Kapitel 28

Die Nacht hatte sich über den Zumwinkel-Hof gesenkt, und die Männer und Frauen saßen in der großen Stube beisammen, um die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren zu lassen. Das rätselhafte Verschwinden von Thomas war Thema des Tages. Es gab Arbeiter, die sich darüber freuten, nicht länger von dem Großknecht herumkommandiert zu werden, andere fragten sich, wie es jetzt wohl weiterging.

Katharina hatte an diesem Abend keine Lust auf Gesellschaft. Von der Arbeit müde, hatte sie sich recht früh in ihre Kammer zurückgezogen. Nachdem sie sich ausgekleidet hatte, bürstete sie ihr Haar, während sie sich nachdenklich im Spiegel über dem Waschkabinett betrachtete. Sie fragte sich, warum Carl sie so anziehend fand, sah sie doch eine ganz normale junge Frau mit langem dunkelblondem Haar, graublauen Augen und einer etwas zu dicken Nase. Er hatte ihr heute gestanden, ihren Mund zu lieben. »Deine Lippen fühlen sich so göttlich an«, hatte er gesagt, und sie war prompt vor Scham errötet. So etwas hatte ihr noch nie zuvor ein Mann gesagt. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, sobald sie an Carl dachte. Unwillkürlich fragte sie sich, ob er gerade damit beschäftigt war, die Zentrifuge zu bauen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie er eifrig werkelte, um die Erfindung bald schon ihrem Vater vorstellen zu können.

Schnell versuchte sie, die Gedanken an den hübschen Maurer zu verdrängen, wusste sie doch, dass ihr Vater nicht einverstanden sein würde, wenn er um ihre Hand anhielt. Doch noch war es nicht so weit. Noch war es eine Schwärmerei, die sie miteinander verband. Und dennoch konnte sich Katharina schon jetzt gut vorstellen, an Carls Seite alt zu werden. Es fühlte sich eigenartig an, und für gemeinsame Zukunftspläne war es auch noch viel zu früh. Dennoch verfolgte sie dieser Gedanke in letzter Zeit immer öfter. Wie würde es sein, wenn sie eines Tages heirateten? Sicher würde Carl seinen Vater nicht im Stich lassen. Gerhard Thiele war fest davon überzeugt, dass sein Sohn eines Tages den Maurerbetrieb übernehmen würde. Und Carl schien kein ernsthaftes Interesse an der Landwirtschaft zu haben. Zwar interessierte er sich für die Abläufe und dachte über Verbesserungen nach, die allen Beteiligten die Arbeit erleichtern würden. Doch war er kein Bauer, und er würde wohl auch nie ein Bauer sein.

Nachdem sie sich das Gesicht und die Hände gewaschen hatte, machte sie, dass sie in die Federn kam. Das einfache Kastenbett knarrte ohrenbetäubend, und Katharina verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Schnell zupfte sie das Kopfkissen zurecht und stopfte es sich in den Rücken, dann griff sie zu dem Buch auf dem Nachtschrank. Sie drehte die Lampe so, dass der Lichtschein auf die Seiten fiel, und versuchte, sich mit Lesen abzulenken. Doch schon nach ein paar Minuten gab sie es auf. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um Carl. Sicher lag er jetzt auch schon in seiner Kammer, die er mit seinem Vater teilte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er den Feierabend mit dem Gesinde in der Stube verbrachte. Katharina stellte sich vor, wie er in seinem Bett lag. Ob er schon schlief? Und wenn er nicht schlafen konnte, dachte er dann auch gerade in diesem Moment an sie?

Allein der Gedanke daran zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Schon jetzt freute sich Katharina darauf, Carl morgen beim Frühstück zu sehen. Sie überlegte fieberhaft, ob es tagsüber eine Gelegenheit gab, sich mit ihm zu treffen. Und wenn es auch nur ein kurzer Moment der Zweisamkeit war, so sehnte sie sich schon jetzt danach. Mit einem wohligen Seufzen auf den Lippen schlug sie das Buch zu und löschte das Licht. Der Duft des Petroleums hing einen Moment lang in der Kammer und verflüchtigte sich schließlich. Katharina lag auf dem Rücken und starrte mit vor der Brust verschränkten Armen zur Decke hinauf. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn er jetzt bei ihr sein könnte. Wenn sie in seine wundervollen Augen blicken und dem Klang seiner Stimme lauschen könnte. Es dauerte nicht lange, bis sie in einen tiefen, wohltuenden Schlaf fiel.

*

Carl war nicht müde. Auch ihm lag es fern, zu später Stunde in der Stube mit dem Gesinde den Feierabend zu verbringen. Er war froh, dass er heute wieder in der Kammer des Zumwinkel-Hofes sein durfte. So freute er sich schon auf sein Bett, das um einiges gemütlicher war als die harte Pritsche in der Zelle, auf der er die letzte Nacht hatte verbringen müssen. Doch noch war es nicht so weit. Von unten drangen Stimmengewirr und Gelächter gedämpft an seine Ohren. Das Gespräch mit Katharina im Stall war ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Der Alltag auf dem Land bedeutete unglaublich schwere Handarbeit. Es war an der Zeit, moderne Technik in die Landwirtschaft zu bringen.

