Der nächste Tag begann ernüchternd. Fassungslos stand Carl vor den Überresten seiner Werkstatt. Zwar hatte die Feuerwehr getan, was sie konnte, doch es war bereits zu spät gewesen, und so waren die sich im Bau befindlichen Zentrifugen, die Einzelteile und sämtliche Werkzeuge Opfer der Flammen geworden. Die Werkstatt war ein Trümmerhaufen, und das Eintreffen der Feuerwehr hatte nur noch verhindern können, dass die Flammen auch auf das Wohnhaus übergriffen.
Vom Brand betroffen war ebenfalls Gerhards Baugeschäft. Auch er würde vorläufig keine Aufträge mehr annehmen können. Schwerer Brandgeruch hing in der Luft, und schon im Morgengrauen hatten sich zahlreiche Schaulustige auf der Straße eingefunden, die sich selbst ein Bild von der Zerstörungswut des Feuers machen wollten.
Wachtmeister Stürmer war damit beschäftigt, die neugierigen Männer und Frauen vom Ort des Geschehens zu vertreiben. Feuerwehrmänner saßen erschöpft auf dem Bordstein der Straße und stierten mit teilnahmslosen Mienen ins Leere. Ihre Gesichter, die Helme und ihre Uniformen waren vom Ruß geschwärzt. Katharina und Anna hatten die Männer mit Milch versorgt. Auf dem Gehweg lagen die Löscheimer neben den Schläuchen, die zum knallroten Spritzenwagen führten. Auf der Straße hatte sich eine große Lache vom Löschwasser gebildet, die langsam zu Eis gefror, Rauch kräuselte sich aus der Werkstatt in den wolkenlosen Himmel.
Die Tragödie betraf jedes Familienmitglied, auch die beiden Gesellen wussten nicht, wie es weitergehen sollte. »Wir sind erledigt«, jammerte Gustav und schob sich die Mütze weit in den Nacken. Er hockte neben Erwin auf der Kutsche und betrachtete die Brandruine. Erwin nickte stumm. »Wir werden uns eine andere Anstellung suchen müssen.«
»Das ist doch Unsinn«, wetterte Gerhard und schüttelte energisch den Kopf. »Wir fangen so schnell wie möglich mit dem Wiederaufbau an, und dann geht es weiter.« Er lächelte den jungen Männern, die beide seine Söhne hätten sein können, aufmunternd zu. »Und für den Wiederaufbau der Baustoffhandlung brauche ich euch, Jungs.«
Carl, der das Gespräch mitgehört hatte, wünschte sich, schon bald weitermachen zu können. Doch es sah nicht danach aus, als würde er hier jemals wieder Milchzentrifugen bauen können. Mit dem verheerenden Brand war nicht nur sein Traum geplatzt, ein erfolgreicher Erfinder zu werden – das Feuer hatte ihm auch die Existenzgrundlage geraubt.
»Es wird irgendwie weitergehen«, flüsterte Katharina Carl ins Ohr. Als sie seine traurigen Blicke gesehen hatte, war sie zu ihm gekommen. Nickend legte er einen Arm um ihre Schulter. Es tat gut, ihre Nähe zu spüren. »Offen gestanden weiß ich noch nicht, wie und wann«, gestand er ihr. »Und ich weiß nicht, warum es in der Werkstatt gebrannt hat. Ich bin sicher, das Licht gelöscht zu haben.«
Als Carl sie ansah, spürte er, dass sie eine Antwort hatte, doch sie schwieg. »Später«, sagte sie, »ich teile dir später meine Gedanken mit.«
»Thomas«, nickte Carl. »Du glaubst also auch, dass Thomas dahintersteckt.«
»Eine andere Idee habe ich nicht.«
»Es geht mir genauso.« Carl seufzte. »Er will uns zerstören, er neidet uns das Glück und will verhindern, dass wir erfolgreich sind.«
»Das wird ihm nicht gelingen.« Aus ihrem Munde klangen diese Worte selbstverständlich, so selbstverständlich, dass sie ihm Mut machten. »Es ist an der Zeit, dass die Polizei ihn endlich findet und ins Gefängnis bringt.«
»Ja. Das wird sie.«
»Fragt sich nur, was bis dahin noch alles passieren muss«, brummte Carl. Er sah auf, weil es auf der Straße laut geworden war.
»Sie dürfen hier nicht durch«, hörte er die erhobene Stimme von Wachtmeister Stürmer. Der Staatsdiener hatte abwehrend beide Hände gehoben, als ein hochgewachsener Mann im feinen Zwirn den Versuch unternommen hatte, den ehemaligen Posthof zu betreten.
»Entschuldige mich, Liebling.« Carl löste sich aus Katharinas Umarmung und stiefelte mit ausladenden Schritten auf den Wachtmeister zu.
»Er darf selbstverständlich zu mir«, stellte er klar.
