Unsere Mutter Theresa
Je näher wir der Jägeralpe kamen, desto besorgter wurden wir. Leute riefen und lachten und standen herum, Hunde bellten, Kinder heulten.
»Zippi, da ist was passiert.« Marta und ich rannten los. Ignaz gab Gas, hupte wild und überholte uns, und Franzl sowie Cas folgten schnellstmöglich.
Natürlich kam Ignaz als Erster an. Ich sah, wie er bremste, anhielt und sein Moped, ohne sich um Nele zu kümmern, an die Wand unter unserem Kammerfensterchen lehnte. Ohne männliche Hilfe schwang sich Nele vom Rücksitz, Marta und ich hasteten auf die Terrasse - was, Allmächtiger, war das denn?!
Ein überwältigender Duft nach Pfirsichen und süßen Mandeln schlug uns entgegen und raubte uns schier den Atem.
Und: Der Brunnen war verschwunden. An seiner Stelle erhob sich ein hübsches, plustriges, sich ständig veränderndes weißes Schaumgebirge, weißer Schaum quoll über seine Ränder und breitete sich auf dem Gras aus, weißer Schaum schlängelte sich über die Terrasse, zwei kleine Jungs in klatschnasser Kleidung bewarfen sich mit weißem Schaum, ein Mädchen versuchte, weiße Schaumbälle zu formen, was ihr aber nicht gelang, und Rosi brüllte auf einen Mann ein.
Yasmina und Gundi, ein Küchentuch über der Schulter und ein zweites in der Hand, versuchten, sie zu beruhigen. Vergeblich natürlich. Wenn Rosi mal so richtig in Fahrt war, hielten nichts und niemand sie auf.
Immer mehr Schaum baute sich auf, kippte und rutschte in langen Schlieren ins Gras. »Was ist passiert?«
Yasmina deutete wortlos auf den Schaum. Marta mit ihrem durch die Streiche ihrer Brüder geschärften Blick stöhnte auf. »Duschgel! Waschpulver oder … oder Haarwaschmittel im Brunnen! Allmächtiger!« Sie stutzte, machte auf dem Absatz kehrt und rannte ins Haus.
Gundi zeigte auf zwei Kids im Kindergartenalter, ein Junge und ein Mädchen waren es, und Rosi brüllte den Mann an: »Unser Brunnen ist verdammt noch mal kein Waschsalon!«
»Ich sag Ihnen doch, ich weiß nicht, woher sie das Shampoo haben!« Der Mann war groß, dick und hatte ein rotes Gesicht, das immer röter wurde. »Kinder haben Ideen! Die sind nun mal so!«
»Gut, dass Sie wenigstens das wissen! Und wenn Sie es schon wissen, ist’s Ihre Pflicht, Ihre Kinder im Auge zu behalten!« Rosi fuhr herum. »Woher habt ihr das Haarwaschmittel?« Das Mädchen steckte den Finger in den Mund.
Marta rannte aus dem Haus. »Mein Haarshampoo fehlt! Wart ihr im Bad? Habt ihr das Shampoo geklaut?«
Die Kleinen nickten und klammerten sich völlig eingeschüchtert an eine Frau, die vermutlich ihre Mutter war.
»Wieso seid ihr überhaupt ins Bad gegangen?«
»Ich musste aufs Klo«, sagte der Junge. »Meine Schwester musste auch.«
»Und?«
»Zuerst waren wir auf dem Klo. Dann haben wir das grüne Badezimmer gesehen.«
»Und an der Dusche das Shampoo?«
Die Kinder nickten.
»Warum habt ihr das mitgenommen? Was habt ihr euch dabei gedacht?«
»Wir wollten doch nur den Hund waschen«, piepste das Mädchen. Ihre Haare standen ihr in drei dünnen Pinselchen vom Kopf ab.
»Den Hund? Welchen Hund?«
Zwei ziemlich große Köter jagten den Schaum, der über die Wiese floss. »Welchen von denen habt ihr gewaschen?«
Der Junge trat von einem Bein aufs andere. »Keinen.«
»Wie - keinen?«
Er streckte den Finger aus. »Von denen war’s keiner.«
»Wo ist dann euer Hund?«
»Der war so glitschig wegen dem Shampoo. Der ist uns ins Wasser gerutscht.«
»Heißt das …?«
»Der ist im Brunnen.«
»Allmächtiger!« Gundi ließ das Küchentuch fallen, das sie in der Hand hatte, und raste los - wir anderen auch. Kaum schaufelten wir mit beiden Händen den Schaum beiseite, sah Marta auch schon, dass sich etwas Schwarzes mit den Vorderpfoten an den Brunnenrand klammerte. Sie hob ein triefendes Bündel aus dem weißen Gebirge und legte es ins Gras.
