Der Abend war hereingebrochen, langsam senkte sich die Dunkelheit über den Zumwinkel-Hof und es kehrte eine friedliche Stille ein, die nur unterbrochen wurde von den leisen Tiergeräuschen aus den Stallungen. Erste Sterne zeigten sich am tiefblauen Himmel und funkelten wie Diamanten.
Bernhard hatte sich zurückgezogen, um nachzudenken. So war er mit seiner geliebten Meerschaumpfeife zur Bank beim Brunnen geschlurft. Das Plätschern des Wassers half ihm dabei, seine Gedanken zu ordnen.
Nach dem wenig erfreulichen Gespräch mit seiner Tochter musste Bernhard Zumwinkel sich eingestehen, dass er sein einziges Kind loslassen musste, wenn er es nicht ganz verlieren wollte. Katharina hatte sich für ein Leben an der Seite von Carl Thiele entschieden, einem Mann, der mit Landwirtschaft nicht viel zu tun hatte, einem Visionär, wie sie ihn nannte, der immer nach dem Neuen und Moderneren strebte.
Wenn er Katharina Vertrauen schenken konnte, dann war sein künftiger Schwiegersohn ein Tüftler, ein Nichtsnutz, der immer wieder mit neuen Ideen kam, um die Welt zu verbessern. Er hatte Katharina einen Floh ins Ohr gesetzt, hatte mit ihr an einer Maschine getüftelt, mit der sich angeblich die Milchwirtschaft revolutionieren ließ. Alles Dinge, von denen der Junge keine Ahnung hatte. Bei diesen Gedanken stahl sich ein missbilligendes Schnaufen über Bernhards Lippen.
Als Landwirt war sich Bernhard durchaus darüber im Klaren, dass die Technik rasant voranschritt und dass Maschinen immer mehr Arbeiten auf den Bauernhöfen übernehmen würden. Und das war gut so, man musste mit der Zeit gehen, um auch in Zukunft überleben zu können. Doch Bernhard wusste nicht, ob er der neuen Technik trauen konnte. Die Welt war im Umbruch, in den Fabriken, in der Stadt und seit einiger Zeit auch auf den Bauernhöfen. Ob das eine Entwicklung war, die er begrüßen sollte?
Momentan sah die Zukunft des Zumwinkel-Hofes düster aus, denn so, wie es den Anschein hatte, zeigte Katharina kein großes Interesse daran, den Hof eines Tages zu übernehmen. Sie hatte sich nun endgültig gegen eine Zweckhochzeit mit Thomas, dem fleißigen Knecht, ausgesprochen. Und hatte sie sich nicht auch gegen ihn ausgesprochen? Ihren Vater?
»Was beschäftigt dich, Bernhard?«
Erschrocken fuhr der Bauer hoch und wandte sich um. Er hatte nicht gehört, dass Theresa sich zu ihm gesellt hatte. Lächelnd stand sie hinter der Bank und legte eine Hand auf seine Schulter.
Bernhard Zumwinkel sog an seiner Meerschaumpfeife und paffte den Rauch in die Luft. »Ach, meine gute Frau«, seufzte er, »was soll ich dir sagen? Unser Kind hat sich in einen Maurer verliebt.«
Theresa umrundete die Bank und setzte sich zu ihrem Mann. Sie lachte. »Das hast du erst jetzt bemerkt?« Amüsiert legte sie eine Hand auf sein Knie.
»Ja«, brummte er und stierte ins Leere. »Vielleicht bin ich ein ignoranter Trottel und habe es schlichtweg übersehen.« Bernhard atmete tief durch.
Theresa nahm seine Hand und drückte sie. »Katharina ist sehr glücklich mit ihrem Carl.«
Bernhard hielt ihrem forschenden Blick stand. »Ich hätte es lieber gesehen, wenn sie jemanden aus der Landwirtschaft zum Mann nimmt.«
»Sie kann Thomas nicht ausstehen. Er ist ein Verbrecher und wir wissen nicht einmal, ob er zurückkommt. Und wenn er sich wirklich noch einmal hierher wagt, jage ich ihn fort.«
»Hör mir auf mit Thomas.« Bernhard wandte den Kopf zur Seite und betrachtete seine Frau. Sie war, obwohl von der Krankheit gezeichnet, immer noch schön. Zwar durchzogen erste graue Strähnen ihr einst dunkelblondes Haar, doch das Leuchten in ihren Augen war geblieben und erinnerte ihn an bessere Zeiten. Er liebte Theresa über alles, und er konnte sich nicht vorstellen, sie zu verlieren. Dann, so dachte er, würde sein Leben keinen Sinn mehr haben. Sie hatten sich auf dem Scheunenfest eines benachbarten Bauern kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, Theresas wundervolle und lebensfrohe Art hatten ihn fasziniert, ihre Erscheinung hatte ihn vom ersten Moment an in den Bann genommen. Mehr als zwanzig Jahre waren seitdem vergangen, sie hatten gemeinsam gute und schlechte Zeiten erlebt und sich zusammen allen Herausforderungen gestellt. Bernhard bezweifelte, dass er das alles mit einer anderen Frau hätte meistern können. Mit einer Frau, die ihm seine Eltern ans Herz gelegt hätten. Nein, er hatte Theresa aus Überzeugung geheiratet, als ein krönendes Bekenntnis ihrer Liebe. Und seine Eltern hatten nichts gegen die Heirat einzuwenden gehabt. Offenherzig hatten sie die neue Schwiegertochter auf dem Zumwinkel-Hof aufgenommen, hatten Theresa vom ersten Augenblick an geliebt wie ihr leibliches Kind. Das war lange her, erst war Vater von ihnen gegangen, bevor auch Mutter starb, ein knappes halbes Jahr später. Seine Eltern waren wundervolle Menschen gewesen, die ihm alles ermöglicht hatten. So war es auch Bernhards alleinige Entscheidung gewesen, den Hof seiner Eltern, inzwischen in dritter Generation, fortzuführen. Für Bernhard hingegen hatte es völlig außer Frage gestanden, dass er den Zumwinkel-Hof übernahm. Der Hof war sein Leben, und er hatte auch in früheren Jahren nie darüber nachgedacht, sich einen anderen Beruf zu suchen.
