Chaos am Himmel, Chaos im Herz
Wir fünf beseitigten das Chaos in der Küche. Marta schabte die Essensreste von den Tellern, Rosi stellte sie in die Spülmaschine, Yasmina schrubbte Töpfe, und ich machte mich nützlich, indem ich die gebrauchten Papierservietten und Zigarettenkippen in den Abfalleimer warf. Wir waren ein eingespieltes Team, arbeiteten zügig und hatten in fünfzehn, zwanzig Minuten eine blitzsaubere Küche.
Draußen war noch immer alles ruhig. Während Yasmina den Boden putzte, gingen wir ins Freie. Jetzt war der Himmel fast dunkelgrau, und obwohl von der Sonne natürlich nichts mehr zu sehen war, hing ein gelbliches Leuchten in der Luft, das, wie ich fand, eindeutig fies aussah.
Vereinzelte Windstöße rüttelten an den Bäumen und Büschen. Davon abgesehen war es aber noch immer totenstill - es war eine erwartungsvolle, ja atemlose Ruhe, die mich an den üblen Augenblick vor einer gemeinen Klassenarbeit erinnerte. Da herrscht in meiner Klasse auch so’ne gespannte Stille; man weiß, das, was einem jetzt bevorsteht, kann nur furchtbar sein.
»Tststs«, machten Gundi und Rosi und sahen sich bedeutungsvoll in die Augen. Yasmina rief aus der Küche, ob wir Appetit auf die zehn Paar Weißwürstl und Semmeln hätten, Kuchen sei auch noch übrig, und ob jemand den Tisch decken könne?
Marta und ich rannten sofort los. Weil der Himmel so dunkel war, war es auch in der Küche nicht besonders hell. Wir knallten Teller, Besteck und Gläser auf den Tisch, stellten Radler, Almdudler, süßen Senf, den Rest der Schlagsahne, die Kuchen und einen Korb Semmeln dazu und setzten uns erwartungsfroh. Mann, hatten wir einen Hunger!
Yasmina legte pro Frau zwei Paar Würste auf die Teller, ich griff nach dem Messer - und da! Ein Blitz erhellte die Küche. Gleichzeitig donnerte es so grauslich, dass mir das Blut in den Adern stockte.
»Jetzt geht’s los«, stellte Gundi fest, richtig schicksalsergeben klang das. Sie sprang auf, rannte in die Gaststube, kam mit einem Leuchter samt Kerze zurück und zündete sie an. »Jetzt …«
Wutsch!, ging das Licht aus. »Dachte ich mir’s doch, dass …«
Der Rest des Satzes ging in ohrenbetäubendem Wüten unter. Ein Blitz folgte dem anderen in atemberaubender Geschwindigkeit und die Donnerschläge waren wie ein einziger Trommelwirbel. Das war beängstigend. Aber das Schlimmste, das wirklich Angsteinflößende waren das Jaulen und Toben drau ßen. Der Wind heulte und warf sich so auf unsere Jägeralpe, dass ich dachte, im nächsten Augenblick pustet er uns das Dach weg, hebt die Läden aus den Angeln, drückt die Fenster und die Tür ein und schleudert die Tische draußen ins Tal.
Mit eingezogenen Köpfen saßen wir am Tisch.
Es ist ein komischer Zustand, wenn einem der Appetit abhandengekommen ist, obwohl man rasenden Hunger hat. Genau so ging’s mir.
Ich blickte auf die Weißwürstl, die wirklich lecker sind, aber um nichts in der Welt konnte ich sie essen. Schlimmer kommt’s nimmer, dachte ich - und atmete auf, denn mit einem Mal war es draußen ruhig. Ich griff erfreut nach Messer und Gabel, aber leider hatte ich mich getäuscht: Jetzt ging’s erst richtig zur Sache!
Ich hatte befürchtet, das Dach würde uns davongeblasen. Jetzt hatte ich irre Angst, es würde eingedrückt, denn der Hagel prasselte nur so darauf. Was heißt da prasselte? Es war, als würden Steine vom Himmel fallen!
Wir stürzten zu dem einen Fenster, dessen Laden wir absichtlich nicht zugemacht hatten - und sahen nichts. Buchstäblich nichts. Nichts als eine solide weiße Wand. Marta klammerte sich an mich, ich hielt mich an ihr fest, Yasmina hatte die Zeigefinger in die Ohren gestopft, Gundi und Rosi bewegten lautlos die Lippen.