»Waldi!« Im Nu lagen und knieten die Kleinen um ihn herum.
»O je! Der lebt nimmer«, sagte einer der Umstehenden.
Das Mädchen warf sich schluchzend über das schwarze Etwas. »Waldi! Waldi, mach die Augen auf!«
Ich hob das Küchentuch auf, kniete mich zwischen die Kids und tupfte Waldis Schnauze trocken, plötzlich war Marta an meiner Seite, legte ihre Finger an den Hals des Hundes - ich nahm an, es war der Hals -, öffnete seine Schnauze, wischte den Schaum weg und blies in seinen Rachen - und da! Der Hund nieste. »Schnell! Ich brauch frisches Wasser!«
»Frisches Wasser …!« Yasmina rannte los und kam mit einem Eimer Wasser zurück, Marta tauchte den Hund hinein, wusch ihn, spülte Augen und Ohren aus und legte ihn dann behutsam ins Gras. In atemloser Spannung warteten wir, was sich tun würde … Wieder nieste der Hund, stand langsam und wie benommen auf, schüttelte sich, wobei die Tropfen natürlich in alle Richtungen spritzten, schüttelte sich wieder und wieder, und schließlich bellte er. Er bellte nicht richtig, es war eher ein Mittelding zwischen Krächzen und Jaulen, aber immerhin!
»Der Hund lebt«, stellte Marta erleichtert fest. »Zippi, reich mir das Tuch.«
Sie rubbelte den Hund ab, was er offensichtlich genoss, und siehe da, das schwarze Etwas verwandelte sich in einen Dackel. Genauer, in einen Rauhaardackel.
Die Kinder warfen sich über ihn, aber der Hund wand sich unter ihnen vor und sauste schwanzwedelnd und jetzt laut und arttypisch bellend über die Wiese.
Die Wanderer klatschten.
Marta stand auf und schon war Franzl an ihrer Seite. »Marta, ich liebe dich! Du bist …«
»… wie immer unsere Mutter Theresa.« Ich sagte das nicht spöttisch, sondern mit ehrlicher Bewunderung. Mann, meine beste Freundin hatte den Hund gerettet! Zweifach gerettet sogar: einmal aus dem Shampoobad und dann noch ein zweites Mal, indem sie ihm frischen Atem in den Rachen geblasen hatte! »Ich bin ja so stolz auf dich! Als Einzige von uns allen hast du das Richtige gemacht!«
Marta lächelte glücklich.
»So was hättest du im tollsten Feriencamp nicht erlebt!«
»Ich weiß«, entgegnete meine beste Freundin. »Ganz abgesehen davon, dass ich hier heroben meinen Franzl gefunden habe.«
Da nahm sie Franzl sofort in seine Arme, wieder klatschten die Umstehenden, und der, der kurz zuvor den Tod des Hundes prophezeit hatte, sagte: »Das junge Glück. Wie schön!«
Marta hatte den Dackel gerettet, aber noch immer steckte der Brunnen mitten in einem Schaumgebirge, das nicht so aussah, als würde es in absehbarer Zeit kleiner werden.
»Da kann man gar nichts machen«, stellte Ignaz fest, und Cas nickte weise. »Man muss warten, bis das aus dem Rohr fließende Wasser das Shampoo aus dem Brunnentrog gespült hat.«
»So? Man kann nichts machen?« Rosi fuhr herum und funkelte den Vater, die Mutter und die Übeltäter an. »Meine Herrschaften, man kann sehr wohl was machen! Yasmina, bringst du noch ein paar Eimer?«
Yasmina war fix und clever. Sie brachte nicht nur alle kleinen und großen Putzeimer, sondern auch die beiden Schüsseln, die Gundi zum Teiganrühren verwendet, und teilte sie aus. Die kleinen bekamen die Kinder, die großen die Eltern, und alle, die gerade in nächster Nähe standen, die restlichen Gefäße.
Rosi klatschte in die Hände. »Auf geht’s! Wasser ausschöpfen und mit Schwung auf die Wiese leeren!«
Sie wandte sich an die Kinder. »Los! Ihr macht mit!«
Mein Gott, war Rosi sauer! Sie hatte sich noch längst nicht beruhigt, obwohl Marta den Dackel gerettet hatte.
