Das Bad im Moorsee
An einem Abend besuchte uns Hubertus, richtete mir wie immer die Grüße meines Pas aus, der mich zwar ab und zu anruft, aber einfach keine SMS schicken kann. Dazu, findet er, sei er zu alt. Hubertus erkundigte sich nach der Zahl der in den Fallen getöteten Mäuse, hob anerkennend den Daumen und wünschte seinem Franzl weiterhin Waidmannsheil, worauf dieser wie immer artig Waidmannsdank sagte. Marta entlockte Hubertus das Versprechen, uns gegen Ende der Ferien nach Füssen zu fahren, damit wir endlich das herrliche König-Ludwig-Schloss besichtigen könnten, und ließ erst locker, als er ihr sein Ehrenwort gab.
Dann tat er noch ein bisschen geheimnisvoll, aber das nahmen wir alle nicht ernst; Hubertus liebt es, geheimnisvoll zu tun.
Ein Tag war schöner als der andere.
Natürlich wanderten viele Leute zu uns hoch, aber weil die drei von der Alpe ein eingespieltes Team waren und locker mit ihnen fertig wurden, planten wir einen Ausflug. Yasmina hatte uns von einem kleinen Moorsee berichtet, dessen Wasser sehr warm sei. Marta und ich wollten unbedingt baden; Ignaz, Franzl und sogar Emir sagten zu, und Nele meinte, wenn er mitginge, wäre sie auch mit von der Partie. Es wäre fies gewesen, Nele das Mitkommen zu verweigern; ich schluckte meinen Protest hinunter und knurrte etwas, was, wie ich hoffte, als Zustimmung durchging.
Wir packten also Bikinis und Badehosen ein, Handtücher und jede Menge Äpfel, belegte Brote sowie einige Flaschen Almdudler und wanderten am Donnerstagmorgen nach Burgberg.
Dort stiegen wir in einen Bus, fuhren bis in die Nähe des Sees und wanderten langsam (wegen Nele!) durch tiefgrüne Wiesen sowie durch ein Hochmoor. Eine Tafel informierte uns über die Besonderheit des Moors: Im Boden befindet sich eine wasserundurchlässige Schicht, was bedeutet, dass das Regenwasser nicht versickern kann. Da es im Allgäu sehr viel regnet, sammelte sich eine Menge Wasser an, in dem Binsen und Seggengräser wuchsen. Viele tausend Jahre lang wuchsen diese Pflanzen im Frühjahr und starben im Herbst ab, wodurch sich etwas entwickelte, was Torf genannt wird. Der Torf nahm immer mehr an Höhe zu, bis ihn das Grundwasser von unten her nicht mehr durchfeuchten konnte. Das Regenwasser nässte ihn natürlich von oben, wodurch die Bedingung für den Wuchs einer ganz besonderen Pflanze geschaffen war: für das Torfmoos.
Das Torfmoos wächst, wie der Name besagt, auf dem Torf. Es bezieht sein Wasser nur vom Regen und speichert es wie ein Schwamm. Als wir durch das Moor spazierten, gab der moosbedeckte Torf wie eine Schaumgummimatte nach. Das fanden wir witzig, sprangen hin und her (außer Nele natürlich) und drückten dabei Wasser aus dem Moos.
Die Wiese am See war aber trocken. Wir breiteten unsere Handtücher aus, und dann gingen die Jungs links und Marta, Nele und ich rechts in den Wald, wo wir unsere Bikinis anzogen.
Marta und ich sahen zum ersten Mal Neles Bein mit den vielen roten Narben. Nele sagte, das Rot würde im Lauf der Zeit weiß werden. Marta und ich hofften, dass das bald der Fall sein würde.
Obwohl es so warm war, badeten nicht viele Leute. Wir stärkten uns zuerst, dann rannten wir über einen Steg und hüpften ins Wasser. Das war fast lauwarm und so moorbraun, dass man keinen Zentimeter in die Tiefe blicken konnte. Die Jungs zogen uns an den Füßen unters Wasser, wir wehrten uns und packten sie und kämpften - sogar Nele machte mit!
Dann schwammen wir um die Wette. Das Ziel war eine hölzerne Plattform, die ein Stück weit draußen im See verankert war. Eigentlich hätte ich gewonnen, wenn Emir mich nicht kurz vorm Ziel überholt und meinen Kopf unter Wasser gedrückt hätte.
Franzl gewann, aber Emir hab ich’s gegeben! Als er auf die Plattform klettern wollte, zog ich ihn unter Wasser und hielt ihn fest, bis meine Arme schlappmachten!
