Gerhard Thiele bemerkte sofort, dass seinen Sohn etwas bewegte. Carl war sichtlich verschlafen in der Werkstatt erschienen, um eher lustlos an seiner Milchzentrifuge zu arbeiten. Die erste Maschine war so gut wie fertiggestellt, und in zwei Tagen hatte Friedrich Beyer seinen Besuch in der Werkstatt angemeldet. Der Händler, den Carl an seinem letzten Abend in Clarholz kennengelernt hatte, wollte seine erste Milchzentrifuge abholen. Sollte Beyer mit der Maschine zufrieden sein, hatte er die Abnahme von mindestens fünf weiteren in Aussicht gestellt. Trotz dieser erfreulichen Entwicklung schien Carl an diesem Morgen nicht recht voranzukommen.
Gerhard, der eben damit beschäftigt war, die Werkzeuge für einen weiteren Auftrag zusammenzustellen, unterbrach die Arbeit und widmete sich seinem Sohn. »Ist alles in Ordnung, Junge?«, fragte er, nur um ein Gespräch beginnen zu können.
Carl betrachtete ihn nachdenklich. »Wir hatten letzte Nacht Besuch.«
Gerhard musterte ihn mit einer fragend erhobenen Augenbraue. »Bist du deshalb so müde? Wer besucht euch denn nachts?«
»Es war kein Besuch aus Höflichkeit, befürchte ich.«
»Nicht?« Gerhard hatte eine Ahnung, was geschehen war. »Ist man bei euch eingebrochen?«
»Nein. Thomas war hier.«
»Wie bitte?« Gerhard machte große Augen.
»Thomas war hier. Der ehemalige Knecht vom Zumwinkel-Hof.«
»Ich weiß sehr wohl, wer dieser Thomas ist. Er hätte meinen Sohn schließlich fast ins Gefängnis gebracht.« Gerhard spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er ballte die Hände zu Fäusten und war sehr besorgt. Er ahnte, dass Thomas gekommen war, um ihnen Schwierigkeiten zu machen.
»Und Katharina ist sich ganz sicher, dass er es war?«
»Ich habe sie das auch gefragt, und sie ist sicher, ja.«
»Dann musst du zur Polizei gehen.« Gerhard verschränkte die Arme vor der Brust. »Er wird doch sowieso gesucht, also wird man dir dankbar für jeden Hinweis sein.«
Carl nickte. »Das hatte ich vor.«
»Na bitte.« Gerhard klatschte in die Hände. »Worauf wartest du dann noch? Hol Katharina und dann ab auf die Wache.« Er nahm seinem Sohn den Schraubenschlüssel aus der Hand und schob ihn aus der Werkstatt heraus, ohne dass Carl Zeit fand, zu protestieren.
*
»Was verlangen Sie?« Befremdet betrachtete Wachtmeister Friedhelm Stürmer das junge Paar. Der diensthabende Polizist der Wache in Herzebrock war ein wenig untersetzt, hatte buschige Augenbrauen und etwas zu groß geratene Ohren. Katharina schätzte ihn auf Ende vierzig. Die dunkelblaue Uniform spannte sich über Stürmers üppigem Bauch. »Verlangen Sie eine Leibwache?« Spott lag in seiner Stimme, doch Carl hatte offenbar nicht vor, sich von ihm einschüchtern zu lassen. Zurückgelehnt saß er auf dem einfachen Stuhl vor Stürmers Schreibtisch, hinter dem sich der Uniformierte wie hinter einer Festung verbarg. Katharina saß mit verschlossener Miene neben Carl und hielt seine Hand.
»Wir verlangen lediglich, dass Sie den Verbrecher hinter Schloss und Riegel bringen«, antwortete Carl. Geduldig hatte er dem Polizisten berichtet, was sich vor einigen Wochen in Clarholz zugetragen hatte.
»Ihr Kollege, Hauptwachtmeister Petermann, wird es Ihnen danken, wenn Sie sich kooperativ zeigen«, vermutete Katharina. »Er ist nicht gut auf unseren ehemaligen Knecht zu sprechen.«
»Petermann?« Stürmer machte große Augen. »Wilhelm Petermann ist Vorsteher der Polizeiwache von Clarholz?« Offenbar war ihm der Kollege ein Begriff.