Schwer zu sagen, wer mehr schäumte: Rosi oder das Wasser. »Shampoo in meinem Brunnentrog! Ich hab ja schon allerhand erlebt, aber so was noch nicht. Da hört sich alles auf!«
Das fand ich auch. Wenn aber die Plastikflasche mit dem Shampoo noch im Brunnentrog lag und wenn sie noch nicht leer war, würde das nachfließende Wasser immer noch mehr Schaum produzieren, überlegte ich. Da gab’s nur eins: Die Flasche musste gefunden werden.
Ich tauchte beide Arme in den Schaum und ins Wasser. Es reichte mir bis zu den Schultern und war verdammt kalt, aber wenn Marta den Dackel gerettet hatte, würde ich wohl die Flasche finden. War ja ein Klacks, oder?
Und siehe da, schon schwamm mir was in die Hand - die Shampooflasche!
Triumphierend hielt ich sie hoch. Sie war so gut wie leer.
Ich sah, dass viele Wanderer Handys und Fotoapparate in den Händen hielten. Garantiert knipsten sie spaßige Bildchen, damit die Lieben zu Hause auch was zu lachen hatten.
Allmählich legte sich die Aufregung.
Die meisten Gäste widmeten sich wieder ihrem Essen und Trinken, manche bezahlten und machten sich auf den Weg, neue Wanderer trafen ein, und zufällig bekam ich mit, dass ein Auto den Berg herauffuhr, was aber nichts Ungewöhnliches war. Es kam schon mal vor, dass ein Wanderer schlappmachte, weil er seine Kräfte überschätzt hatte, und dann ein Taxi rief.
»Marta, du musst dir was Trockenes anziehen. Und du auch, Zippi«, sagte Franzl.
Er duldete keine Widerrede, er schob uns sogar ins Haus und versprach Marta, die sich nur ungern eine Sekunde lang von ihm trennte, unterm Kammerfenster auf uns zu warten. Ignaz beaufsichtigte die Schöpfarbeit, in Cas, das sah ich ganz genau, arbeitete es, er bewegte die Lippen: Die Geburt eines neuen Gedichtes stand uns bevor. Wie Cas es wohl nennen würde? »Der Dackel im Brunnen«? Oder »Schaumgeboren wie Aphrodite, die Göttin, entstieg das Tier dem Trog«?
»Wo ist eigentlich Nele?«, fragte Marta, als wir die nassen Jeans gegen trockene wechselten.
»Keine Ahnung. Die wird sich dünnegemacht haben. Du weißt doch, dass Arbeit nicht gerade ihr Ding ist. Mist, meine Sneakers sind patschnass. Ich muss Sandalen anziehen.«
Marta lehnte sich aus dem Fensterchen. »Franzl! Ich bin gleich fertig! Was macht der Schaum?«
»Sieht so aus, als würd … Was will der Typ von Nele?«
»Sprichst du von Cas?«
»Ne. Das ist ein Neuer.«
»Wundert dich das?« Marta blinzelte mir zu. »Zippi, Nele setzt offensichtlich wieder mal ihre blauen Wunderaugen ein.«
Wir hatten uns umgezogen und gingen ins Bad. Gerade als wir die Haare kämmten, hörten wir, wie jemand den Gang entlangrannte. Sekunden später wurde an die Badezimmertür getrommelt. »Mensch, wo bleibt ihr denn?«, rief Franzl. »Beeilt euch! Los, macht schon!«
»Warum?«
»Kommt!«
»Jetzt ist Nele in den Brunnen gefallen«, vermutete Marta.
Sie hatte nicht recht. Ganz und gar nicht.
Marta und ich stürzten ins Freie und stolperten fast über Franzl. »Das müsst ihr sehen«, sagte er hastig und zeigte auf die Terrasse. Dort, am ersten Tisch, saß Nele. Mit beiden Händen umfasste sie die Shampooflasche und lächelte ihr Gegenüber so richtig süß an. Der hielt eine Kamera vors Auge. »Gut so! Bitte noch mal … Ja, so! Und lächeln!«
Bevor wir der Sache auf den Grund gehen konnten, hatte Rosi die Szene erspäht. Sie schaltete schneller als wir drei, rannte los und war vor uns am Tisch. »Wer sind Sie?«, herrschte sie den jungen Mann an.
In aller Gemütsruhe reichte er ihr einen Ausweis.
