… und abends fliegen die Fledermäuse
Hab ich schon erwähnt, dass in den Felsen eine Menge Fledermäuse wohnen? Tagsüber ließen sie sich nicht sehen, erst abends wurden die Tierchen munter. Scheu waren sie nicht; wenn wir von der Jägeralpe auf der Bank vorm Haus die letzten Sonnenstrahlen genossen, kamen sie aus ihren Verstecken und segelten oft so nah an unseren Köpfen vorbei, dass wir uns kein bisschen über die vielen Vampirgeschichten wunderten und fast auf einen Biss in den Hals warteten, was ziemlich gruselig war.
An diesem Abend saß Nele, die Krücke neben sich, auf der Bank und streckte mir die Hand entgegen. »Tut mir leid, Zippi«, sagte sie mit ihrer zarten Stimme. »Ich wollte dir wirklich nicht wehtun. Kannst du mir verzeihen?«
»Nur wenn du nie wieder davon anfängst.«
»Versprochen. Nie wieder.«
»Gut. Das Thema bringt mich nämlich um.«
»Ja. Bist du mir noch böse?«
Darüber musste ich nachdenken. »Es tut noch weh.«
»Das kenne ich«, sagte Nele leise. »Wenn viel los ist und man an was ganz anderes denkt, tut nichts weh. Aber plötzlich erinnert man sich wieder, und man wird sich bewusst, dass man nichts vergessen hat. Das ist furchtbar. Wenn ich nur ein Auto höre, das besonders schnell fährt …«
»Hier heroben hörst du aber so gut wie kein Auto«, unterbrach ich sie.
»Ich hör’s in meinem Kopf«, flüsterte sie. »Und dann sehe ich, wie meine Mutter …« Erschrocken hielt sie die Hand vor den Mund. »Entschuldige! Ich hab Emir versprochen, das Wort in deiner Gegenwart nicht auszusprechen!«
»Schon gut.«
»Danke.«
Wir sahen den Fledermäusen zu, und dabei fiel mir auf, dass sich die Tiere nicht wie Vögel auf Zweige setzen und zwitschern. »Sind Fledermäuse eigentlich Vögel oder nicht?«
»Es sind Säugetiere. Die Weibchen bringen lebendige Junge zur Welt«, antwortete Nele.
»Woher weißt du das?«
Sie hob die Schultern. »Ich interessiere mich für Tiere. Weißt du, dass die Fledermausweibchen ihre Jungen zum Schutz …« Scharf zog sie den Atem ein, verstummte, griff nach ihrer Krücke und stand auf.
»He, was ist?«
»Nichts.«
»Natürlich ist was!«
Nele machte sich auf den Weg, drehte sich aber noch einmal um: »In meinem Kopf fährt wieder das Auto … Grausam ist das, einfach grausam. Weißt du, Zippi …« Zornig stieß sie ihre Krücke auf den Boden. »Du hast wenigstens noch eine Mutter!«
Ich fuhr zusammen. Wahnsinn, voll der Wahnsinn - so hatte ich die Sache noch nie betrachtet!
»Ich hatte echt Angst um dich«, sagte Ignaz, als wir später zu unserem Hochsitz gingen. »Ich hab ja nicht mitgekriegt, dass du plötzlich auf und davon gerannt bist. Erst als die anderen sagten, Nele hätte dich beleidigt, machte ich mir Sorgen.«
»Nele hat mich nicht beleidigt«, stellte ich richtig. »Sie hat meine Mutter erwähnt, sie hat sich entschuldigt und damit ist die Sache erledigt.«
»Warum musste sie sich entschuldigen, wenn sie dich nicht beleidigt hat? Kapier ich nicht.«
»Und ich kapier nicht, weshalb ihr euch alle immer in meine Angelegenheiten mischen müsst.«
»Alle?«, wiederholte Ignaz.
