Kapitel 26

Sie sind frei.« Hauptwachtmeister Wilhelm Petermann war mit regungsloser Miene in der Zelle aufgetaucht, um Carl die frohe Botschaft zu überbringen. Nach einer viel zu kurzen Nacht war Carl geschwächt. Er hatte kaum ein Auge zugetan und war erst irgendwann kurz vor dem Morgengrauen in einen unruhigen, traumlosen Schlaf gefallen. Entsprechend überrascht war er, als er durch das Klappern der Eisentüren im Zellentrakt der Polizeiwache geweckt wurde. In der Nacht hatte es zu regnen begonnen. Auch jetzt noch drang das Trommeln der dicken Tropfen an seine Ohren. Als er einen flüchtigen Blick aus dem vergitterten Fenster riskierte, fröstelte er auf der Stelle.

»Wie bitte?«, fragte er gähnend und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Sagen Sie das noch mal.«

»Sie können gehen.« Petermann rang sich ein Lächeln ab.

Langsam verstand Carl, was er da sagte. Schlagartig war er hellwach. Er reckte sich und sprang von der unbequemen Pritsche, auf der er die Nacht verbracht hatte. »Wie komme ich zu dieser Ehre?«

»Bedanken Sie sich bei ihren Leuten.« Der Hauptwachtmeister trat einen Schritt zur Seite und machte die Sicht frei. Hinter ihm standen Katharina und ihr Vater, der alte Zumwinkel höchstpersönlich. Der Bauer grinste jovial, für Katharina gab es kein Halten mehr.

»Carl!«, rief sie überglücklich und sprang förmlich in seine Arme. Freudentränen glänzten in ihren Augen. Er drückte sie fest an sich. »Katharina, Liebes, was ist passiert?«

»Es war so schlimm, dich hier in der Zelle zu wissen heute Nacht – und die Vorstellung, dass du heute dem Richter vorgeführt wirst, war unerträglich.« Sie schluchzte, dann lächelte sie glücklich. »Aber nun wird alles wieder gut.«

Bernhard Zumwinkel räusperte sich vernehmlich. »Du hast seine Frage nicht beantwortet«, stellte er mit einem Blick auf seine Tochter fest.

»Das erzähle ich dir alles später«, strahlte Katharina. »Jetzt komm erst einmal raus aus dieser Zelle.« Sie rümpfte die Nase.

Carl musste sich kneifen, um sicherzugehen, dass er nicht träumte, dann setzte er sich auf die Pritsche, schlüpfte in seine Stiefel und erhob sich wieder. Die Tatsache, dass er die Wache jetzt als ein freier Mann verlassen durfte, hatte er immer noch nicht recht realisiert. Wilhelm Petermann führte das Trio zum Ausgang.

»Sie wissen, was zu tun ist«, erinnerte Katharina ihn mit einem finsteren Blick.

»Selbstredend«, nickte Petermann und salutierte. »Ich werde keine Zeit verschwenden, um den flüchtigen Dieb zu jagen.«

»Das will ich hoffen«, sagte sie.

Bernhard Zumwinkel nickte dem Wachtmeister mit grimmiger Miene zu. »Ich hoffe, dass Sie künftig nicht den erstbesten Verdächtigen verhaften, um einen Fall so schnell wie möglich abschließen zu können.«

Der Vorsteher machte ein betroffenes Gesicht. Offenbar fühlte er sich schuldig. Carl, der die Zusammenhänge noch immer nicht verstand, hoffte auf Erklärungen, sobald sie hier raus waren.

Als sie ins Freie traten, hatte der Regen nachgelassen. Gerade kämpfte sich die Sonne durch die Wolken. Dunstschwaden waberten über dem Pflaster und kündigten einen sonnigen Tag an. Carl stand einfach da und atmete tief durch. Die Luft war klar nach der regnerischen Nacht.

»Nichts wie weg«, rief Katharina überglücklich. Sie ergriff Carls Hand.

»Ja.« Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie. Dabei war es ihm gleichgültig, ob Katharinas Vater zusah. »Nichts wie weg von hier.« Die Kutsche des Bauern stand ein wenig abseits. Robert wartete geduldig. Als die drei die Kutsche erreichten, nickte er ihnen zu, sprang vom Bock und hielt ihnen die Tür auf.