»Ja«, nickte Carl mit einem süffisanten Grinsen. Er schöpfte Hoffnung, dass sich das Blatt nun wendete. »Mit Verlaub, Petermann ist ein wenig ehrgeiziger Mann, wenn es darum geht, Verbrecher zu fangen.«
»Na hören Sie mal!«, wetterte Stürmer und hieb mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte, dass es krachte. Katharina zuckte erschrocken zusammen, was Stürmer zu einer genuschelten Entschuldigung hinriss. »Sie können mir doch nicht vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe!«
»Dann tun Sie Ihre Arbeit einfach«, empfahl Katharina ihm mit spitzer Stimme, nachdem sie sich von dem Schrecken erholt hatte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als Frieden in ihrem neuen Leben. Die Zeit mit Thomas empfand sie inzwischen als ein dunkles Kapitel auf dem Hof, das in weite Ferne gerückt war – bis der ehemalige Knecht wieder in ihr Leben getreten war. Je länger sie darüber nachdachte, desto elender fühlte sie sich.
»Ich werde öfters Streife gehen und auch um den alten Posthof herum meine Augen offen halten«, versprach Stürmer, der plötzlich ein wenig zugewandter auf Carl wirkte.
Der Wachtmeister erhob sich von seinem Platz und trat an einen Schrank. Mit einem gebundenen Buch kehrte er zum Tisch zurück. Carl lächelte seiner Verlobten aufmunternd zu.
»Was ist das?«, erkundigte sich Katharina, während sie auf den Einband deutete, der nun zwischen ihnen auf dem Tisch lag.
»Das, meine Werteste, ist unser polizeiliches Verbrecher-Album.« Stürmer klappte den Pappeinband auf und präsentierte ihnen Zeichnungen und Fotografien von finster dreinblickenden Männern jeden Alters. Carl wünschte sich, keinem der finsteren Gesellen leibhaftig zu begegnen. »Das sind polizeilich gesuchte Verbrecher«, erklärte Stürmer. »Schauen Sie sich die Bilder an, und wenn Sie diesen Thomas … hat er überhaupt einen Nachnamen?, hier finden, sagen Sie Bescheid.«
Katharina tauschte einen flüchtigen Blick mit Carl und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »wir sprechen uns auf dem Hof alle nur beim Vornamen an. Aber sicher kennt mein Vater den Nachnamen – oder Petermann.«
»Ich werde mich erkundigen«, versprach Friedhelm Stürmer. »Aber ich kann nicht versprechen, dass ich diesen Mann auf frischer Tat erwische – und überhaupt, was fürchten Sie denn?«
»Er hat ein Auge auf meine Verlobte geworfen und sieht mich als seinen Erzfeind an.« Carl holte tief Luft. Er hatte gehofft, dass Thomas ihm nie wieder Schwierigkeiten machen würde.
»Also sind Sie beide in Gefahr?«
»Es ist nicht auszuschließen«, nickte Carl. »Entweder, weil er mich aus dem Weg räumen will, oder weil er plant, Katharina etwas anzutun. Oder er will sie unter Druck setzen, ihm doch noch eine Chance zu geben.«
»Was ich nie tun werde«, fügte Katharina schnell und energisch hinzu.
»Natürlich nicht.«
Gemeinsam blätterten sie das Verbrecheralbum durch, ohne fündig zu werden. Offenbar war Thomas noch nie zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten und aktenkundig geworden.
»Ich fürchte, wir können Ihnen nicht weiterhelfen«, stöhnte Katharina kopfschüttelnd, als sie das Album zuklappte und es dem Polizisten über den Schreibtisch hin zuschob. Das Gefühl, nichts tun zu können, quälte sie.
»Aber sicher können Sie ihn mir beschreiben?« Er zückte einen Stift und zog ein Notizbuch aus der Uniformjacke.
»Das müsste gehen, ja.« Katharina nickte und gab Friedhelm Stürmer eine detaillierte Personenbeschreibung, mit der er sich den Gesuchten vorstellen konnte.
»Danke«, sagte Stürmer schließlich, nachdem er alle Details noch zweimal halblaut vorgelesen hatte. Langsam und betont, wie ein Schulkind, das gerade lesen gelernt hatte. »Ich werde sehen, was ich tun kann, Herrschaften. Und wenn er noch einmal bei Ihnen auftaucht, verlieren Sie keine Zeit und alarmieren mich auf der Stelle. Ich bin Tag und Nacht erreichbar.«