Das Toben, Jaulen, Jammern, Pfeifen und Prasseln waren so schlimm, dass mir der Kopf zu platzen drohte. Marta ging’s genauso; sie presste die Hände an die Schläfen und jammerte leise vor sich hin.
Weil man weiß, dass man nichts, aber auch gar nichts tun kann, um dem Wüten ein Ende zu bereiten, fühlt man sich absolut hilflos. Den Elementen ausgeliefert.
Der Gefangenschaft preisgegeben.
Plötzlich schoss mir ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf. Was, wenn Ignaz und Franzl es nicht vor dem Sturm zu Zenza geschafft hatten? Aber, beruhigte ich mich gleich, wir hatten ja noch die Küche aufgeräumt. Das hatte gedauert, was bedeutete, dass sie garantiert im Haus waren, als das Wetter losging.
Aber was war mit Nele und … und mit Emir? Die waren später losgegangen. Nele war mit ihrer Krücke nicht die Schnellste, und so wie ich Emir kannte, würde er sie, nur um die eigene Haut zu retten, niemals im Stich lassen.
Rosi schien meine Gedanken gelesen zu haben. »Gundi, gut, dass du die Jungs und Nele rechtzeitig losgeschickt hast!« Sie musste richtiggehend schreien, damit wir sie hören konnten.
Gundi nickte. »Sie haben es geschafft! Aber die Leute, die von dem Wetter in den Bergen überrascht wurden …!« Sie verdrehte die Augen.
Wie lange der ganze furchtbare Spuk dauerte, konnte später keine von uns fünf sagen. Yasmina behauptete, es seien zwei Stunden gewesen, aber das war eindeutig übertrieben. Rosi schätzte den Hagel auf fünf bis zehn Minuten, Marta und ich enthielten uns jeglicher Meinung, weil es Zeiten gibt, die mit der Uhr nicht messbar sind. Manchmal wenn ich an Ignaz gekuschelt vom Hochsitz aus die Rehe beobachte, erscheinen mir zwei Abendstunden so kurz wie zehn Minuten. Dieser Albtraum von Gewitter dauerte uns, ob er nun ein paar Minuten oder zwei Stunden anhielt, entschieden zu lang.
Jedenfalls - nach dem Hagel kam erst mal nichts. Wir wagten uns an die Tür. An die Tür, Leute, nicht vor die Tür!
Rauszugehen war nicht ratsam; draußen lagen die Hagelkörner wadenhoch. Alles war weiß. Weiß wie im tiefsten Winter. Die Tannen bogen sich unter der Last, vom Gras war kein einziges grünes Hälmchen zu erblicken, unser Brunnen trug eine schiefe weiße Haube, das Wasser floss über, und Marta flüsterte: »Wenn wir heute gekommen wären, Zippi, hätte uns das Taxi noch viel weiter unten absetzen müssen. Der Bach wäre uns nicht einfach übern Weg gelaufen, der hätte uns direkt ins Tal geschwemmt.«
Ich nickte. »Und gesehen hätten wir auch nichts.« Man sah tatsächlich nichts von den Bergen oder vom Tal, denn jetzt setzte der Regen ein. Es goss in eine dicke Nebelsuppe. Die kam von dem vielen Wasser in der Luft.
Nach einem heftigen, aber kurzen Schauer ließ der Regen immer mehr nach, und auch der Wind hatte sich so gut wie ausgetobt. Aber kalt war es geworden! Echt affenkalt.
»Glück gehabt.« Rosi schloss die Tür. Wir zogen dicke Jacken an und setzten uns wieder an den Tisch. »Die Weißwürstl sind nicht mehr warm. Aber was macht das schon! Wir haben ein Dach überm Kopf und sitzen sicher in der Stube.«
Die Kerze flackerte ein bisschen. »Ich muss immer an die Leute denken, die es nicht mehr in ein Haus oder in eine Hütte geschafft haben.« Yasmina fuhr mit der Hand durch ihre kurzen schwarzen Stoppelhaare mit den feuerroten Spitzen. »Und wenn ich daran denke, wie leichtsinnig manche sind! Gehen ohne Anorak und feste Stiefel los …«
»Komm schon«, fuhr Marta auf. »Jetzt mal nicht den Teufel an die Wand! Jeder Depp hat doch gesehen, dass ein Gewitter kommen wird. Wer sich da nicht in Sicherheit bringt, ist selbst schuld. Funktioniert eigentlich das Gas? Ein heißer Tee wäre jetzt nicht schlecht.«
Wir auf der Jägeralpe kochen mit Gas, und weil sich das vom Sturm nicht hatte einschüchtern lassen, kochte Gundi Zenzas Kräutertee, der so wunderbar schmeckte und so herrlich wärmte, dass eine Kanne gar nicht reichte. Wir verzichteten auf die Würste, aßen Kuchen und Brot oder Semmeln mit Butter und Heidelbeermarmelade und beruhigten uns nach und nach. Eine überstandene Gefahr bringt den Appetit zurück, kann ich nur sagen, und wenn man keine Schäden zu beklagen hat, wächst er ins Riesenhafte.
