Der dritte Lover!
Agesehen vom letzten Drittel des Moorseetags war die Woche voll in Ordnung. Das Wetter war angenehm, nicht zu heiß und nicht zu kalt, es gab kein Gewitter, keinen Regen und die Zahl der Wanderer war absolut erträglich.
Am Sonntag war Emir wieder verschwunden. Nele stellte den Stuhl am Weg auf, las und wartete auf seine Rückkehr. Das Abpassen ist, wie wir wissen, die perfekte Strategie, einen Lover zu vergraulen; ich war verdammt froh, dass ich Nele meinen Tipp Nummer vier verschwiegen hatte.
Unsere Vorräte reichten, selbst der Kartoffelsalat ging uns nicht aus. Nur der Apfelstrudel war schnell am Ende, weshalb wir den Gästen unseren Kirschkuchen empfahlen.
So weit, so gut. Am späten Sonntagnachmittag verließ Nele ihren Warteplatz am Weg, Gundi räumte die Küche auf, Rosi und Yasmina machten auf der Terrasse Ordnung, Marta, Franzl und Ignaz saßen auf der Bank an der Hauswand, und ich holte gerade Martas und meine Jacke aus der Kammer, weil es ein bisschen kühl war.
Da hörte ich den Motor eines Autos.
Inzwischen kannte ich natürlich den Sound von Hubertus’ Jeep, den vom Postauto und den der Bergwacht. Ich checkte sofort, dass es sich um ein fremdes Fahrzeug handeln musste, und lehnte mich aus dem Fenster.
Es war ein Taxi. Ein Taxi vor der Jägeralpe!
Sollte meine Ma die Karte bekommen und gehandelt haben? Meine Hände wurden feucht, mein Herz klopfte.
Ich beugte mich noch etwas weiter aus dem Fenster. Der Fahrer stieg aus, ging um das Taxi herum, machte den Kofferraum auf, wuchtete eine sehr schicke Reisetasche heraus, stellte sie ab, öffnete die Beifahrertür …
Das fass ich nicht!, dachte ich entsetzt. Cas!
Cas in Designerjeans und hellgelbem Kaschmirpulli! Braun gebrannt, mit sonnengebleichten Haaren!
Wo kam er denn her? Sollte er nicht an der Côte d’Azur Ferien machen? Im Meer baden? In der heißen Sonne braten?
Ich kümmerte mich nicht darum, dass Nele immer noch auf der Terrasse stand. Klar, das Mädchen ist nervig und neugierig, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen.
Ich rannte aus der Kammer. »Cas!«
»Zippi!«
Wir lagen uns in den Armen. »Warum bist du nicht in Frankreich?«
»Moment mal!« Er drückte dem Taxifahrer einen Geldschein in die Hand, sagte lässig »Stimmt so« und nahm mich ein zweites Mal in den Arm. »Wir sind gestern zurückgekommen. Habt ihr ein Zimmer für mich? Meine Eltern sind einverstanden, dass ich den Rest der Sommerferien hier verbringe.«
Am liebsten hätte ich wie Gundi »Allmächtiger!« gestöhnt. Ich verkniff es mir, denn Rosi, die hinter uns stand, fragte laut und vernehmlich: »Zippi, wie viele deiner Freunde dürfen wir noch erwarten?«
»Das ist Cas. Cas ist ein echter Freund«, klärte ich sie auf.
»Ist’s der, der dir immer die …«
Ich drehte mich blitzschnell um und legte den Finger an die Lippen.
Rosi verstand. »Aha. Na, dann kommt mal in die Küche.«
Ich sah, wie sich Nele in Bewegung setzte - natürlich nicht den Berg hoch! Verdammt noch mal!
Rosi hob hilflos die Schultern. Leider war ich der Situation auch nicht voll gewachsen. Ich sagte nicht: »Nele, ich will dich gerade nicht in meiner Nähe haben.«
Cas’ Ankunft hatte mich so überrumpelt, dass ich ihn einfach an der Hand nahm und hinter mir herzog.