»Na ja, die meisten von euch.« Ich hatte keine Lust auf eine Diskussion über Liebes-, Freundschafts- und sonstige Küsse, über Emirs und meine Vergangenheit und über, ganz klar, Ignaz’ Eifersucht. Der Junge war eifersüchtig, daran bestand kein Zweifel. Wäre ich an seiner Stelle auch, gestand ich mir ein und betrachtete schuldbewusst das niedergetretene Gras vorm Hochsitz. Zum Glück war Ignaz kein Fährtenleser; er sah den Unterschied zwischen hohen und geknickten Grashalmen nicht, machte sich also auch keine Sorgen, sondern kletterte fröhlich die Leiter hoch. Als ich neben ihm saß, legte er den Arm um mich, zog mich an sich - und sofort begann mein Herz zu flattern. Es schlug nicht heftig wie bei Emir, das Flattern weckte eher zärtliche Gefühle, war aber sehr schön und sehr angenehm. Eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus, ich legte wieder die Beine auf die Brüstung und kuschelte mich an Ignaz. Ich war absolut und wunschlos glücklich. Ignaz roch nach würzigem Heu und ein bisschen nach der Kuh Anna, jetzt beugte er sich über mich, küsste mich … Leute, ich sagte es bereits: Ignaz’ Küsse sind zart und weich, sanft und innig - und doch voller Temperament und Leidenschaft. Sie sind anders als Emirs Küsse, aber nicht weniger schön, nein, ganz und gar nicht.
Der Wind, der von den Bergen herunterkam, bewegte die Tannenwipfel. Das Geräusch, das dabei entstand - sorry, absolut sorry, Leute -, ist nur mit einem superaltmodischen Wort zu beschreiben: mit Raunen. Es hört sich tatsächlich so an - und sieht auch so aus -, als ob sich die Tannen zueinander neigten, um sich leise in der Abenddämmerung zu unterhalten. »Hast du das Mädchen gesehen, diese Zippi?«, könnte die eine sagen. »Ist die nicht ganz und gar unmöglich? Mittags küsst sie ihren alten Heimatlover, abends liegt sie, ganz der harmlose Unschuldsengel, in den Armen ihres Ferienlovers. Das kann nicht gut gehen, oder? Was meinst du?« Und ihre Nachbarin-Tanne würde ihr zustimmen. »Meine Liebe, sie ist noch jung. Sie muss Erfahrungen sammeln. Aber wir alten Tannen wissen natürlich, dass sich das Unglück schon über ihrem Kopf zusammenbraut.«
Nun würde die Erste mitleidig tststs machen. »Wir wissen aber auch, dass auf Regen Sonnenschein folgt und manches, was als Unglück daherkommt, der Anfang eines großen Glücks sein kann.«
Himmel, dachte ich entsetzt, ich glaub, ich hab sie nicht mehr alle! Ich, Zippi, die mit beiden Beinen fest auf dem Alltagsboden steht, denke mir Tannengespräche aus!? Das hört sofort auf! Ich bin doch nicht fürs Ausdenken zuständig, die Rolle steht Cas zu, meinem zweiten Freund aus der Stadt!
Cas, mit vollem Namen Caspar-Friedrich von Feldthirsch, widmete mir seit Jahren seine Gedichte - pro Woche erhielt ich mindestens einen Packen voller Zeilen über Sehnsucht, Wehmut und Liebesleid. Allerdings gebe ich ohne Umschweife zu, dass ich fast nur die Anfangszeilen überfliege, denn immer Liebessehnsucht und Liebesleid sind auf die Dauer ziemlich ermüdend. Ich meine, es ist voll langweilig - obwohl ich natürlich weiß, dass Cas ein berühmter Dichter werden wird, weshalb ich auch alle seine Gedichte in alten, aber geschmacklich ansprechenden Schachteln aufbewahre. Die erste ist schon voll, was beweist, wie ernsthaft ich an Cas’ Talent glaube. Und wenn er dann mal als erster Dichter des Landes auf dem Siegertreppchen steht, komme ich ganz groß raus, ich, Zippi, seine große Liebe, die von Anfang an voll hinter ihm stand!
Seine Gedichte begannen immer ungefähr so:
Das Segel bläht sich im Wind
All meine Gedanken bei meiner Liebe sind …
Oder:
Möcht fliegen geschwind
Dorthin, wo die Berge sind …
Also, um es kurz zu machen, das romantische Denken werde ich Cas überlassen, ermahnte ich mich und widmete mich wieder Ignaz’ Küssen, die es wirklich in sich hatten und mich Emir vergessen ließen. Jedenfalls fast, würde ich mal sagen. Ich verstand mich ja selbst nicht. Ich dachte nämlich immer, man liebt einen Jungen, und damit basta. Die Tatsache, dass ich zwei liebte, ganz ehrlich und aufrichtig und ernsthaft, haute mich ja selbst aus den Schuhen, raubte mir meine Seelenruhe und bereitete mir vorm Einschlafen üble Sekunden voller Gewissensbisse.
»Zippi, du bist einsame Spitze«, flüsterte Ignaz in mein linkes Ohr.