»Wer ist das denn?« Friedhelm Stürmer runzelte die Stirn. »Da könnte ja jeder von sich behaupten, dass er …«
»Er darf, Wachtmeister«, stellte Carl klar und rang sich ein Lächeln ab, um Friedrich Beyer zu sich zu bitten. Der Agrarhändler wirkte erschüttert, als er die Reste der Werkstatt sah. »Wie schrecklich«, attestierte er. »Was um Himmels willen ist geschehen?«
Carl zog ihn zur Seite und schilderte seinem Kunden, was sich in der Nacht ereignet hatte. Dass er den Verdacht auf Brandstiftung hatte, behielt er für sich. Beyer hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen.
»Aber die fünf Zentrifugen sind bereits verkauft«, sagte er schließlich mit zerknirschtem Gesicht.
»Ich fürchte, dass die Produktion erst einmal eingestellt werden muss«, bedauerte Carl.
Friedrich Beyer nickte nachdenklich. Er trat an die zersprungenen Fenster und versuchte, einen Blick auf die vom Feuer verwüstete Werkstatt zu werfen. »Das ist schrecklich.« Seine Stimme klang belegt, als er zu Carl zurückkehrte. »Ich habe die Zentrifugen bereits verkauft und von meinen Kunden eine Anzahlung kassiert, die ich Ihnen heute überbringen wollte.«
Erst jetzt bemerkte Carl die Ledertasche, die er mit sich herumtrug. »Unter diesen Umständen aber …« Kopfschüttelnd brach Beyer den begonnenen Satz ab. »Was machen wir nur?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Carl. »Offen gestanden schwirrt mir gerade der Kopf, und es war noch keine Zeit, um mir Gedanken zu machen, wie und ob ich die Produktion wieder aufnehmen kann.«
»Das ›ob‹ steht völlig außer Frage, junger Freund.« Beyer schüttelte energisch den Kopf. »Es muss einfach weitergehen.«
»Aber wie denn?« Carl war verzweifelt. Er konnte nicht fassen, dass sein Geschäft platzte, bevor es überhaupt Fahrt aufgenommen hatte.
Friedrich Beyer seufzte und sah theatralisch zum Himmel. »Stillstand ist Rückschritt«, bemerkte er schließlich. »Soll heißen, dass Sie jetzt unmöglich tatenlos dasitzen können.«
»Haben Sie eine Idee?«, fragte Carl niedergeschlagen.
»Vielleicht.« Beyer dachte angestrengt nach. »Ein Freund von mir besitzt eine alte Kornmühle, ein Sägewerk. Die Fabrik steht seit Langem still, und er möchte die alten Gebäude abreißen und dort ein Wohnhaus errichten lassen.«
Carl ahnte, worauf sein Geschäftspartner hinauswollte. »Ich kann es mir noch nicht leisten, eine große Fabrik zu betreiben.«
»Das müssen Sie auch gar nicht.«
»Abgesehen davon weiß ich nicht einmal, wie gut sich meine Zentrifugen verkaufen werden. Wir befinden uns in einer recht frühen Phase und können unmöglich planen.«
»Das sagen Sie, aber es stimmt nicht.« Ein triumphales Lächeln erhellte Beyers Gesicht. »Ich war so frei, meinen Geschäftspartnern von Ihrer Erfindung zu berichten, Herr Thiele. Und sie waren, gelinde gesagt, begeistert von der Maschine. Alle wollen eine Zentrifuge kaufen, manche sogar mehrere. Von einer Molkereianlage oder der Buttermaschine ganz zu schweigen.«
»Und ich kann weder bauen noch liefern.«
»Noch nicht.« Beyer wirkte plötzlich unbekümmert. »Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor, wertester Thiele: Ich werde meinen Freund fragen, ob er uns das Grundstück und die alte Kornmühle überlässt. Wenn er sich dazu bereiterklärt, wird im Innern eine Maschinenfabrik entstehen.«
»Wer soll das bezahlen?« Carl stöhnte auf. So verlockend die Vorstellung von einer großen Produktion seiner Maschinen auch war – er hatte bisher keine Umsätze erwirtschaften können, die eine solch große Investition erlaubten.
»Ich könnte mir vorstellen, Sie zu unterstützen«, murmelte Friedrich Beyer. »Sie bauen die Zentrifugen und ich versorge damit meine Kundschaft. Dafür überlassen Sie mir die Apparate zu günstigsten Konditionen.«
Carl runzelte die Stirn. »Ich brauche Material, Werkzeuge und Maschinen – wahrscheinlich auch Angestellte, weil ich die Aufträge unmöglich allein bearbeiten kann.«
»Richtig.« Beyer nickte. »Und ich werde in Vorkasse treten.«
»Wo ist der Haken?«
»Es gibt keinen.« Der Agrarhändler hielt ihm die rechte Hand hin. »Wir wollen beide Geschäfte machen. Sie haben die Maschinen, die ich verkaufen werde.«
Carl dachte kurz nach. »Also gut«, stimmte er zu. Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gab, weiterzumachen, dann wohl nur mit Friedrich Beyers Unterstützung. Insgeheim hatte er sich vorgenommen, erst einmal mit Katharina über Beyers Vorschlag zu sprechen. Ohne sie würde er die Entscheidung nicht treffen wollen.
