Kapitel 49

Ein wenig neidisch auf ihre Freundin Katharina war Lina schon. Sie ging jetzt ihren eigenen Weg an der Seite von Carl, während Lina immer noch auf dem Zumwinkel-Hof als Küchenmagd arbeitete. Doch immer wenn sie in einem ruhigen Augenblick über ihr Leben nachdachte, wusste sie, dass das noch nicht alles war. Irgendwann, so hoffte sie, würde ihr Märchenprinz erscheinen, um sie zu entführen. Vielleicht nicht auf einem stolzen Ross und nicht gleich in ein Schloss, aber sicher würde er sie auf Händen tragen und ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen.

Lina bemerkte den sehnsüchtigen Seufzer, der über ihre Lippen kam, nicht einmal.

»Träumst du?« Theresa war mit einem nachsichtigen Lächeln hinter sie getreten, während Lina Kartoffeln schälte.

»Vielleicht«, lächelte Lina und fühlte sich ertappt, »aber es war ein schöner Traum.« Für einen kurzen Augenblick legte sie das Messer aus der Hand, wischte sich die Hände an einem Leinentuch ab und betrachtete die große Menge der bereits geschälten Kartoffeln, die sie heute für die Suppe benötigten. »Was wäre eigentlich, wenn ich den Hof verlassen würde?«, fragte sie so unvermittelt, dass Theresa ein wenig zusammenzuckte. »Du auch noch?« Sie seufzte und dachte dabei wohl sofort an ihre Tochter, die sie schmerzlich vermisste. Nur der Gedanke daran, dass Carl ihr Kind gut behandelte, schien sie zu versöhnen.

»Nein«, lachte Lina und schämte sich fast ein wenig für die Frage. »Ich meine nur – wenn es eines Tages so weit wäre.« Sie griff wieder zum Messer und schälte weiter. Mit einem Glucksen landeten die geschälten Kartoffeln in dem großen, mit Wasser gefüllten Topf. Der Gesundheitszustand von Theresa Zumwinkel hatte sich in den letzten Wochen weiter verschlechtert. An manchen Tagen schaffte sie es kaum, das Bett zu verlassen. Sie hustete viel und fühlte sich kraftlos. Lina half ihr an diesen Tagen, wo sie konnte, brachte ihr Suppe und heißen Tee ans Bett, rief nach dem Arzt, wenn er benötigt wurde. Sie war auf dem Hof unabkömmlich geworden, und sie stand der Bäuerin gern zur Seite. In ihrer Zeit auf dem Zumwinkel-Hof hatte sie das Dorf nur selten verlassen. Ein paar Mal hatte sie Katharina schon besucht, ansonsten ging es nur zum Wochenmarkt in die Stadt. Dort wurden die Erträge des Hofes angeboten, aber auch Waren gekauft, die auf dem Hof gebraucht wurden. Da der Zumwinkel-Hof größtenteils von der Milchwirtschaft lebte, mussten viele Waren hinzugekauft werden, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Solche Markttage waren für Lina immer eine willkommene Abwechslung gewesen. Während die Landarbeiter und die Knechte auf den Feldern schufteten, verrichtete sie tagein, tagaus den Dienst in der Küche und kam nur selten vom Hof.

Lina spürte immer öfters den stärker werdenden Wunsch in sich heranwachsen, mehr Freiheiten zu genießen.

»Ich kann dich schlecht aufhalten, wenn du das Bedürfnis verspürst, uns eines Tages zu verlassen«, überlegte Theresa. »Und es muss ja nicht beim regulären Dienstbotenwechsel sein, denn dir würde ich alles ermöglichen.«

»Das weiß ich sehr zu schätzen.« Lina strahlte. »Aber noch ist es ja nicht so weit.«

»Du denkst an Katharina.«

»Ja.« Lina fühlte sich ertappt. »Sie fehlt mir.«

»Mir auch. Aber ich weiß, dass das der Lauf des Lebens ist. Kinder werden groß, sie heiraten und gründen eine eigene Familie.« Der Versuch, abgeklärt zu klingen, gelang Theresa nicht. »Ich kann Katharina nicht hier festbinden«, schob sie hinterher. »Sie ist erwachsen geworden und geht nun ihre eigenen Wege.«

»Ich glaube, ich hätte das Gefühl, euch im Stich zu lassen«, eröffnete Lina ihr. »Und ob ich das übers Herz brächte, weiß ich nicht.«

»Das wirst du schaffen«, war Katharinas Mutter sicher. Sie nahm Linas Hand und drückte sie. »Wenn erst ein Mann in dein Leben tritt, wirst du die Dinge mit anderen Augen sehen.«

»Die Post war da«, rief Bernhard Zumwinkel, der plötzlich in die Küche polterte. Er hielt zwei Briefumschläge in der Hand und grinste breit. Als er bemerkte, dass die beiden Frauen sich unterhalten hatten und nun irritiert aufblickten, murmelte er eine Entschuldigung. »Störe ich?«

»Nein, Bernhard, alles ist gut.« Theresa lächelte ihm zu. »Wir haben nur Frauengespräche geführt, nicht mehr und nicht weniger.«

»Soso.« Er nickte verstehend.

