Schon wenige Wochen später erschien es Katharina, als hätte sie schon immer auf dem alten Posthof von Carls Eltern in Herzebrock gewohnt. Seine Familie hatte sie mit offenen Armen empfangen und gleich ins Herz geschlossen. Vor allem in Anna, Carls Mutter, fand sie schnell eine Bezugsperson. Anna nahm sich ihrer an, als wäre Katharina ihre leibliche Tochter. Und sie fühlte sich bereits nach wenigen Tagen schon heimisch, kümmerte sie sich doch liebevoll um das Vieh, das man hier hielt. Zwar war die Zahl der Tiere nicht mit der des Zumwinkel-Hofes zu vergleichen, aber für Katharina war die Pflege der Hühner, der beiden Ziegen und der Schweine eine Herzensangelegenheit. Im ehemaligen Postsaal, der zur Straßenseite lag, hatten Gerhard und Carl ein Lager für das Bauunternehmen eingerichtet, ein Teil davon war zur Werkstatt geworden. Hier sollte Carl an der Weiterentwicklung seiner Milchzentrifuge arbeiten können. Über der Tordurchfahrt lag eine Wohnung, die Carls Vater in der Vergangenheit vermietet hatte. Einst waren in dem Trakt ein Gasthof für die Reisenden und die Gästezimmer untergebracht gewesen.
Nach ihrer Ankunft in Herzebrock hatten sich Carl und sein Vater an die Arbeit gemacht, um die leerstehende Wohnung zu renovieren. Tagelang hatten die Männer den Stuck unter der Decke hergerichtet, die Wände gestrichen, den Dielenboden geschliffen und gestrichen und sogar ein kleines Badezimmer geschaffen, in dem sie sich pflegen konnte. Bei der anschließenden Einrichtung hatte sich Carl ganz nach Katharinas Wünschen gerichtet. Ihm war es wichtig gewesen, dass sie sich vom ersten Augenblick an heimisch fühlte in seinem Elternhaus.
Mit seiner Mutter war sie losgezogen, um die Wohnung erst so richtig wohnlich zu machen. Gemeinsam hatten sie Stoff für die Vorhänge besorgt, unermüdlich an der alten Singer-Nähmaschine Gardinen genäht und einen befreundeten Maler in dessen Atelier besucht, um passende Bilder zu kaufen. Sogar eine Seilzugklingel hatten die Männer installiert, sodass sich Besucher schon von der Straße aus bemerkbar machen konnten.
»Eigentlich vermiete ich üblicherweise nur an alleinstehende Damen oder Herren – oder an verheiratete Paare«, verkündete Gerhard flachsend bei der Schlüsselübergabe. »Einem Paar ohne Trauschein dürfte ich die Wohnung eigentlich nicht überlassen, das gibt nur Scherereien.« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ich denke, bei uns kannst du eine Ausnahme machen«, grinste Carl.
Katharinas künftige Schwiegermutter stieß ihren Mann mit gespielter Empörung in die Seite. »Sei nett zu unseren Kindern«, mahnte sie ihn, bevor sie Carl einen Laib Brot und Katharina ein kleines Tonfässchen mit Salz übergab. »Alles Gute für euer neues Heim«, sagte sie mit feierlicher Miene, und Katharina glaubte zu sehen, wie ihre Augen vor Rührung feucht schimmerten. »Brot und Salz sollen euch Glück und finanzielle Sicherheit bescheren«, kommentierte sie. »Ein alter Brauch.«
Katharina und Carl bedankten sich höflich.
»Alles Gute und viel Freude mit der Wohnung.« Carls Vater klopfte seinem Jungen freundschaftlich auf die Schulter. »Und denkt daran, die Hausordnung einzuhalten, die unten im Treppenhaus hängt.« Feixend zog sich Gerhard zurück und ließ das junge Glück zum ersten Mal allein in seiner neuen Wohnung. Etwas seltsam fühlte es sich schon an, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Doch die Freude überwog, als sich Katharina der neuen Situation bewusst wurde. Zum ersten Mal waren sie völlig ungestört. »Oh Carl«, jubilierte Katharina, »wir haben es geschafft – es ist unsere erste gemeinsame Wohnung!« Sie tanzte ausgelassen im Flur herum und konnte ihr Glück kaum fassen.