Während sein Vater bereits müde vom Tagwerk im Bett lag und leise schnarchte, tüftelte Carl an seiner Erfindung. Der Rücken schmerzte ihm vom langen Sitzen auf dem unbequemen Stuhl, die Augen brannten, als er den Stift zur Seite legte, um seine Erfindung zu betrachten. Die Zeichnung zeigte seine erste Milchzentrifuge und war weitaus ausgereifter als der erste Entwurf.

Das zentrale Instrument der Maschine war eine hölzerne Trommel, gelagert auf einer Eisenwelle, die am unteren Ende mit einem Holzrahmen verbunden war. Oben konnte die Milch eingefüllt werden. Die Welle, an der sich im Fass hölzerne Paddel befanden, ragte oben aus dem schwenkbaren Deckel, darüber gab es eine Vorrichtung, in die man eine Handkurbel stecken konnte. Über einen eisernen Schneckenantrieb konnten mithilfe der Kurbel schnelle Drehungen vollführt werden, die für die Fliehkraft im Inneren sorgte und so den Rahm von der Magermilch trennte. Die Magermilch sammelte sich am Boden der Trommel und konnte über einen Sperrhahn ablaufen. Dafür hatte Carl extra eine Halterung konstruiert, in die man einen Eimer oder eine Schüssel stellen konnte. Rechts und links von der Trommel gab es ebenfalls Ablasshähne, auch hier wieder mit Aufnahmen für Eimer oder Schüsseln, in die man den Rahm geben konnte.

In seiner Skizze ruhte das Fass auf Holzböcken. Rechts neben dem ausrangierten Fass befanden sich ein Getriebe mit verschieden großen Zahnrädern und zwei Riemenscheiben, deren Aufgabe es war, die Trommel anzutreiben und zum Drehen zu bringen. Hier würde irgendwann ein Elektromotor sitzen, der für die Drehungen sorgte. Den Deckel des Fasses hatte Carl durch eine ebenfalls hölzerne Klappe ersetzt, die nun durch einen eisernen Sperrriegel verschlossen werden konnte.

Die Erfindung war nahezu perfekt – jedenfalls auf dem Papier. Jetzt fehlte es nur noch an dem nötigen Antrieb für die Zentrifuge. Ein Seufzen kam über Carls Lippen. Er überlegte, ob man die Maschine mittels eines Fußpedals antreiben konnte, so, wie es bei Nähmaschinen üblich war. Doch er wagte zu bezweifeln, dass man ein derart großes Fass voller Milch mit den Füßen zum Drehen bringen konnte. Carl dachte noch ein paar Minuten nach, dann spürte er, wie sich Müdigkeit in ihm breitmachte. Er beschloss, sich morgen über den Antrieb seiner Erfindung Gedanken zu machen, löschte das Licht und kroch ins Bett. Die Bettwäsche duftete wunderbar nach Lavendel. Carl fragte sich, ob wohl Lina und Katharina die auf dem Hof anfallende Wäsche erledigten. Er konnte sich gut vorstellen, dass es viel zu tun gab – die Wäsche musste genäht, Löcher gestopft und bergeweise Kleidung gewaschen werden.

*

Irgendwann in der Nacht erwachte er mit klopfendem Herzen. Carl schlug die Augen auf und überlegte, warum er nicht mehr schlafen konnte. Seine Gedanken kreisten um die Zentrifuge, die ihn offenbar in die Träume begleitet hatten. Er wandte den Kopf zur Seite und sah seinen Vater, der tief schlief.

Carl gab dem Verlangen nach, an der Zentrifuge zu arbeiten. Seine innere Unruhe war zu groß, um sich umzudrehen und wieder einschlafen zu können. So leise wie möglich erhob er sich und schlüpfte im fahlen Licht des Mondes, das durch den Spalt in der Gardine in die Kammer fiel, in seine Kleidung. Dabei versuchte er keinen Lärm zu machen. Wenige Minuten später stand Carl vor dem Wohnhaus. Kurz zögerte er. Sollte er mitten in der Nacht zum Stall gehen, um an der Zentrifuge zu arbeiten? Die Unruhe trieb ihn voran. Still lag der Hof vor ihm. Aus den Stallungen war nur ab und an ein verschlafenes Schnaufen zu hören. Im silbrigen Licht stand die blasse Scheibe des Mondes am Nachthimmel. Die Gebäude des Hofes wirkten wie geisterhafte Kulissen, die erst wieder im Morgengrauen zum Leben erwachten.