Nicht schlecht, dachte ich und erinnerte mich an Cas’ Worte: »Zippi, du meine Wonne …« Also wenn Ignaz so weitermachte, würde er es bald mit Cas aufnehmen können. Der Gedanke brachte mich zum Lachen - und in genau diesem Augenblick hörten wir lautes Knacken und Krachen im Unterholz.
Wir fuhren auseinander, setzten uns aufrecht und sahen gerade noch - es war noch nicht vollständig Nacht -, wie die Rehe in wilden Zickzacksprüngen in den Wald stoben und eine Menge schwarzer Gestalten auf die Wiese stürmte.
»Wildschweine!« Ignaz schnellte vom Sitz. »Eine ganze Rotte! Mindestens …«
Zwei große Schweine und ein Haufen herumwuselnder kleiner wühlten grunzend, schnaubend und schnaufend die Wiese auf. Für uns oben auf dem Hochsitz klang das, als würden sie sich ein herrliches Feierabendvergnügen gönnen. »Das wird den Hubertus aber gar nicht freuen«, meinte Ignaz. »Seine Wiese so zu verschandeln! Und wenn die Tiere schon so nah ans Haus kommen, erschrecken sie uns die Kühe.«
»Haben die Tollwut?«, erkundigte ich mich. Nein, ich war nicht ängstlich, ich wollte es nur interessehalber wissen.
»Nö. Wie kommst denn darauf? So sind sie halt, die Wildsäue.«
»Gut. Trotzdem getraue ich mich jetzt gerade nicht auf die Wiese.«
Ignaz lachte. »Das machst du besser nicht. Es kommt immer wieder vor, dass eine Sau oder ein Eber wütend wird. Zippi, da gibt’s Geschichten, wenn du die hörst, stehen dir die Haare zu Berge.«
»Dazu brauche ich keine Wildschweingeschichten.« Ich glättete meine krausen Borsten, die, wie bereits mehrfach erwähnt, nicht zu meinen persönlichen Highlights gehören. Dabei fiel mir etwas ein, was mir das Herz zum Eisklumpen gefrieren ließ. »Mensch, Ignaz! Wenn nur Franzl und Marta den Säuen nicht übern Weg laufen!«
»Quatsch, der Weg ist doch …«
Wir sahen, wie eines der beiden großen Tiere, keine Ahnung, ob Eber oder Muttersau, mitten im fröhlichen Lauf erstarrte. Die Kleinen vergnügten sich noch ausgelassen, aber das große Tier - und nun auch das zweite - nahm, wie es in der Jägersprache heißt, Witterung auf, schnaubte und schnaufte und bewegte sich langsam auf den Hochsitz zu.
Das geschah vor unseren Augen. Hinter uns, da wo wir keine Augen hatten, hörten wir sehr, sehr rasche Schritte. »Seid ihr oben?«
»Das ist Franzls Stimme.« Ignaz beugte sich übers Geländer. »Beeilung! Macht schnell, die Schweine kommen!«
Da sahen wir, wie Franzl Marta vor sich die Leiter raufschob, er folgte schnellstens, und wenn das möglich gewesen wäre, hätte ich am liebsten die Leiter hochgezogen, so wie es die Ritter im Mittelalter bei der Belagerung ihrer Burg machten.
Glücklicherweise verloren die großen Tiere ganz schnell das Interesse an uns, spielten noch ein wenig Bodenaufwühlen, Herumkugeln, Davonrennen und Fangen, bis sie mit Karacho ins Unterholz tauchten.
»Wahnsinn!« Marta rieb sich die Arme. »Wir waren auf dem Weg zu euch, als wir das Schnaufen hörten. Da hat mich der Franzl am Arm gepackt und einfach mitgezogen. Ich hatte keine Ahnung, warum.«
»Gut, dass du nicht Zippi bist«, stellte Ignaz fest. »Zippi hätte sich losgerissen, wäre stehen geblieben und hätte wissen wollen, warum sie, verdammt noch mal, nicht so gehen darf, wie es ihr passt. Bis du es ihr erklärt hättest, hätten euch die Wildschweine umzingelt. Was sagt dir das, Zippi?«, wandte er sich zu mir. »Vertrau deinem Freund, auch wenn du einmal nicht verstehen solltest, was er von dir will.«
»Ich werd’s mir merken«, sagte ich sehr fügsam. »Wenn ich einem Rudel Wildschweine begegne, werde ich genau das tun, was du willst.«
Inzwischen standen die Sterne am Himmel und auch ein Stückchen Mond war schon sichtbar. Es war demzufolge nicht völlig finster, weshalb ich auch Ignaz’ Gesicht sah, als er leise fragte: »Ohne Wildschweine funktioniert das wohl nicht, was?«