch noch?«

»Bloß nicht!« Katharina hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. Nachdem das Brennen in ihrer Kehle ein wenig nachgelassen hatte, kreisten ihre Gedanken wieder um die Geschehnisse des Tages. An Schlaf war nicht zu denken, nicht, solange der wahre Dieb noch auf freiem Fuß war. Plötzlich bereute sie es, den Schnaps angenommen zu haben. Betrunken und müde würde sie keine Verbrecher mehr jagen können.

Nun hockten sie im heimeligen Lichtschein der kleinen Laterne beisammen und dachten angestrengt darüber nach, wie sie weiter vorgehen konnten. »Vater – Carl war es wirklich nicht.«

»Wenn er es nicht war …«, Bernhard Zumwinkel seufzte schwer, »wer soll das Geld denn dann gestohlen haben?« Er stellte das kleine Glas auf die Fensterbank. Die Flasche stand auf dem Boden neben dem Sessel.

»Wer wusste davon, dass du heute nach Clarholz zur Bank gefahren bist, um das Geld abzuholen?«

Unbeholfen zuckte ihr Vater die Schultern. Die Ereignisse hatten ihn mitgenommen, denn er setzte auf die Ehrlichkeit aller auf seinem Hof. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit waren die oberen Gesetze für ihn, das war schon in Katharinas Kindheit so gewesen. Nun waren diese Werte erschüttert worden, er war nicht nur bestohlen, sondern auch enttäuscht worden.

»Einige wussten, dass ich ins Dorf fahren wollte«, brummte er nachdenklich.

Katharina sah ihm an, dass er im Geiste die Namen aller durchging, denen er davon erzählt hatte, eine größere Menge Geld abzuheben. »Allen voran deine Mutter«, bemerkte er schließlich, »aber die kommt als Diebin nicht in Betracht.« Er versank wieder ins Brüten, bevor er fortfuhr. Offenbar war ihm gerade eingefallen, dass er nach ihr sehen wollte. »Robert, der junge Knecht«, zählte er dann weiter auf. »Thomas. Ich habe ihn gebeten, die Kutsche anzuspannen. Und Lina, sie hat, glaube ich, ein Gespräch mit deiner Mutter mitgehört. Vielleicht noch einige andere Bedienstete, ich bin mir nicht sicher.«

»Wer von denen, die du mir genannt hast, weiß von deinem Versteck im Büro?« Katharina schöpfte Hoffnung. Der Kreis derer, die in Frage kamen, würde sich gleich verkleinern. Sie spürte, wie ihre Wangen vor Aufregung glühten, und wanderte ruhelos in der Stube herum. Inzwischen hatte Regen eingesetzt, kein leichter Schauer war es, sondern ein ausgewachsener Landregen. Dicke Tropfen an den Scheiben rannen in Bahnen das Fenster hinunter. Das Fallrohr der Dachrinne gluckste laut, der Wind heulte unheimlich um die dicken Mauern des Hauses. Normalerweise konnte Katharina bei einem solchen gleichmäßigen Prasseln des Regens herrlich schlafen. Doch an Schlaf war gerade nicht zu denken. Katharina wandte ihren Blick vom Fenster ab und drehte sich um. Eingesunken hockte ihr Vater in seinem Sessel und stierte ins Leere. »Von dem Versteck wussten …«, fuhr er fort. »eigentlich nur deine Mutter, du natürlich und ich.« Er rang sich ein müdes Lächeln ab. »Aber ich glaube, das hilft uns nicht weiter.«

»Wohl wahr.« Katharina seufzte und setzte ihre Wanderung durch den Raum fort. Nachdenklich nagte sie auf der Unterlippe. Es war zum Verrücktwerden. »Hat dich jemand beobachtet, als du nach deiner Rückkehr mit dem Umschlag in dein Büro zurückgekehrt bist?«

Er sah sie an und schüttelte nach einigem Überlegen den Kopf. »Nein«, brummte er, »ich versichere mich immer, dass die Bürotür verschlossen ist, wenn ich die Löhne im Schrank deponiere.«

»Gut.« Katharina nickte. Gut ist maßlos übertrieben, fügte sie in Gedanken dazu. »Also niemand. War in der letzten Zeit jemand bei dir, als du Geld aus dem Versteck genommen hast? Hast du einem der Arbeiter Geld ausgezahlt, als er dich darum gebeten hat?«

Bernhard schüttelte erneut den Kopf. »Jochen hat mich neulich um einen Vorschuss gebeten, weil sein Vater in Schwierigkeiten steckt.«

Bei Jochen handelte es sich um den Stallburschen, der nicht besonders schlau war, aber dem Hof seit Jahren treue Dienste leistete. Und fleißig war er noch dazu. Eigentlich würde Katharina ihn ausschließen. Doch nach den heutigen Ereignissen dachte sie anders über das Vertrauen zu der Belegschaft.