Auch als er sich zum Wohnhaus umwandte, brannte in keinem der Fenster mehr Licht. Obwohl er nichts Unrechtes tat, fühlte sich Carl wie ein Dieb, so, wie er um diese nachtschlafende Zeit hier herumschlich. Während er den Hof überquerte, nutzte er die Schatten der umliegenden Gebäude, um möglichst unbemerkt zum Stall zu gelangen. Das Knarren des schweren Holztores klang überlaut in seinen Ohren und er hoffte, dass von dem Lärm niemand aufwachte. Im Stall angekommen, nahm er eine der Laternen vom Haken. Wenig später stand er vor dem, was schon bald die Milchwirtschaft revolutionieren sollte.

Vorhin hatte er die Bauteile mit einer Decke verhüllt. Nachdem er die Laterne an einem hochhängenden Haken befestigt hatte, zog er die Decke fort. Mit verzückter Miene betrachtete er sein Kunstwerk, das noch in Einzelteilen vor ihm lag. Carl nahm eine kleine Ölkanne und machte sich daran, die mechanischen Teile abzuschmieren. Wenig später war er derart in seine Arbeit vertieft, dass er die Welt um sich herum vergessen hatte.

Umso mehr erschrak er, als sich hinter ihm Schritte näherten. Zitternd fuhr er herum und fürchtete schon, dass Thomas aufgetaucht war. Erleichtert stellte er fest, dass es sich bei seinem Gegenüber um eine zierliche Person handelte. »Du?«, fragte er erstaunt und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme vibrierte.

»Das Gleiche könnte ich dich fragen«, antwortete Katharina. Sie trug einen Mantel, darunter nur ihr Nachthemd, und Stiefel. »Was treibst du hier mitten in der Nacht?«

»Ich konnte nicht schlafen«, räumte er zerknirscht ein.

»Und ich dachte, es wären wieder Einbrecher am Werk«, antwortete Katharina, dann musste sie lachen. »Aber das Gefühl, nachts aufzuwachen und zu glauben, Einbrecher schleichen auf dem Hof herum, kennst du ja bereits.«

»Allerdings.« Er stimmte in ihr leises Lachen ein, dann wurde er ernst. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Schon gut«, sagte Katharina schnell. »Ich freue mich ja, dass du es bist, der nicht schlafen konnte.« Sie betrachtete die Zentrifuge voller Interesse. »Was machst du?«

»Ich öle gerade die Verschlussgelenke.«

»Magst du mir erzählen, wie die Zentrifuge funktioniert?«

»Aber gern.« Er stellte das Ölkännchen ab und trat auf sie zu, hauchte ihr mit einem glücklichen Lächeln einen Kuss auf die Lippen und beantwortete Katharinas Fragen.

»Gut«, sagte sie schließlich und betrachtete die Einzelteile. »Wo fangen wir an?«

*

Eine knappe Stunde später fiel sie todmüde, aber überglücklich in ihr Bett. Katharina hatte Carls Gesellschaft auch in der völlig unromantischen Umgebung, zwischen Werkzeugen und Ölgeruch, genossen, hatte wie gebannt an seinen Lippen gehangen, als er ihr die Maschine erklärt hatte, und dabei kaum ein Wort wirklich wahrgenommen. Inzwischen war Katharina sicher: Sie war in Carl verliebt und konnte sich schon jetzt ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen. Sie war fasziniert von seinem Ehrgeiz. Gemeinsam hatten sie ihre Ideen besprochen, Katharina hatte ihm vom Buttern berichtet und dann hatten sie die Idee einer ganzen Molkerei entwickelt, die den Bauern schon bald das Leben erleichtern sollte. Sie würden die Milchwirtschaft revolutionieren, doch noch schien Carl nicht gänzlich überzeugt vom Erfolg ihrer Erfindung, denn er zögerte, wusste nicht, ob er das nötige kaufmännische Geschick mitbrachte, um eine Fabrik führen zu können. Aber es war noch nicht so weit, zunächst musste es ihnen gelingen, die Maschine so weiterzuentwickeln, dass sie zuverlässig funktionierte und schließlich reif war, um in Serie produziert zu werden. Katharina sah das Potenzial, das sich hinter Carls Erfindung verbarg und war sicher, dass er das Zeug zu etwas Großem mitbrachte.

Sie hatte sich vorgenommen, ihn nach allen Kräften zu unterstützen, denn sie glaubte fest an Carl und an seinen Erfolg. Mit Grauen dachte Katharina daran, dass sie gleich bereits wieder aufstehen musste, um ihrer Mutter beim Zubereiten des Frühstücks zu helfen.

Katharina zog die Decke bis zum Kinn und stierte aufgeregt mit großen Augen zur Zimmerdecke, die sich als graues Rechteck über ihrem Bett abzeichnete. Ihr Herz schlug schneller, als sie an Carl und die gemeinsame Zukunft dachte, die ihnen bevorstand. Der angenehme Gedanke, an seiner Seite alt zu werden, beruhigte sie. Irgendwann wurde sie vom Schlaf übermannt und fühlte sich wie gerädert, als zwei Stunden später der Hahn krähte und sie aufstehen musste, um sich an die Arbeit zu machen.