»Ja«, nickte Carl und strahlte. Er zog Katharina in seine Arme. »Unser eigenes Refugium, in dem wir niemandem Rechenschaft schuldig sind. Wir schließen die Türe ab und haben eine ganze Wohnung, nur für uns allein.«
»Es fühlt sich schon richtig heimelig an, findest du nicht?« Sie hatte sich viel Mühe gegeben, der Wohnung eine persönliche Note zu verleihen. Nun warf die Wintersonne ihr goldenes Licht durch die Fenster und ließ alles erstrahlen.
Carl nickte. Sie sah ihm an, dass auch er sich freute. »Ja«, nickte er, »es ist wirklich wunderschön geworden, Prinzessin.«
»Dann werde ich uns mal etwas Gutes kochen«, schlug Katharina vor und verschwand in der Küche.
Carl sah sich in der weitläufigen, hellen Stube um. Es gab an der Straßenseite einen Erker mit drei großen Fenstern, die viel Licht in die Wohnung ließen. Der Erker befand sich direkt über der Tordurchfahrt. Hier waren einst die Kutschen ins Innere des Posthofes gelangt.
Ihre Wohnung war nicht zu vergleichen mit der bescheidenen Kammer im Haus der Eltern, in denen er bis zu ihrer Abreise nach Clarholz gehaust hatte. Hätte man ihm damals gesagt, dass er sich auf dem Zumwinkel-Hof unsterblich in die Tochter des Bauern verlieben würde und dass er sie nach seiner Zeit auf dem Bauernhof gleich als seine Verlobte mit nach Hause bringen würde – er hätte wohl laut gelacht. Beschwingt trat er an das Kabinett, um eine Flasche Weinbrand zu öffnen. Er schenkte sich ein Glas ein, hielt es hoch und betrachtete die goldbraune Flüssigkeit im Sonnenlicht, bevor er sich in den Sessel am Fenster sinken ließ, den Blick in die Ferne richtete und genüsslich an dem Weinbrand nippte. Der Geschmack von Karamell schmeichelte seiner Zunge. Während er darüber nachdachte, dass er in diesem Augenblick wohl der glücklichste Mensch der Welt war, hörte er Katharina in der Küche singen. Sie klapperte mit dem Porzellan herum, und schon bald wehte ein herrlicher Geruch durch die Wohnung.
In wenigen Wochen würden sie heiraten, und dann war ihr Glück vollkommen. Wie Carl wusste, arbeitete seine Verlobte bereits an der Gästeliste. Mit seiner Mutter hatte sie einen Termin beim Schneider vereinbart, der ihr Hochzeitskleid nähen sollte. Bei der Vorstellung, Katharina schon bald ganz in Weiß zu sehen, legte sich ein warmes Lächeln auf Carls Gesicht, er spürte, wie sich seine Wangen vor Vorfreude röteten.
*
Die helle Scheibe des Vollmondes warf ihr kaltes Licht durch die Gardinen in das Schlafzimmer des Paars. Katharina erwachte mit klopfendem Herzen, weil sie ein Geräusch gehört hatte. Sie wandte den Kopf zur Seite, um nach Carl zu sehen. Er lag eingerollt neben ihr und hatte die Decke bis zum Kinn gezogen. Carl hatte einen tiefen Schlaf und wachte nicht so schnell auf. Sein Atem ging gleichmäßig, seine Gesichtszüge wirkten entspannt. Er hatte sicherlich kein Geräusch gemacht. Doch was war es gewesen, das Katharina aus dem Schlaf gerissen hatte?
Keuchend richtete sie sich auf. Dann hielt sie die Luft an und legte lauschend den Kopf schief. Irgendwo in der Wohnung knackte ein Balken. Sofort war sie hellwach und in Alarmbereitschaft. War ein Einbrecher in der Wohnung?