»Waaas? Sie sind von der Allgäu-Post? Was wollen Sie und weshalb wenden Sie sich nicht an mich? Ich bin für die Jägeralpe zuständig.«
»Die junge Dame war so freundlich …«
»Die junge Dame wohnt nicht hier, sie ist nur zufällig anwesend. Also - was wollen Sie?«
»Ein hilfsbereiter Mitbürger hat mich benachrichtigt, dass ein paar Kinder den Brunnen vorm Haus als Waschzuber benutzt haben. Eine ganze Flasche Shampoo hätten sie zum Waschen ihres Hundes verwendet, was zu einer erheblichen Schaumbildung geführt hätte. Der Hund sei den Kindern aus den Händen gerutscht und in allerletzter Sekunde von einer zupackenden jungen Dame gerettet worden. So was interessiert unsere Leser. Mein Chef hat mich gleich heraufgeschickt, damit ich mir vor Ort ein Bild machen kann. Ich vermute mal, diese hübsche junge Dame hat den Hund gerettet.«
Nele lächelte. »In dieser Flasche war das Shampoo.«
Franzl war ein tapferer Junge. Unerschrocken war er seinem Vater entgegengetreten, als dieser seinem Sohn verbot, im Stadel der Jägeralpe zu nächtigen. Gut, Ignaz hatte den Vorschlag gemacht, Franzl könne ja seinen Schlafsack in Zenzas Stadel auslegen. Ich bin mir sicher: Hätte Ignaz nicht die rettende Idee gehabt, wäre Franzl täglich heraufgewandert. Und noch etwas: Franzl war mit drei Mausefallen im Rucksack angekommen, was beweist, dass er nicht nur tapfer, sondern auch tatkräftig war und sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen ließ. Jetzt hielt er Marta und mich zurück - wir hätten uns nämlich auf Nele gestürzt.
»Die Auskunft, die Sie von dem mir unbekannten Mitbürger erhielten, entspricht im Wesentlichen dem tatsächlichen Hergang. Ich nehme doch an, dass Sie der Wahrheit verpflichtet sind und auf eine einwandfreie Berichterstattung Wert legen?« Franzl sagte das so cool und souverän, wie Marta und ich das nie im Leben hinbekommen hätten.
»Allerdings«, bestätigte der junge Mann. »Sie waren dabei?«
»O ja. Als Zuschauer. Wer tatsächlich eingegriffen und den Hund, es handelte sich übrigens um einen Rauhaardackel, rettete und wiederbelebte, war Marta.«
Franzl würdigte Nele keines Blickes, sondern schob Marta nach vorn.
»Und das ist Zippi. Sie hat das Shampoo aus dem Trog gefischt. Das sind die zwei mit dem schnellen Durchblick.«
»Sehr gut! Das gibt den Aufhänger, die Überschrift also für einen super Artikel mit sagenhaft guten Fotos.« Er lächelte Rosi an: »Ich gebe Ihnen einen Tipp. Rechnen Sie morgen mit vielen Gästen.«
Und weg war der Mann. Wie er es schaffte, in null Komma nichts die Fliege zu machen, kapierten wir nicht. Wir sahen ihm fassungslos hinterher.
»Morgen sind unsere Bilder in der Zeitung«, sagte Nele stolz.
»Mir reicht’s für heute.« Rosi war noch immer sauer. »Am liebsten würde ich den Laden dichtmachen.«
Das ging natürlich nicht. »Du musst die lustige Seite sehen«, empfahl Franzl. »Im Grunde genommen ist ja nichts passiert.«
Das fanden wir auch, wiesen sie aber doch diskret darauf hin, dass ohne uns die Jägeralpe einfach nicht funktionierte.
»Ich weiß«, bestätigte Rosi. »Ihr hättet aufgepasst. Wärt ihr hier gewesen, hätten die Kinder nicht diesen Unsinn anstellen können. Warum haben die Eltern nicht aufgepasst?«
Auf der Terrasse war Ordnung eingekehrt. Nicht so in der Küche. Die Weißwürstel und Saiten waren aufgeplatzt, die Suppe übergekocht und die Kässpatzen angebrannt. Gundi stand jammernd am Herd und versuchte, dem Chaos Herr zu werden. Klar, dass wir ihr halfen!
Das Dumme war nur, dass wir unseren Besuch bei Zenza auf den kommenden Tag verschieben mussten. Als die Wanderer ins Tal gestiegen waren, schrubbten wir Töpfe.