Wir lobten uns gegenseitig, schließlich hatten wir vorausschauend an alles gedacht, hatten die Sonnenschirme, die Blumentöpfe und Geranienkästen in Sicherheit gebracht, hatten die Fenster und die Läden geschlossen, sogar das Stadelfenster verrammelt und …
»Da kommt jemand«, unterbrach Rosi unsere Aufzählung. Tatsächlich. Jemand rüttelte an der Tür. »Hallo! Hier ist’s aber dunkel!«
»Das ist Emir!«, schrie ich und rannte los.
Die Kerze flackerte wild, Rosi hielt sie hoch, sodass wir wenigstens ein bisschen was von Emir sahen. Das Wasser tropfte ihm von einem fremden Hut, die Jeans waren vor Nässe ganz dunkelblau, er trug einen Anorak, der ihm einige Nummern zu groß war, und Stiefel, die eindeutig nicht die seinen waren. Kurz, er sah unmöglich aus. »Euer Haustelefon funktioniert nicht«, sagte er und nahm den Hut ab. »Mensch, bei euch gibt’s was zu essen.«
»Setz dich«, forderte Rosi ihn auf.
»Aber erst wenn du die nassen Klamotten ausgezogen hast. Ich hab gerade die Küche gewischt.« Yasmina stand auf, um ihm Anorak und Hut abzunehmen.
»Geht nicht.« Er schielte aufs Essen. »Ihr müsst kommen. Ein Notfall.«
»Wusst ich’s doch«, jammerte Yasmina. »Jemand ist abgestürzt. Oder hat der Sturm das Dach von Neles Haus gerissen? Ich nehme an, du bist oben geblieben, weil du es nicht mehr zu Zenza geschafft hast.«
Emir nickte. »Nele und ich standen in dem Augenblick vorm Haus, als es zum ersten Mal blitzte. Ihr Vater sagte, ich soll bleiben. Na ja, da bin ich eben geblieben. Es war ziemlich schlimm, was?«
Wir nickten. »Was ist mit dem Notfall? Ist es das Dach? Eingedrückte Fenster?«
»Schlimmer.« Emir schielte so hungrig auf den Tisch, dass Gundi ihm eine dick mit Butter beschmierte Scheibe Brot reichte. Dazu holte er sich von meinem Teller die kalte Weißwurst. »Danke. Ich muss sagen, da oben im Haus ist’s ziemlich ungemütlich. Neles Vater denkt nicht an Essen, Nele hat keinen Appetit, und überhaupt …«
»Der Notfall«, erinnerte Rosi. »Sag schon. Was ist los?«
Emir seufzte. »Mitten im schlimmsten Hagel hat ein Mann die Tür mit den Fäusten bearbeitet. Wir sind raus. Klar. Er sagte …« Plötzlich verzog Emir das Gesicht, als wollte er im nächsten Moment losheulen. »Er hat sein Kind verloren. Ein fünfjähriger Junge ist’s. Stellt euch das vor! Der Kleine war allein in diesem Sturm!«
»Und das sagst du erst jetzt?«, herrschte Gundi ihn an. »Habt ihr die Bergwacht alarmiert?«
Emir nickte. »Wir haben’s versucht. Aber das Telefon geht nicht und mit dem Handy war’s auch nichts.«
Rosi sprang auf, griff nach ihrem Handy, sauste raus und rutschte in ihren dünnen Sandalen mitten durch die Hagelkörner rüber zum Empfangswinkel.
Während wir warteten, verdrückte Emir Brot und Wurst und trank meinen Tee.