Ängstlich blickte sie auf Carl herab, der immer noch schlief. Sollte sie ihn aufwecken? Als sie die Hand nach ihm ausstreckte, zitterten ihre Finger leicht. Sie zögerte. Holz arbeitet nun mal, hatte ihr Vater immer gesagt, wenn sie sich als kleines Mädchen vor nächtlichen Geräuschen gefürchtet hatte. Das Haus bestand aus einem alten Fachwerkrahmen, auch der Boden war aus Holzdielen, die sich je nach Witterung ausdehnten oder zusammenzogen. Dabei kamen diese knackenden Geräusche zustande, die so klangen, als würde jemand herumlaufen.
Es blieb still. Gerade, als sich ihr Herzschlag normalisiert hatte und Katharina sich wieder hinlegen wollte, riss sie ein metallisches Scheppern aus den Gedanken. Mein Gott, dachte sie und saß starr vor Schreck da, was um Himmels willen ist das? Erst im nächsten Moment wurde ihr klar, dass es sich bei dem Geräusch um die Seilzugklingel handeln musste, die Gerhard Thiele ihnen eingebaut hatte. Doch wer wollte sie zu nachtschlafender Zeit besuchen?
Die Klingel befand sich an der Haustür zur Innenseite des Hofes, also musste jemand durch die Toreinfahrt gekommen sein, um sie zu betätigen. Das Schlafzimmer lag nach hinten. Katharina nahm allen Mut zusammen und schob die Decke fort. Barfuß tappte sie über die Dielen zum Fenster. Sie zog die Vorhänge auseinander, um einen Blick nach unten zu werfen. Doch da war niemand. Auch im gegenüberliegenden Haus, wo ihre künftigen Schwiegereltern lebten, brannte kein Licht mehr. Hatte sich jemand einen Scherz erlaubt? Doch wer das auch gewesen war – er musste gewusst haben, wo sich die Klingel befand.
Katharina trat vom Schlafzimmerfenster zurück. Mit einem Blick auf Carl versicherte sie sich, dass er immer noch schlief. Wieder war sie versucht, ihn zu wecken, entschied sich jedoch dagegen. Er hatte in den letzten Wochen hart gearbeitet und brauchte seinen Schlaf. So schlüpfte sie nun in die Filzpantoffeln am Bett und durchquerte den Flur. Die gegenüberliegende Tür war nur angelehnt. Sie schlüpfte hindurch und stand in der großen Stube. Das leise Ticken der Wanduhr war das einzige Geräusch. Mit einem flüchtigen Blick auf das Ziffernblatt stellte Katharina fest, dass Mitternacht längst vorbei war. Ängstlich huschte sie zum Fenster, um einen Blick nach draußen zu werfen. Die Straße lag verlassen da. Das Kopfsteinpflaster schimmerte bläulich im Mondlicht. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Gerade als sie sich beruhigt vom Fenster zurückziehen wollte, bemerkte sie unter dem Fenster einen huschenden Schatten. Eine dunkel gekleidete Gestalt lümmelte an der Mauer, wurde fast von der Dunkelheit der Hofdurchfahrt verschluckt. Katharinas Herzschlag drohte auszusetzen. Starr vor Schreck stand sie am Fenster und betrachtete die dunkle Gestalt. Das Gesicht war von der Krempe eines schwarzen Hutes verdeckt. Plötzlich leuchtete ein heller Punkt auf. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Katharina, dass es sich wohl um die Glut einer Zigarette handelte. Warum steht er da und raucht? Katharina fragte sich, ob es auch der Fremde gewesen war, der geklingelt hatte. Wer war er, und was wollte er mitten in der Nacht von ihr?
Offenbar spürte der Fremde, dass er beobachtet wurde. Hastig schnippte er den Zigarettenstummel in die Gosse, nachdem er ein letztes Mal daran gezogen hatte, und trat einen Schritt vor. Katharina stockte der Atem, als die schwarz gekleidete Gestalt sich umwandte und nun zu ihr aufschaute. Mit starrer Miene sah er sie an, fast schien es, als trüge er eine Maske. Um ein Haar wäre ein spitzer Schrei des Entsetzens über ihre Lippen gekommen. Kurz trafen sich ihre Blicke, dann wandte er sich wieder ab. Der Mann schob die Hände in die Taschen seines Mantels und wandte sich zum Gehen. Ohne Eile ging er davon.