»Wenn sein Vater in finanzieller Not steckt, wäre es doch möglich, dass er …«, setzte sie an, brach aber ab, als ihr Vater eine wegwerfende Handbewegung machte. »Ihn kannst du vergessen.«

»Warum?«

»Weil er seit vorgestern in der Stadt ist, um nach seinem Vater zu sehen, der im Krankenhaus liegt und mit dem Tode ringt.«

»Er war also heute nicht auf dem Hof?«

»Nein, warum sollte er?« Bernhard zuckte die Schultern. »Jochen ist ein guter Junge. Er hat mir sein Leid geklagt und mich um den Vorschuss gebeten, den ich ihm natürlich ausgezahlt habe. Und ich habe ihm vier Tage Urlaub gegeben, obwohl wir hier mit dem Dreschen beginnen müssen und auf jede helfende Hand dringend angewiesen sind.«

Katharina nickte stumm. Ihr Vater war ein guter Mensch, er verlangte viel von seinen Angestellten, doch wenn jemand private Probleme hatte, dann tat er alles, um zu helfen. Bernhard Zumwinkel betrachtete die Belegschaft wie seine große Familie. Alle lebten unter einem Dach, und alle waren fast rund um die Uhr zusammen, um zum Erfolg des Hofes beizutragen. Sie fragte sich, ob sich die Einstellung ihres Vaters mit dem heutigen Tage ändern würde.

»Also kommt er nicht in Frage.«

»Nein. Und offen gestanden bin ich froh darüber.«

»Wir drehen uns im Kreis«, stöhnte Katharina. Vor dem gemauerten Kamin, dessen Rückseite in die angrenzende Küche ragte, war sie stehen geblieben. Lange würde es nicht mehr dauern, und die Tage würden kälter werden. Dann prasselte im Kaminofen ein munteres Feuer, das nicht nur wärmte, sondern auch zur Gemütlichkeit in der Stube beitrug. Doch noch war es nicht so weit. Jetzt war ihr kalt, und sie fragte sich, ob das an den Temperaturen lag oder an dem Umstand, dass Carl in der Zelle der Polizeiwache von Clarholz saß. Sie vermisste ihn. Seine Nähe, seine Zärtlichkeiten, die verliebten Blicke, den angenehmen Klang seiner Stimme, das unternehmungslustige Funkeln seiner Augen. Es war, als hätte man ihr ein Stück ihres Herzens aus der Brust gerissen. Sie fühlte sich elend.

»Lass uns zu Bett gehen«, hörte sie ihren Vater hinter sich sprechen. Er war aufgestanden und lächelte sie müde an. »Morgen wird ein harter Tag, und heute finden wir keine Lösung mehr.«

»Ich werde kein Auge zutun können«, fürchtete Katharina.

»Das wirst du, Kind.« Bernhard nickte ihr zu. »Der Tag war ereignisreich, und wir haben uns ein wenig Ruhe verdient. Außerdem wirst du schon gleich die Wirkung der Baldrian-Wurzel spüren und schlafen wie ein Stein.«

»Vielleicht hast du recht.« Katharina konnte nichts daran ändern, dass es ihren Vater ins Bett zog. Dort wartete Mutter vermutlich schon längst auf ihn. »Dann gehen wir morgen in neuer Frische auf Verbrecherjagd.«

»Ja«, stimmte Bernhard ihr zu. »Das klingt vernünftig. Morgen ist ein neuer Tag, und wir sehen die Dinge vielleicht etwas klarer.« Bevor Katharina ihm antworten konnte, wünschte Vater ihr eine gute Nacht und schlurfte aus dem Raum.

*

Durch das winzige vergitterte Fenster seiner Gefängniszelle drang kaum Mondlicht, zumal sich die Wolken wieder zugezogen hatten und er den Mond nur erahnen konnte. Carl lag mit dem Rücken auf der harten Pritsche und stierte im Halbdunkel zur gewölbeartigen Decke hinauf.