Als Rosi zurückkam, warf sie das Handy auf den Tisch. »Nix zu machen. Kein Empfang. Wer kommt mit?«
Ich hätt’s mir ja denken können, dass Rosi nicht hier in der gemütlichen Küche bleiben würde. »Das hatten wir ja schon mal«, knurrte ich. »Ich zieh mich an. Marta, kommst du mit?«
Wenige Minuten später standen wir fünf neben Emir: in Anorak, mit Mütze, Schal, Handschuhen, dicken Socken und Bergstiefeln.
»Wo?«, fragte Rosi und teilte Taschenlampen und Trillerpfeifen aus.
»Irgendwo oberhalb von Neles Haus. Ihr Vater und der Vater des Kleinen warten auf uns.«
Inzwischen nieselte es; am Himmel zogen die Wolken ab, das fiese Gelb war verschwunden, dafür schienen die letzten Strahlen der Sonne durch eine kleine Lücke aufs Weiß. Vom Weg war natürlich nichts zu sehen. Wir stapften bergauf und brauchten für die Strecke doppelt so lange wie sonst, denn die Hagelkörner waren wie loses Eis - was es ja auch war.
Rosi und Gundi waren viel schneller als wir. Yasmina und Marta hielten sich an den Händen, keuchten und jammerten und Emir zog mich mit sich. Klar, er ist stärker und größer als ich.
»Blöd, dass Ignaz und Franzl nicht hier sind«, sagte er. »Die wären uns eine echte Hilfe.«
»Bin ich vielleicht keine Hilfe?«, brauste ich auf. »Du hättest mich erleben sollen, wie wir Anna, die Kuh, vom Fels retteten. Oder die Frau, die gestürzt war.«
»Weißt du, Zippi, wenn ich an den Kleinen denke, wird mir ganz übel«, gestand Emir. »Ich wollte dich echt nicht kränken.«
Weil ich so keuchte - durch knöcheltiefe Hagelkörner bergauf zu gehen, ist eine echte Herausforderung -, verzichtete ich auf eine Antwort. Stattdessen nahm ich mir vor, Emirs Oma Sevde einen lieben Dankesbrief zu schreiben. Ohne ihre Hartnäckigkeit hätte ich niemals Mütze, Schal und Handschuhe eingepackt. Und nun brauchte ich sie schon zum zweiten Mal. Da aller guten Dinge drei sind, erwartete mich also noch ein Abenteuer, dachte ich, dann standen wir vor dem Haus, in dem Nele mit ihrem Vater die Ferien verbringt.
In eine dicke Decke gewickelt, stand sie an der Tür. »Mein Vater und der Mann, der sein Kind verloren hat, sind schon los«, erklärte sie gerade Rosi und Gundi.
»In welche Richtung sind sie gegangen?«
Nele deutete mit dem Daumen nach oben.
»Haben sie Taschenlampen und Pfeifen dabei?«
»Wie?« Neles große Augen waren Antwort genug.
»Also nein.« Rosi dachte nach. »Wir machen es so. Gundi und Yasmina gehen in diese Richtung, Marta geht mit mir und Emir mit Zippi. Alle fünf Minuten verständigen wir uns mit den Pfeifen. Wer den Jungen findet, pfeift drei Mal sehr lange. Kapiert?«
»Wie lange suchen wir?«
»Bis es ganz dunkel ist«, entgegnete Rosi knapp. »Das dürfte Mitte August zwischen neun und zehn Uhr sein. Dir, Nele, fällt die wichtigste Aufgabe zu. Du alarmierst die Bergwacht. Das bedeutet, dass du dauernd prüfen musst, ob’s Telefon oder Handy wieder funktioniert. Hast du die Nummer?«
»Die finde ich heraus.«
»Weißt du, wie der Kleine heißt?«
»Benni.«
Ich war mir nicht sicher, was schlimmer ist. Allein im Haus zu sitzen und zu warten, oder sich durch eine zentimeterhohe Hagelschicht zu kämpfen.
»Servus«, sagte ich leise.
Wir stapften los. Zuerst folgten wir den Spuren im Hagel, dann teilten wir uns auf und bald sahen Emir und ich nichts mehr von den anderen. Zwischen vereinzeltem Gestein wuchsen hier oben keine Bäume mehr. Wir kämpften uns zwischen niederen Kiefern und struppigen Büschen hindurch, rutschten immer wieder aus, fielen auch oft und hofften doch immer, die Abdrücke kleiner Schuhe zu entdecken. Wir riefen »Benni! Benni, wo bist du?«. Alle paar Minuten pfiff Emir, wir hörten auch die anderen - aber nichts rührte sich, niemand antwortete.