Bayer schien seine Gedanken zu erraten.
»Niemand drängt Sie zu einer übereilten Entscheidung«, nickte er weltmännisch. »Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie benötigen, um das hier«, er deutete auf die traurigen Reste der Werkstatt, »verarbeiten zu können.« Friedrich Beyer zog ihn in eine Ecke des Hofes, in der sie ungestört waren, dann öffnete er seine Tasche und überreichte Carl einen Umschlag. »Hier«, sagte er, »das sind die Anzahlungen meiner Kundschaft. Nehmen Sie das Geld für den Neuanfang – aber lassen Sie nicht zu viel Zeit vergehen, denn meine Kunden warten bereits auf Ihre Milchzentrifugen, Herr Thiele.« Er nickte Carl mit entschlossener Miene zu. »Einen schönen Tag – und alles Gute. Wir hören uns.« Mit diesen Worten schloss er die Riemen seiner Ledertasche und verschwand.
»Was wollte er?«, fragte Katharina, als Carl allein war. Ein wenig ratlos stand er mit dem Umschlag auf dem Hof. »Er hat mir ein Geschäft vorgeschlagen.«
»Und dir Geld gegeben«, stellte Katharina fest. »Das wirst du jetzt gebrauchen können, mein Liebster.« Sie zeigte auf die abgebrannte Werkstatt. »Denn aufgeben wollen wir ja wohl nicht, oder?«
*
Die nächsten Wochen wurden anstrengend. Alle waren mit dem Aufräumen und dem Wiederaufbau von Gerhard Thieles Baugeschäft beschäftigt. Der Verdacht, dass Thomas etwas mit dem Brand zu tun hatte, bestätigte sich schon bald, denn der Polizist hatte ihn am Tag des Brandes betrunken unweit des Tatortes aufgegabelt. Thomas war bei seiner Verhaftung geständig gewesen, was ihn aber nicht davor bewahrt hatte, dass er noch am selben Tag dem Richter vorgeführt wurde, der ihn auf direktem Wege ins Zuchthaus bringen ließ.
Ein wenig war es für Katharina und Carl, als wäre ein böser Geist, der ihnen Angst gemacht hatte, für immer ins Jenseits verschwunden. Das unheilvolle Damoklesschwert, das über ihnen geschwebt hatte, gehörte endlich der Vergangenheit an.
»Wir müssen jede Hilfe annehmen«, fand Katharina, als er ihr von Beyers Vorschlag berichtete, die alte Kornmühle am Rand von Herzebrock mit neuem Leben zu füllen. »Und zu verlieren haben wir auch nichts. Du hast eine große Halle, in der du die Aufträge abarbeiten kannst, und wir können uns mit wachsender Nachfrage vergrößern.«
»Sicher hast du recht«, stimmte Carl ihr zu. »Also soll ich sein Angebot annehmen?«
»Natürlich, oder willst du schon aufgeben?« Sie klang energisch, stemmte die Hände in die Hüften. »Du solltest nicht zögern, Carl.«
»Gut.« Er nickte. »Dann werde ich mich auf den Neuanfang konzentrieren, damit es mit unseren Zentrifugen weitergehen kann.«
»Sie brauchen einen Namen«, sagte Katharina. In den letzten Tagen war ihr die Idee gekommen, der Zentrifuge einen Namen zu geben, der sich in der ganzen Welt herumsprechen sollte.
»Wie meinst du das?« Carl runzelte die Stirn.
»Dein Produkt braucht einen Namen, der sich in den Köpfen der Menschen festsetzt – einen Wiedererkennungswert sozusagen.«
Jetzt erhellte ein Lächeln sein Gesicht. »Und so wie ich dich kenne, hast du dir sicher auch schon Gedanken darüber gemacht?«
»Selbstverständlich.« Katharina nickte. »Was hältst du von Satellit?«
Carl dachte kurz nach, dann wusste er, wovon seine Verlobte sprach. Den Begriff hatte er schon einmal irgendwo gehört. »Das stammt aus dem Lateinischen, richtig?«
Katharina nickte. »Ich musste selbst nachlesen, da ich mit Latein nicht viel am Hut habe.« Sie kicherte, bevor sie fortfuhr. »Satellit steht für Leibwächter, Begleiter, aber auch für Handlanger.«
»Ist das denn passend?« Carl runzelte die Stirn.
»Natürlich – unsere Maschinen sind ja die Begleiter ihrer Besitzer – und das über viele Jahre hinweg.«
Je länger Carl darüber nachdachte, umso mehr schien ihm der Gedanke zu gefallen. »Gut«, sagte er schließlich. »Dann heißt unsere Zentrifuge ab sofort Satellit.«