Rosi setzte sich am Küchentisch ihm gegenüber. Sie ist die Chefin hier, sie muss wissen, was läuft, sie bestimmt, wo’s langgeht.
»Deine Eltern wissen, wo du bist?«
»Selbstverständlich«, antwortete Cas höflich.
»Aber sie denken, wir hier heroben hätten Gästezimmer zu vermieten?«
»Ja, das nehmen sie an.«
»Das stimmt leider nicht. Es gibt zwei Zimmer. In dem einen schlafen wir zu dritt, das andere belegen Marta und Zippi.«
»So etwas in der Art habe ich befürchtet. Ich habe die Karte des hiesigen Taxiunternehmens und werde mich eben täglich herauffahren lassen«, entgegnete er, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Das kostet aber«, sagte Marta sofort. Hilfe - meine Freundin ist einfach zu praktisch! »Warum willst du so viel Geld ausgeben? Hast du einen Schlafsack dabei?«
»Schlafsack?«, wiederholte Cas und runzelte die Stirn.
»Schlafsack«, wiederholte Marta. »Besorge dir morgen einen. Er kostet etwas, aber längst nicht so viel wie tägliche Taxifahrten.«
»Und was soll ich damit, Marta?« Mein Gott, sah der Junge schick aus! Er passte mit seinem hellgelben Pulli in unsere Küche wie eine Perle ans große Ohr der Kuh Anna. Gerade als ich das dachte, hörten wir, wie jemand draußen einen Pfiff ausstieß. »Das ist Emir!«, rief ich.
»Ist Emir etwa auch hier?«, erkundigte sich Cas.
»Ja«, gestand ich kleinlaut. »Er ist so unangemeldet aufgetaucht wie du.«
»Erstaunlich«, meinte Cas höflich.
Emir rieb sich die Augen, als er Cas auf dem Küchenstuhl sitzen sah.
»Wo kommst du denn her? Und was willst du hier?«
»Dasselbe wie du.« Cas reichte ihm die Hand. »Mir wurde es zu Hause zu langweilig.«
»Hast’nen Schlafsack dabei?« Emir grinste frech. »Hier kannst nämlich nicht nächtigen.«
»Das habe ich soeben erfahren. Wo bist du untergebracht?«
Emir grinste noch viel frecher. »Da wo’s dir nicht viel Spaß machen wird, denk ich mal.«
»Und wo ist das?« Cas war die Ruhe selbst.
Franzl räusperte sich. »In einem Stadel. Etwa eine Viertelstunde von hier. Wenn man zu Fuß geht. Emir und ich übernachten im Heu. Das ist kein schlechter Schlafplatz, wirklich nicht.«
»Klar. Er ist super«, ergänzte Emir. »Vorausgesetzt, man hat keine Angst vor den Mäusen.«
Cas’ Gesicht wurde um einige Schattierungen bleicher. »Da gibt es Mäuse?«
»Unzählige Mäuse sogar. Franzl stellt jeden Abend drei Fallen auf, und ich sag dir, Cas, alle drei sind morgens zugeschnappt: eine Nacht - drei Mäuse. Und das in jeder Nacht. Die Katze schafft’s nicht, sie auszurotten. Die Fallen auch nicht.«
»Wenn das so ist …« Cas schluckte. »Ich nehme die Herausforderung an. Morgen werde ich einen Schlafsack kaufen. Und Mausefallen. Wie viel Stück hältst du für sinnvoll, Emir?«
»Wie wäre es mit drei Dutzend? Oder vielleicht vier? Fünf, wenn du nicht willst, dass dir ein Tierchen übers Gesicht läuft.«
Cas schluckte wieder. »Fünf Dutzend also. Bleibt die Frage, ob ich heute im Dorf schlafen soll?«
»Das musst du nicht«, sagte Gundi schnell. »Wir geben dir ein paar Decken mit.«
Cas lächelte mich an. »Ich muss sagen, du und die Umstände, in denen du lebst, sind immer für eine Überraschung gut.«
»Das weißt du doch«, erwiderte ich verlegen. »Wie war es denn so an der Côte?«
Cas wedelte lässig mit der Hand. »Sehr ruhig, sehr ereignislos. Ich hatte viel freie Zeit.«
»Und da hast du deine Gedichte geschrieben?«, meldete sich Nele plötzlich zu Wort. Mir stockte das Blut in den Adern. Unser Geheimnis! Ich hatte Cas mein Ehrenwort gegeben, es niemandem zu verraten! Nicht mal Marta wusste davon! Am liebsten hätte ich Nele den Mund zugehalten. Dieses Biest musste aber auch immer Unfrieden stiften! Warum konnte sie nicht ein einziges Mal ihren Mund halten?