Ich schwitzte, obwohl es wirklich lausig kalt war. Ob der Kleine wohl ausgerutscht und abgestürzt war? Oder ob er heulend und schluchzend auf einem Fels saß und seiner Rettung harrte? Wie lange dauerte es, bis ein Fünfjähriger erfror? Und warum hatte der depperte Vater nicht aufgepasst? Man verlor sein Kind doch nicht einfach; man hielt es an der Hand und beschützte es, zum Donnerwetter noch mal!
An manchen Stellen lagen die Hagelkörner knietief, an anderen waren sie schon fast weggetaut. Der Wind, der von den Bergen herunterblies, war sehr frisch, pustete aber nach und nach den dichten Nebel weg. Als nur noch vereinzelte Schwaden um uns drifteten, hörten wir einen langen Pfiff - und noch einen und einen dritten.
Erleichtert lachten wir uns an. »Benni wurde gefunden!«
Emir pfiff, um anzuzeigen, dass wir verstanden hatten. Ich schaute auf die Uhr; eine knappe Stunde hatte die Suche gedauert. Nicht schlecht - aber wer hatte ihn gefunden? Wo? Und in welchem Zustand war der Kleine?
All das interessierte mich brennend, weshalb ich mich sofort auf den Rückweg und dabei eine neue Erfahrung machte. Auf tauenden Hagelkörnern bergab zu gehen, war noch schwieriger als bergauf. Es war ein höllisch aufregendes, weil total rutschiges Unterfangen. Um auch nur einen geringen Halt zu gewinnen, musste ich die Stiefelabsätze fest in den Matsch rammen. Aber als ich einmal eine Wurzel übersah, haute es mich der Länge nach voll hin, ich glitt auf meinem Hosenboden wie auf einer Schlittenbahn bergab, griff hastig nach den Sträuchern, um mich daran festzuhalten, und sah mich schon unten im Tal - wenn alles gut ging und ich nicht an einem Fels zerschellte. Himmel aber auch! Zippi, du musst dich retten! Gib nicht auf! Du schaffst das!
Und ich schaffte es. Ich schaffte es, weil die Rutschbahn in einer Ansammlung von niederen Kiefern endete.
Sekunden später beugte sich Emir über mich. »Zippi, hast du dir wehgetan?«
»Nö. Ich hab nur einen mächtigen Schreck bekommen.«
»Und ich erst!« Emir half mir hoch, dann brach er ein Kiefernzweiglein ab, verstaute es sorgsam in der Tasche seiner nassen Jeans und klopfte drei Mal darauf. »Zur Erinnerung an Zippis Rutsch durch Hagelkörner.«
»Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen!«, fauchte ich. »Du machst dich wohl über mich lustig, was?«
»Im Gegenteil.«
»Was soll das heißen?«
»Zippi …« Emir sah in den nassen Jeans, dem geliehenen Anorak und dem abartigen Mützchen voll bescheuert aus; aber aus seinen Augen sprühten grüne Funken, die, wie man inzwischen weiß, den absoluten Schmelzfaktor meiner Knie bedeuten. Nur mit größter Anstrengung hielt ich mich aufrecht. Nein, ich sank Emir nicht Halt suchend in die Arme. Er liebte Nele, ich liebte Ignaz, und damit basta - oder etwa nicht?
»Schade«, murmelte er.
»Was ist schade?«
»Dass wir uns nicht irgendwo hinsetzen können.«
Also wirklich! Ich hatte fast das Eingeständnis seiner Liebesverirrung erwartet. Aber was hatte der Junge im Sinn? Eine Ruhebank - ganz wie ein alter Opi, der nach einem anstrengenden Weg seinen müden Knochen eine Erholung gönnen will. Nur gut, dass ich in Ignaz verliebt war; offensichtlich passte Emir wunderbar zu Nele, die sich ja auch gerne schonte.
»Auf geht’s! Schauen wir, dass wir endlich runterkommen.«
Emir hielt mich zurück. »Zippi.«
»Komm endlich, es wird dunkel.«
»Zippi …«
»Stimmt. So heiße ich.«
»Mensch, Zippi, immer wenn ich dir was Wichtiges sagen will, wirst du zickig.«
»Zickig? Ich?« Also wenn mich was garantiert auf die Palme bringt, dann der Vorwurf, ich sei zickig. Ich, Zippi, bin nie zickig! Ich hab eine eigene Meinung! Bei uns im Lande herrscht Redefreiheit, also sag ich, was ich denke, und wehe dem, der mich daran hindern will! Meine Meinungsäußerung hat absolut gar nichts mit zickig zu tun, jawohl!