Katharina fühlte sich wie in einem schrecklichen Alptraum. Er war gekommen, er war ihr gefolgt. Doch wie hatte er erfahren, dass sie jetzt hier wohnte? Die Gedanken rasten durch ihren Kopf, ohne zueinanderzufinden. Der Mann auf der Straße war kein anderer als Thomas gewesen, der ehemalige Knecht des Zumwinkel-Hofes.
*
»Moment, Moment, der Reihe nach.« Carl brauchte einen Augenblick, um wach zu werden. Katharina hatte ihn geweckt, ihn jäh aus den Träumen gerissen, um ihm mitzuteilen, was sie erlebt hatte. Eine haarsträubende Geschichte war das, was ihm seine Verlobte mit schreckgeweiteten Augen berichtet hatte. Aufrecht saß er im Bett und rieb sich die Schläfe. Es dauerte einen Moment, bis er seine Sinne beisammenhatte. Seine geliebte Katharina saß völlig aufgelöst und zitternd auf der Bettkante. Sie war kreidebleich, was aber auch am fahlen Licht des Mondes liegen konnte.
»Thomas war hier«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Er hat zu mir hochgeschaut, als ich am Fenster stand.« Sie barg das Gesicht in den Händen und schluchzte. »Was hat das zu bedeuten, Carl?«
Schützend legte er seinen Arm um sie. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er leise. »Ich weiß es nicht.«
Als sie die Hände sinken ließ und ihn anschaute, schüttelte sie den Kopf. »Es war so unheimlich, Carl.«
»Das glaube ich dir.« Auch er sorgte sich um die Geschehnisse, die seine Verlobte ihm geschildert hatte. »Bist du denn sicher, dass es sich bei dem Mann auf der Straße um Thomas gehandelt hat?«
Sie nickte. »Ich bin mir sehr sicher.«
»Woher sollte er wissen, wo er dich finden kann?«
Stumm zuckte Katharina die Schultern. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er ihre Adresse herausgefunden hatte.
»Er wollte dir Angst einjagen«, flüsterte Carl. »Aber das wird ihm nicht gelingen.«
»Es … es ist ihm bereits gelungen, Carl.«
»Ich werde dich beschützen, auf dich aufpassen. Gleich morgen gehen wir zur Polizei.« Ein wenig Überwindung kostete ihn dieser Vorschlag schon, denn als er an seinen letzten Besuch einer Polizeiwache dachte, hatte das mit seiner Verhaftung geendet. »Wenn du dich wirklich nicht getäuscht hast und es sich bei dem unheimlichen Besucher um Thomas handelt, dann wird er von der Polizei wegen der Sache damals immer noch gesucht. Und ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen.« Carl spürte Wut auf diesen Kerl in sich aufsteigen. Sollte Katharina sich nicht getäuscht haben, dann war er sicher, dass von dem ehemaligen Knecht eine Gefahr ausging.
»Warum hat er geklingelt?«, fragte Katharina mit tränenerstickter Stimme.
»Weil er uns wecken wollte, weil er zeigen wollte, dass er uns gefunden hat.«
»Was hat das zu bedeuten?« Katharina atmete tief durch. »Warum ist er hergekommen?«
»Ich weiß es nicht«, Carl seufzte, »noch nicht.« Er zog Katharina an sich. »Wir sollten jetzt versuchen, noch etwas zu schlafen, Prinzessin.«
»Ich fürchte, ich kann nicht mehr einschlafen vor Aufregung.«
Carl antwortete ihr nicht. So saßen sie einfach schweigend im Bett und hielten sich fest. Er konnte sich nur einen einzigen Reim auf den unheimlichen Besuch von Thomas machen. Er war gekommen, um sie zu verängstigen. Und um die Hochzeit im letzten Augenblick zu verhindern. Eine andere Antwort wollte Carl nicht einfallen.