»Was bringst du uns für Post?«, fragte Theresa von der Neugier gepackt und zeigte auf die beiden Umschläge in seinen Händen.

»Post aus Herzebrock, von Carl und Katharina.« Immer noch grinsend zog er sich einen Stuhl heran.

»Zwei Briefe?« Theresa legte die Stirn in Falten.

»Einer für uns, einer für dich.« Der Bauer reichte Lina ein Kuvert.

»Ich ahne etwas«, schmunzelte Theresa, die den Umschlag auf den Tisch legte, um ihn vorsichtig und mit spitzen Fingern zu öffnen. Lina legte das Küchenmesser fort und öffnete ebenfalls ihren Umschlag. Dabei war sie ein wenig geschickter als die Bäuerin und zog den darin befindlichen Brief hervor. »Eine Einladung!«, rief sie hocherfreut. »Ich bin zu Katharinas Hochzeit eingeladen!«

Theresa und Bernhard Zumwinkel falteten den Brief ihrer Tochter auseinander. »Wir auch«, lachte Bernhard. Kurz verfinsterte sich seine Miene. Lina sah ihm an, dass mit der bevorstehenden Hochzeit sein Traum von Katharinas Hofübernahme endgültig platzte. Vielleicht hatte für ihn insgeheim noch ein Fünkchen Hoffnung bestanden, dass Katharina eines Tages nach Clarholz zurückkehrte. Diese Hoffnung schien er jetzt ein für alle Mal begraben zu müssen. Als er bemerkte, wie Lina ihn ansah, setzte er eine unbekümmerte Miene auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nur kein Mitleid mit einem armen alten Mann«, sagte er. »Ich bin ja selbst schuld.« Er lachte gewinnend, doch Lina ahnte, dass ihn der Verlust seiner Tochter mehr traf, als er zugeben wollte. Vielleicht hatte Theresa recht gehabt, als sie behauptet hatte, dass das der Lauf des Lebens sei. Lina selbst freute sich sehr auf das Fest, hatte sie ihre Freundin doch schon bei der Anprobe des Brautkleids begleiten dürfen. Katharina hatte ausgesehen wie eine Prinzessin. Und sie erwischte sich bei dem Gedanken, wann auch sie diesen großen Tag an der Seite ihres Prinzen erleben durfte.

*

In Herzebrock liefen die Hochzeitsvorbereitungen auf Hochtouren. Nur noch wenige Tage, bis Katharina endlich den Mann heiraten durfte, den sie so liebte, wie sie noch nie einen Menschen geliebt hatte, ohne den sie sich ein Leben nicht mehr vorstellen konnte und wollte. Während die Produktion in der Fabrik langsam anrollte und Carl sich um den Bau der Zentrifugen für Friedrich Beyer kümmerte, planten Anna und Katharina die Feierlichkeiten. Ein wenig vermisste Katharina in dieser Zeit ihre Mutter, doch Theresa war auf dem Hof unabkömmlich. Immerhin würde sie zur Hochzeit kommen, und Bernhard würde seine Tochter sicher zum Altar begleiten. Beim Bäckermeister wurde eine große Hochzeitstorte in Auftrag gegeben, die für alle Hochzeitsgäste genügen würde, in der Blumenhandlung wurden die Dekoration und der bunte Hochzeitsstrauß bestellt, der Schneider führte in diesen Tagen die letzten Arbeiten am Hochzeitskleid durch. Für alle Gäste, die von weit her anreisten, waren Zimmer in den umliegenden Gasthöfen reserviert worden, und Katharina und Carl hatten Besuch von Pfarrer Paul Westebbe empfangen. Der Geistliche würde sie trauen und so zu Mann und Frau machen. Katharina war von Glück beseelt bei den Vorbereitungen zur Hochzeit und fiel abends immer todmüde ins Bett, um in jeder Nacht von ihrer Hochzeitsfeier zu träumen. Ein rauschendes Fest sollte es werden, das ihrer Liebe zu Carl gerecht wurde. Und schon jetzt war Katharina sicher, dass keiner der Gäste diese Feier je vergessen würde. Nun blieb nur noch zu hoffen, dass das Wetter ihnen keinen Streich spielte, denn schon als Kind hatte sie von einer Märchenhochzeit bei strahlendem Sonnenschein geträumt.