»Hör mir doch endlich mal zu!«, flehte Emir. Echt, er flehte, er sagte das nicht einfach so dahin.
»O. K. Aber mach schnell. Meine Füße werden kalt.«
»Ist wohl doch nicht der richtige Moment für das, was ich dir sagen will. Besser, ich verschieb’s auf morgen.«
»Du hast gegackert. Jetzt sag schon, aber ein bisschen dalli!«
Er machte so hmhmhm und schaute mir tief in die Augen, wobei sich der Schmelzfaktor meiner Knochen eindeutig dem kritischen Zustand näherte.
»Zippi, ich hab einen Fehler gemacht. Den schlimmsten, deppertsten Fehler meines Lebens. Kann ich den wiedergutmachen?«
»Wie bitte?« Ich fühlte, wie mir ganz heiß wurde. Bestimmt ähnelte mein Gesicht einem Feuermelder.
»Worin besteht dein Fehler?«, erkundigte ich mich sachlich, dabei klopfte mein Herz wie rasend.
»Ich dachte, ich hätte mich in Nele verliebt. Das war ein Fehler. Ein Irrtum.«
»Aha.« Obwohl die Menge der grünen Funken, die aus seinen Augen hüpfte, dramatisch zunahm, hielt ich mich eisern auf meinen schwachen Beinen. »Was bedeutet das im Klartext?«
»Das bedeutet …« Meine Füße in den nassen Stiefeln wurden wirklich kalt. »Weißt du, eigentlich bist du daran schuld, dass ich den Fehler gemacht habe. Du hast dich zuerst in einen anderen verliebt.«
»In Ignaz«, bestätigte ich.
»Ja. In Ignaz.«
»Und?«
»Das hat mir ganz schön zugesetzt«, gestand er leise. »Verstehst du? Kaum warst du weg, hattest du einen anderen Freund. Ich fand das unmöglich.«
Ich schwieg.
»Stell dir doch nur vor, ich wäre in die Berge gereist und hätte ruckzuck eine neue Freundin gehabt. Das hättest du doch auch fies gefunden, oder?«
Ich wand mich, denn natürlich hatte Emir recht. »Stimmt. Aber …«
Meine kalten Füße hinderten mich am schnellen Denken. »Aber ich weiß nicht, ob ich nicht anders gehandelt hätte«, entgegnete ich schließlich.
Emir hob die Augenbrauen. »Was hättest du getan?«
Ich spürte, wie meine Füße immer tiefer in den aufgeweichten Boden sanken. »Garantiert hätte ich nicht die Hände in den Schoß gelegt und deine neue Freundin einfach so hingenommen. Noch weniger hätte ich mich dem erstbesten Jungen, der mir zufällig über den Weg gelaufen wäre, an den Hals geworfen. Nein, Emir, das hätte ich nicht getan. Ich, Zippi Hopp, hätte um dich gekämpft!«
So! Das musste mal gesagt werden! Meiner Meinung nach hatte er sich wirklich Nele an den Hals geworfen. Unüberlegt war das gewesen, total übereilt. Was hatte ihm das gebracht?
Nichts als Ärger für uns beide!
Ich ärgerte mich so über den Ärger, dass ich einfach davonrannte. Obwohl Steine und Gras inzwischen so gut wie hagelfrei waren, war infolge der Nässe alles furchtbar rutschig. Ich vertraute meinem Glück, hüpfte und sprang bergab - bis Emir hinter mir einen Schrei ausstieß. Ich bremste, so schnell mir das möglich war, und was sah ich? Emir hatte es gesetzt. Die Beine waren unter ihm weggeglitten, mit Karacho hatte es ihn hingehauen, sodass er wie benommen um sich blickte und gar nicht begreifen wollte, wie das in dieser Geschwindigkeit hatte geschehen können.