»Nele!« Ich beherrschte mich mühsam. »Du bist zufällig neben mir gesessen, als mir der Postbote Cas’ Briefe brachte. Und du warst’s, die sie mir ungefragt aus der Hand genommen hat. Ich habe dir nicht erlaubt, sie zu lesen!«
»Aber sie waren doch so schön«, hauchte Nele und riss wieder mal ihre großen blauen Kulleraugen auf. »Cas, als ich deine Gedichte las, musste ich fast weinen. Ich verstehe nicht, wie Zippi sie …«
Ich sprang vom Stuhl. »Du hältst jetzt aber den Mund!«, schrie ich sie an. »Immer musst du dich in Sachen einmischen, die dich nichts angehen!«
Neles Augen füllten sich mit Tränen. »Aber du hast ja selbst gesagt, dass du die Gedichte …«
»Es reicht, Nele«, sagte Rosi ruhig. »Zippi hat recht. Du mischst dich ungefragt und ungebeten in ihre Angelegenheiten. Sollen wir dasselbe tun? Sollen wir Cas gleich an seinem ersten Abend sagen, was mit deinem Bein geschehen ist? Würdest du das wollen? Nein? Siehst du.«
Verständnislos hatte Cas dem Wortwechsel gelauscht.
»Ich habe das Ehrenwort, das ich dir gegeben habe, nicht gebrochen, Cas. Bitte glaube mir!«, flehte ich.
»Cas, ich bewundere dich ja so sehr!«, hauchte Nele. »Jedes deiner Gedichte würde ich auswendig lernen. Das wäre das Ehrenwort, das ich dir geben würde.«
»Es reicht«, sagte Rosi zum zweiten Mal. »Wenden wir uns praktischen Dingen zu. Cas, du schläfst also mit Franzl und Emir in Zenzas Stadel. Die Frage ist: Hast du schon was gegessen?«
»Leider nein. Falls es Ihnen keine Mühe bereitet, würde ich gerne etwas zu mir nehmen«, entgegnete er charmant, was Gundis Herz komplett zum Schmelzen brachte. Sie stürzte zum Herd. »Geröstete Spatzen, Weißwürstl, Saitenwürste, Käse, Brot und Butter. Was hättest du gerne?«
Wir lachten, Cas wünschte sich Brot, Butter und Käse, und während Gundi die Dinge auf den Tisch stellte, sagte Rosi energisch. »Nele, du gehst jetzt zu deinem Vater. Keine Widerrede. Es ist spät. Gute Nacht.«
»Du schickst mich einfach fort«, klagte sie und humpelte leidend durch die Küche. Wenn ich am Vormittag nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie blitzschnell sie aufgesprungen war und ein paar Schritte machte, wäre ich vor Mitleid zerflossen. So aber war das der letzte Beweis für Neles überragende Schauspielkunst. Die Frage war nur, wie lange Cas brauchen würde, um das zu erkennen.