Carl half Katharina in die Kutsche, danach kletterte Bernhard Zumwinkel ins Innere, um auf der gegenüberliegenden Bank Platz zu nehmen. Als Letzter stieg Carl ein. Er musste nicht lange überlegen und setzte sich zu Katharina. Wie selbstverständlich ergriff sie seine Hand.

»Bring uns nach Hause«, rief Bernhard dem Knecht zu.

»Jawohl.« Robert brachte die Fuhre in Fahrt. Das Gespann rumpelte über das Pflaster der Straßen von Clarholz. Carl konnte das Gefühl der Freiheit gar nicht in Worte fassen. Er legte den Kopf in den Nacken, blinzelte genießerisch in die Morgensonne und genoss die Wärme von Katharinas Hand in seiner. »So«, sagte er mit Blick auf Katharina. »Und jetzt möchte ich wissen, warum ich gehen durfte.«

»Weil wir den wahren Täter überführt haben«, antwortete der Bauer mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck.

»Wer war es denn nun?«

»Thomas«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Katharina. »Er hat das Geld an sich genommen und in deiner Kammer versteckt, um dir eins auszuwischen.«

Carl war fassungslos. Ihm war klar gewesen, dass er dem Knecht ein Dorn im Auge war. Doch dass er zu solchen Maßnahmen griff, machte ihn wütend. Um ein Haar wäre er für eine ganze Zeitlang hinter Gittern gelandet. Und Thomas hätte freie Fahrt gehabt, um Katharina von sich zu überzeugen. Carl ballte die Hände zu Fäusten. »Wo ist er jetzt?«

»Wenn wir das nur wüssten«, seufzte Bernhard Zumwinkel. »Er hat den Hof fluchtartig verlassen. Ich habe mit Petermann gesprochen und ihm klargemacht, dass er dafür Sorge zu tragen hat, dass der Knecht seiner Strafe zugeführt wird. Ansonsten kann ich für nichts garantieren, wenn er mir zwischen die Finger kommt.«

Sie ließen Clarholz hinter sich zurück, die Bebauung machte weiten Feldern Platz. Dann hatten sie die Chaussee erreicht, die nach Beelen führte.

»Wie dem auch sei«, sagte Katharina, »Hauptsache, du bist wieder auf freiem Fuß.«

»Ja, wobei ich auch nicht weiß, was passiert, wenn er mir begegnet.« Carl sog die Luft durch die Nase ein.

»Darüber wird sich Thomas im Klaren sein.«

*

Der Junge hatte es wirklich übertrieben. Bernhard hatte sich vieles anders ausgemalt. In Thomas hatte er bereits seinen Schwiegersohn gesehen, den Mann, der seine einzige Tochter schon bald heiraten würde. Dass er aus blinder Wut und Verzweiflung die Bauteile für eine Thiele-Zentrifuge zerstört hatte, war schlimm. Dass er aber dafür gesorgt hatte, dass Carl verhaftet wurde, schlug dem Fass den Boden aus.

Thomas hatte mit harten Bandagen gekämpft, und jetzt war er wie vom Erdboden verschluckt.

Rauchend saß Bernhard Zumwinkel auf seiner Bank und beobachtete das muntere Treiben auf dem Hof. Es war wieder Normalität eingekehrt, jeder ging seiner Arbeit nach, die Handwerker verrichteten ihre Aufgaben, und der Hufschmied versorgte die Pferde. Das metallische Klimpern des Hammers, der auf den Amboss schlug, schallte über den Hof. Nun würde Katharina ihm wohl bald Carl als ihren Auserwählten vorstellen.

Carl war ein patenter junger Mann, das musste Bernhard ihm lassen. Aber er würde mit größter Sicherheit nicht in der Lage sein, den Hof zu führen. Schweren Herzens beschloss der Bauer, die Dinge laufen zu lassen. Ändern konnte er sie sowieso nicht. Vielleicht war alles gut, so wie es gekommen war. Und für ihn zählte am Ende des Tages, dass seine Tochter glücklich war und sie den Mann heiraten konnte, den sie über alles liebte. Zumwinkel ahnte, dass es sich dabei um Carl Thiele handelte. Er war nicht blind, hatte die beiden immer wieder beobachtet, und nun baute Carl sogar eine Zentrifuge für den Hof. Vielleicht war es gut, wie es lief. Der Bauer benötigte einfach noch ein wenig Zeit, um sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass Katharina einen Maurer heiraten wollte. Immerhin hatte er ihn noch nicht um die Hand seiner Tochter gebeten.