Kurz zuvor war er mir beim Aufstehen behilflich gewesen; nun war die Reihe an mir, ihm hilfreich meine zarte Zippi-Hand zu reichen. Was ich ohne zu zögern tat. Aber anstatt diese mit höflichem Dank zu ergreifen, meinte er vorwurfsvoll: »Eigentlich hättest ja auch du um mich kämpfen können.«
Kurzzeitig blieb mir die Spucke samt Sprache weg. »Nicht nötig«, sagte ich dann so richtig von oben herab. »Ich hatte mich ja in Ignaz verliebt.« Vor Zorn bebend, blitzte ich ihn an. Da, in genau diesem Augenblick, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Ich sah, dass seine Augen keine grünen Funken mehr sprühten, es leuchtete nicht mal der kleinste, bescheidenste Funke auf, nein - auf einmal waren Emirs Augen voll trüb. Ohne Licht. Ganz ohne Feuer. Blickten nur traurig und irgendwie auch sehr, sehr enttäuscht. Plötzlich fühlte ich mich echt mies und kapierte wohl zum ersten Mal überhaupt, was ich ihm angetan hatte: Da hatte der Junge den (vermutlich ungeliebten) Ferienjob im mütterlichen Gemüseladen geschmissen, hatte seine Sachen in einen schäbigen Rucksack geworfen, hatte sich an die Straße gestellt, den Daumen in die Luft gehalten und sich als Anhalter unter Missachtung aller damit verbundenen Gefahren bis ins Allgäu durchgeschlagen. Und wozu? Um mitten auf dem Burgberger Festplatz seine Zippi in den Armen eines anderen zu sehen, inklusive verliebtem Lächeln und wunderschönen Plastikrosen in mehrheitlich roter Farbe.
Das musste ihm einen furchtbaren Schock versetzt haben. Aber niedergeknüppelt hatte es ihn nicht; anstatt beleidigt nach Hause zu fahren, hatte er seinen Schlafsack in Zenzas Stadel ausgelegt, hatte sich erst mal beruhigt und die Verhältnisse abgecheckt. So weit, so gut. Trotzdem.
»Gleich am ersten Abend hast du dich aber in Nele verliebt.«
Er rappelte sich ohne meine hilfreiche Hand auf.
»Ich dachte, ich hätte mich verliebt«, erklärte er und tastete seinen Po ab. »Autsch! Voll auf die Knochen!«
Er verzog das Gesicht, griff nach meinem Arm und humpelte weiter. »Genau das, Zippi, war mein Fehler. Es war ein Irrtum.«
Was für ein übler Schlamassel!
»Nele liebt dich. Für sie sind deine Küsse etwas ganz Intimes.«
Er sagte nichts, bis wir vor der Tür des Ferienhauses standen, das Nele mit ihrem Vater bewohnt. »Und jetzt?«, fragte ich ihn.
»Über schlechte Zeiten darf man nicht jammern, sagt meine Oma Sevde immer. Man muss schauen, wie man sie ändert.«
»Welche schlechten Zeiten?«
Plötzlich waren seine Augen wieder voller grüner Funken. »Nun sei doch nicht so neugierig, Zippi!«
 
In dem ehemaligen Stadel, der jetzt ein gemütliches Ferienhaus ist, waren alle im Wohnraum versammelt. In dem großen, aus grauen Feldsteinen gemauerten Kamin brannte ein Feuer, davor saß, fest in dicke Decken gehüllt, ein weißgesichtiger kleiner Junge in einem riesigen Sessel.
Marta kniete vor ihm und hielt ihm eine Tasse an die Lippen. »Trink«, munterte sie ihn auf. »Dann wird dir gleich wieder warm.«
Irgendwer hatte Früchtetee gekocht; Neles Vater reichte uns zwei Becher, ich nippte daran und verzog das Gesicht. »Puh, ist der süß!«
»Ich hab ihn zubereitet. Schmeckt er dir nicht?«, fragte Nele besorgt.
»Wahrscheinlich wird er mir schmecken«, wich ich aus und nahm einen herzhaften Schluck. Und noch einen … und auf einmal war der Becher leer. Eifrig füllte ihn Nele ein zweites Mal. »Je mehr ich davon trinke, umso besser schmeckt er mir«, erklärte ich ernsthaft und fragte mich, warum meine Knie, nein, meine Beine weich wurden, wo doch Emir den Arm um Nele gelegt hatte und ich seine Augen und somit die grünen Funken darin nicht sehen konnte. »Was’n das für ein komischer Tee?«, murmelte ich.
»Tee?«, wiederholte Rosi, nahm mir die Tasse ab und kostete. »Das ist nicht der Tee!«, rief sie. »Nele, du hast Zippi Glühwein eingeschenkt!«
»Tee oder Glühwein … was macht das schon.« Meine Ohren waren voll mit Watte. »W… Wer hat den Kleinen gefunden?«, erkundigte ich mich, wobei meine Stimme überhaupt nicht so klang, wie ich es gewohnt war.