Sein enges Gefängnis roch muffig, die feuchte Kälte der Wände kroch langsam an seinem Körper hoch und ließ ihn zu der kratzigen grauen Decke greifen, die am Fußende der Schlafstatt bereitlag. Nachdem er sich wieder hingelegt hatte, verschränkte Carl die Hände hinter dem Kopf. Unzählige Dinge gingen ihm durch den Kopf. Das Gefühl, als der Vorsteher der Polizeiwache die vergitterte Eisentür hinter ihm geschlossen und abgesperrt hatte, war unbeschreiblich gewesen. Carl fühlte sich wie in einer Mausefalle. Hier drinnen war es düster, eng und kalt. Sicherlich würde er sich eine Lungenentzündung holen.

»Sie können noch immer ein Geständnis ablegen«, hatte Petermann ihm durch das Gitter der massiven Tür zugerufen, bevor er das Licht gelöscht hatte. Carl ließ sich nicht einschüchtern, denn er wusste, dass er zu Unrecht in der Zelle saß. »Einen Teufel werde ich«, hatte er entgegnet. »Sie bekommen von mir eine Beleidigungsklage, wenn Sie den richtigen Dieb gestellt haben.« Ohne eine Antwort wurde auch die schwere Eisentür des Gefängnistraktes zugeworfen. Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben und gedreht, anschließend ertönte das Quietschen eines großen Riegels, den Petermann von außen vorlegte.

Unwillkürlich fragte sich Carl, was wohl geschah, wenn es im Gefängnis brannte. Wenn ein Feuer ausbrach, würde sicher jede Hilfe für ihn zu spät kommen. So schnell wie möglich verdrängte er den Gedanken und besann sich auf den Grund seines Aufenthaltes in der Zelle. Petermann würde sich keine Mühe geben, den wahren Dieb zu schnappen. Er hatte seine Arbeit gemacht und den Fall gelöst. Ob er damit einen unschuldigen Menschen hinter Gitter brachte, schien ihn nicht sonderlich zu interessieren. Carls Gedanken kreisten um Katharina. Was sie wohl gerade tat, fragte er sich. Schläft sie wohl schon? Allein die Vorstellung, dass er in dieser schweren Zeit nicht bei ihr sein konnte, brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Als er die Augen schloss, war sie ihm ganz nah. Er bildete sich ein, ihr Gesicht zu sehen, ihr verliebtes Lächeln, einen aufmunternden Blick. Hab keine Angst, hörte er sie in seiner Vorstellung sagen, egal was auch passiert, ich halte zu dir, ich glaube und vertraue dir. Und ich hole dich da raus. Eine wunderschöne Vorstellung, und Carl hoffte inständig, dass Katharina ihm auch in der Realität noch vertraute. Das Gefühl der Ohnmacht zermürbte ihn. Schnell dachte er wieder an seine geliebte Katharina. Im Traum war sie ihm so nahe, als wäre sie tatsächlich bei ihm gewesen. Irgendwann war Carl eingeschlafen.

*

Auch Thomas fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Mit weit geöffneten Augen lag er in seiner bescheidenen Kammer im hinteren Bereich des Stalls. Sein armseliges Lager war nicht zu vergleichen mit den Gästezimmern, die man der Maurerkolonne zur Verfügung gestellt hatte. Sein Bett war einfach und aus Stroh, die Wände nicht tapeziert, und Licht gab es auch nicht wegen der Brandgefahr im Stall. Man hatte ihn wie einen Bettler einquartiert. Dabei schuftete er von früh bis spät, er übernahm Verantwortung für den Hof, hatte einen guten Draht zum Bauern und seiner Frau. Er hatte etwas Besseres verdient.

Es ist es gut, so dachte er, dass dieser Maurerbengel jetzt im Kittchen sitzt. Ein Grinsen legte sich um seine Mundwinkel. Dann besinnt Katharina sich auf das, was sie hat, und das, was sie im Leben weiterbringt: Einen Mann, der ihren Hof führt. Er atmete ein paar Mal tief durch. Die Vorstellung, dass er jetzt endlich ihr Interesse wecken konnte, war verführerisch. Ja, dachte er, es ist gut, dass dieser Carl mir nicht mehr ins Handwerk pfuscht. Katharina war felsenfest überzeugt davon, dass Carl mit dem Diebstahl nichts zu tun hatte. Nun, vielleicht sollte ich ihr meine Hilfe anbieten, um den Dieb zu jagen. Wenn Carl es nicht ist, dann wird ein anderer hinter dem Diebstahl stecken. Und ich werde ihr dabei helfen, den anderen zu überführen. Eine schöne Vorstellung. So konnte er vielleicht endlich einen Platz in Katharinas Herzen gewinnen. Er würde für all seine Bemühungen den verdienten Lohn erhalten.