Das Wasser war so warm und weich, dass wir ziemlich lange im See blieben.
Marta und Franzl schwammen als Erste ans Ufer und verschwanden im Wald und dann hatte auch Nele genug. Sie bat Emir, ihr am Ufer die Hand zu reichen.
Ignaz und ich plätscherten und planschten noch ein bisschen, dann schwammen wir zum Steg, gingen zu unseren Handtüchern und trockneten uns ab.
»Kommst mit?«, fragte Ignaz.
Weil Emir Neles Rücken mit Sonnencreme einrieb, folgte ich Ignaz, obwohl ich mich eigentlich lieber neben Emir gelegt und von der Sonne hätte aufwärmen lassen.
Ignaz fand ein sehr schönes, weiches, windgeschütztes und blickdichtes Plätzchen im Wald.
Kaum lagen wir auf den feuchten Handtüchern, knutschte Ignaz so sehr, dass ich mich überhaupt nicht mehr an meinen Ignaz-Fehler erinnerte. Leute, man kann nicht immer an alles denken.
Aus Ignaz’ Augen sprangen nicht wie bei Emir viele grüne Funken; trotzdem fand ich die Küsse schön. Er kitzelte mich mit einem Grashalm an der Nase, er fütterte mich mit dunkelblauen Brombeeren und sagte viele liebe Sachen.
Später sammelten wir gemeinsam Brombeeren, wir fanden sogar noch ein paar nicht komplett eingetrocknete Heidelbeeren, aber Leute, von Küssen und Beeren wird der Magen nicht voll.
Ich hatte richtig Hunger. Aber nicht nur das; ich hatte genug von Ignaz’ Küssen. Das kam so plötzlich, dass ich mich selbst darüber wunderte.
Ignaz war sauer. Zuerst fand ich den Weg zum See nicht, weil wir wirklich weit in den Wald hineingegangen waren. Als ich ihn endlich gefunden hatte, ging Ignaz an meiner linken Seite und beschwerte sich. »Ich hätte uns doch was zum Essen geholt, Zippi! Es hätte nur einen Augenblick gedauert! Du hättest nicht lange warten müssen, es …«
»Ich will aber nicht warten!« Ich eilte weiter, hatte fast das Ende des Waldes erreicht, sah schon die Wiese und den See - und zwischen niederhängenden Zweigen einen Zipfel in Pink. Neles Badetuch war pinkfarben.
Ich blieb stehen, gleichzeitig hob ich warnend die Hand. Ignaz und ich pirschten uns näher … und näher … und hörten Neles zarte Stimme. »Emir, ich werde meine Meinung nicht ändern. Küsse sind für mich etwas ganz Intimes. Dich küsse ich, nur dich …!«
Emir lag auf dem pinkfarbenen Badetuch, Nele beugte sich über ihn und küsste ihn zärtlich.
Mein Herz machte eine stressbedingte Pause. Autsch! Das tat weh! Hatte Emir nicht gesagt, er liebe Nele nicht? Hatte er nicht behauptet, er habe einen Fehler gemacht? Und nun das!
Nele streichelte Emirs Gesicht.
Ignaz prustete los.
Die beiden fuhren auseinander. »Ihr seid gemein!«, schrie Nele. »Ihr habt uns belauscht!«
»Ne, wir sind zufällig vorbeigekommen.«
Emirs Gesicht war knallrot, und ich fragte mich, ob er sich am Waldrand einen Sonnenbrand geholt hatte. Aber im Schatten holt man sich keinen Sonnenbrand, also musste es für Emirs rotes Gesicht eine andere Ursache geben.
Ich holte einen Almdudler und zwei belegte Brote aus der Picknicktasche, setzte mich auf den Steg und ließ die Beine ins Wasser baumeln. Die Sonne schien, das Wasser war warm und weich, ab und zu schnappte ein Fisch nach Luft, wodurch Wellenringe entstanden, eine Wespe setzte sich an den Rand der Almdudlerflasche, ich beobachtete, wie gut ihr die Limo schmeckte, und versuchte, mich an Ignaz’ Küsse zu erinnern. Es ging nicht. Immer sah ich Nele vor mir, wie ihre blonden Schnittlauchhaare Emirs Wangen berührten und … und … Ich ärgerte mich maßlos, dass er Nele nicht weggeschubst hatte!
Als Marta und Franzl wieder auftauchten, hüpften wir sechs noch mal ins Wasser.
Für mich war der Tag im Eimer.