Gundi drückte mir ein Stück trockenes Brot in die Hand. »Zippi, stell den Becher weg, der Glühwein ist nichts für dich. Wir, Marta und ich, haben ihn gefunden. Nicht weit den Berg hinauf saß er auf einem Stein, der tapfere kleine Junge.«
»Aaaber warum hat ihn sein Vater vvverloren? Hat er denn nicht gggerufen?«
Emir und ich erfuhren, dass der Vater genau wie Emir und ich ausrutschte, ein Stück weit in die Tiefe sauste und von niederen Föhren und Gebüsch aufgehalten wurde. Zum Glück hatte er die Hand seines Kleinen losgelassen, somit rutschte er nicht mit dem Vater hangabwärts. Nicht auszudenken, was hätte geschehen können!
Der Junge rührte sich nicht vom Fleck, allerdings fand ihn der Vater im dichten Hagel nicht mehr. Er rief natürlich nach ihm, der Junge schrie sich auch fast die Lunge aus dem Leib, aber in dem Toben hörte keiner vom anderen.
Das machte Sinn. »Uuund wo ist jetzt der Vvater?«
»Er zieht sich um. Neles Vater hat ihm was zum Wechseln gegeben.«
Himmel, hatte ich weiche Knie! Ich setzte mich zu dem Kleinen und lehnte meinen Kopf an den Sessel.
Der Junge beugte sich zu mir herunter. »Ist dir schlecht?«
»Irgendwie schon.«
»Macht nichts. Gleich kommt die Bergwacht. Dann kannst mit uns ins Tal fahren.«
Na super! Als ob die Bergwacht das Summen in meinem Kopf abstellen und meine Beine gehfähig machen könnte! »Nele, dein Glühwein ist einsame Spitze«, sagte ich anerkennend. Plötzlich war alles so schön, plötzlich fand ich Nele wahnsinnig sympathisch, sie kochte den besten Glühwein der Welt und war mindestens so nett wie meine Marta.
Die klatschte mir gerade einen nassen, sehr kalten Lappen an die Stirn. »Zippi, wie kann man nur so unvernünftig sein und Glühwein in sich hineinschütten, als wäre es Wasser vom Brunnen!«
»E… es war Früchtetee. Weißt du was, Marta? Meine Füße waren eiszapfenkalt, aber schwups, hat sie Neles Glühwein-Tee warm gemacht. Ist doch toll, was?«
»Du hast einen Schwips, Zippi!«
»Ich hab’s doch nur gut gemeint, es war ein Versehen«, jammerte Nele gerade, da erschien die Bergwacht. Die Männer polterten ins Haus, berichteten, dass unten im Tal die Bäche über die Ufer getreten, jede Menge Bäume entwurzelt und viele Keller vollgelaufen seien und sie deshalb sofort die Vermissten einsammeln und zurückfahren müssten.
Bis Neles Vater und Rosi ihnen die Sachlage erklärt hatten, blieb die Haustür offen stehen, was mich in Kombination mit kaltem Lappen und trockenem Brot wieder normal denken ließ und die Watte aus meinen Ohren entfernte. Der Abend war wirklich empfindlich kalt und Zugluft ist absolut nichts für mich. Außerdem schämte ich mich. Wie konnte ich nur Früchtetee mit Glühwein verwechseln!
Ich rappelte mich vom Boden hoch und zog meinen Anorak an. »Ich geh jetzt auch.«
Sofort war Marta an meiner Seite. »Ich bin müde. Danke, nein, niemand muss uns begleiten. Wir finden den Weg allein.«
Aber davon wollte Emir überhaupt nichts wissen. Er bestand darauf, mit uns bis zur Jägeralpe und dann gleich weiter bis zu seinem Schlafsack im Stadel zu gehen. Das beruhigte Rosi, Gundi und Yasmina, die sichs, Glühweinbecher in der Hand, vorm Kamin gemütlich machten.
Vor der Jägeralpe küsste Marta ihre Fingerspitzen und legte den Kuss in Emirs Handfläche. »Den Gutenachtkuss gibst bitte meinem Franzl. Vergiss ihn nicht, hörst du?«
»Ich vergesse ihn bestimmt nicht, Ehrenwort«, versicherte Emir feierlich. »Was ist mit dir, Zippi? Willst mir auch einen Kuss für Ignaz mitgeben?«
Emir konnte manchmal so fies sein, dass ich ihn nur noch hasste!