»Nun guck doch nicht so traurig«, sagte Theresa. Sie schien seine trüben Gedanken erraten zu können. »Das Leben geht weiter, Bauer Zumwinkel. Und wir sollten zusehen, dass unser einziges Kind glücklich wird.«
»Mit einem … Spinner?« Er sog an der Pfeife, die Augen brannten ihm vom Rauch.
»Carl Thiele ist kein Spinner«, berichtigte Theresa ihn energisch. »Er hat viele gute Ideen, aus denen man Geld machen kann. Katharina hat mir davon erzählt.«
»Wenn er es geschickt angeht, vielleicht.«
»Er ist ein Mann der Tat«, fand Theresa. »Und ich bin sicher, dass er seinen Weg gehen wird, um Katharina glücklich zu machen.«
»Aber er ist sicher kein guter Kaufmann.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Er ist Maurer, mit Zahlen hat er nichts zu tun. Wie soll er da mit seinen Erfindungen Geld verdienen können?«
»Kaufmännisches Geschick kann man sich aneignen, Bernhard.«
»Und wenn nicht, landen sie beide im Armenhaus.«
»Unsinn.« Theresa schüttelte den Kopf. »Sieh nicht immer alles schwarz, Bernhard.«
»Sie hätte den Knecht zum Mann nehmen sollen.«
»Einen Verbrecher? Einen Dieb, der Unschuldige ins Zuchthaus bringt?« Theresa stöhnte auf. »Hättest du eine Frau geheiratet, an der dir nichts liegt, die deine Eltern für dich ausgesucht haben?« Sie fixierte ihn.
Nun musste Bernhard doch lachen. Sie kannte ihn lange und gut genug, um zu wissen, was ihn bewegte. Fast schien es so, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
»Du kennst die Antwort«, sagte er nachdenklich. Bei jeder Silbe wippte die Pfeife in seinem Mundwinkel auf und ab. Lächelnd erwiderte er den Druck ihrer Hand. »Vater und Mutter war es eine Herzensangelegenheit, dass ich glücklich bin. Glücklich mit der Frau, die ich über alles liebe.« Er seufzte wehmütig. »Und dafür bin ich ihnen dankbar.«
»Siehst du, du alter Sturkopf«, antwortete Theresa. »Und genauso sollten wir es auch handhaben. Wir wollen doch, dass unsere Tochter glücklich ist, oder?«
»Ja.« Er nickte mit ernster Miene. »Das wollen wir.« Bernhard wusste, dass er noch etwas Zeit brauchte, um sich mit dem Gedanken anzufreunden, für wen sich Katharina entschieden hatte. Dass sie sich damit auch gegen den Hof ihrer Eltern und Großeltern entschieden hatte und wohl schon bald in ein gänzlich anderes Leben aufbrechen würde. Er brauchte einfach noch Zeit.
»Komm«, riss ihn die warme Stimme seiner Frau aus den Überlegungen. »Wir sollten jetzt zu Bett gehen, es ist spät geworden.«
Er nahm einen letzten Zug an seiner Pfeife und erhob sich schwerfällig wie ein alter Mann. »Es ist spät geworden, und morgen wird wieder ein langer Tag.« Seite an Seite überquerten sie den Hof. Als aus dem neuen Stall ein Lachen ertönte, blieb Bernhard wie angewurzelt stehen. Das Tor stand offen, drinnen brannte schummriges Licht.
»Sie arbeiten wieder an der Molkereianlage«, vermutete Theresa, als sie seinen zweifelnden Blick sah. Der flackernde Schein drang in die Nacht. Schatten geisterten über die noch unverputzten Wände. Es war die Stimme seiner Tochter, die leise und für ihn unverständliche Worte sagte. Eine Männerstimme antwortete, ebenfalls nicht zu verstehen. Katharina kicherte.
»Nun komm schon«, mahnte Theresa ihn und nahm seine Hand. »Oder willst du unser frisch verliebtes Paar etwa belauschen?«
»Nein.« Bernhard schüttelte den Kopf. »Der Lauscher an der Wand hört oft seine eig’ne Schand’«, zitierte er ein altes Sprichwort. Es gelang ihm, sich ein schiefes Grinsen abzuringen, obwohl ihm die Situation nicht behagte.
»Eben«, nickte Theresa und zog ihn weiter zum Wohnhaus. »Dann komm jetzt und lass die beiden Turteltauben allein.«
Er wagte nicht, zu widersprechen, und folgte seiner Frau ins Haus. Ändern konnte er ja sowieso nichts mehr.