Die Frage der Fernbeziehung
Zippi, du musst los«, sagte Marta später. »Ignaz wartet auf dich.«
»Ich weiß! Kann ich das Gespräch nicht auf morgen verschieben?«
»Versprochen ist versprochen. Wenn du heute kneifst, ist’s morgen doppelt so schwer.«
»Wer sagt das?«
»Ich«, entgegnete Marta schlicht. »Widerrede zwecklos.«
Es war Martas Brüder-die-Pflicht-ruft!-Ton, und ich wusste, ich hatte keine Wahl.
Als würde ich bald am Galgen baumeln, so niedergeschlagen schlich ich neben Ignaz zum Hochsitz.
»Zippi, was ist?«, fragte er. Wir saßen nebeneinander auf dem Brett, das als Bänkchen dient. »Ärgerst dich über den shampoonierten Dackel?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Über Nele?«
»Nein.«
»Über den Reporter von der Allgäu-Post? Über Emir, weil wir nicht wissen, was er tagsüber unternimmt?«
»Nein.«
»Dann weiß ich wirklich nicht, warum du den Kopf hängen lässt.«
»Ich habe Sorgen.«
»Echt? Welche Sorte Sorgen?«
»Ignaz-Sorgen sind’s.«
»Ich hab dir aber nichts getan.«
»Nein. Hast du nicht.«
Wir schwiegen und starrten geradeaus auf die Wiese. Die Rehe waren nicht da.
O. K., dachte ich schließlich. Wenn ich jetzt den Mund nicht aufmache, sitzen wir morgen früh noch hier. Besser also, ich bring’s hinter mich.
»Es ist doch so, Ignaz«, sagte ich leise. »Bald sind die Ferien zu Ende. Dann muss ich wieder nach Hause.«
Ignaz nickte. »Na und? Stuttgart liegt nicht am Nordpol. Und am Südpol auch nicht.«
»Aber ich bin weg und du bleibst hier. Daran ist nichts zu ändern.«
»Das wussten wir schon immer.«
Darauf ging ich nicht ein. »Es bedeutet, wir müssten eine Fernbeziehung führen.«
»O! Das macht mir gar nichts aus!«, rief Ignaz.
»Aber mir macht das was aus. Ich führe keine Fernbeziehung, Ignaz.«
»Das ist nicht dein Ernst, Zippi.«
Ich schwieg. Mein Vater, der Manager ist, hat mir nämlich eingebläut, dass in kritischen Fällen Schweigen mehr sagt als tausend Worte. Er hatte recht. In Ignaz arbeitete es. »Seit wann weißt du das mit der Fernbeziehung?«
»Seit ein paar Tagen denke ich darüber nach.«
»Zenza sagt, man kann nur über was nachdenken, wenn es dazu einen Grund gibt.«
Die Sache war schwieriger als befürchtet. Klar gab es einen Grund. Der hatte sogar einen Namen: Emir.
»Willst mir den Grund nicht sagen?«
»Es ist die Fernbeziehung.«
Ignaz stand auf und stellte sich an das schmale Brett, das als Brüstung diente. Der Hochsitz wackelte. »Quatsch, Fernbeziehung! Zippi, sei doch ehrlich. Du bist nicht mehr in mich verliebt.«
»Das stimmt nicht. Ich bin schon noch in dich verliebt.«
»Aber nicht mehr so richtig.«
»Ignaz, geh da weg! Das Brett hält nicht viel aus!«
»Mir doch egal. In wen hast du dich jetzt verliebt? In Cas? Das glaube ich nicht.«
»Es ist die Fernbeziehung«, beharrte ich.
Mit Emir kann ich diskutieren, bei Ignaz biss ich mir die Zähne aus. Ignaz weigerte sich, Fernbeziehung als Grund anzuerkennen, und beharrte dickköpfig darauf, ich müsse mich in einen anderen Jungen verliebt haben. Womit er leider völlig richtiglag.
Ich versuchte es auf einem anderen Weg. »Ignaz, ich will hier nicht übernachten. Und bitte lehne dich nicht an das Brett. Sag einfach, du verstehst mich. Versprich mir, dass wir Freunde bleiben.«
»Ich will dich nicht als Freund.«
»Genau das ist unser Problem!«, rief ich. »Einem Freund kann man mailen, man kann ihm Briefe schreiben, kann telefonieren, faxen und sogar Brieftauben oder eine Flaschenpost schicken. Eines kann man nicht. Man kann ihn nicht küssen. Verstehst du, was ich meine?«
»Willst du mich küssen? Nur zu!« Ignaz stieß sich ab - aber der kleine Stoß war genau das bisschen zu viel. Das Brett war morsch, es gab nach, es brach entzwei, der Hochsitz wackelte, schwankte sogar, Ignaz schwankte, mit einem einzigen Satz hatte ich ihn gepackt - und gerettet. Nein, er fiel nicht fünf Meter oder so in die Tiefe. Ich rettete ihn, indem ich ihn an den Hosenträgern festhielt.
Erwähnte ich, dass es ganz besonders hübsche Hosenträger waren? Wie die kurze Lederhose aus hellbraunem Leder gefertigt, mit einem Steg, den drei weiße Enzianblumen (aus weißem Leder) schmückten.
Klar, das Brett war futsch und nicht mehr zu retten. Doch was kümmerte Ignaz das Brett? Er rettete unsere Liebe. Er hielt mich fest und küsste mich, dass mir Hören und Sehen verging. Noch nie - mit gigantischem Abstand! - noch niemals in meinem dreizehnjährigen Leben war ich so geküsst worden. Seine ganze Liebe legte Ignaz in diese Küsse, und als er irgendwann nicht mehr konnte, flüsterte er: »So werden wir uns küssen, wenn wir uns fernbeziehungshalber nur selten sehen. Aber sag selbst, Zippi, sind es diese Küsse nicht wert?«
Meine Gefühle schwankten zwischen Ignaz und Emir wie der Hochsitz, als das Brett brach und Ignaz fast in die Tiefe segelte. Als mein Herz nicht mehr so wahnsinnig klopfte und mein Atem wieder einigermaßen normal nach dem Prinzip AUS-EIN-AUS-EIN funktionierte, standen die Rehe auf der Wiese. Ich hatte sie nicht kommen sehen, aber sie ästen so friedlich wie immer.
»Die Ferien sind noch längst nicht zu Ende.« Ignaz’ Stimme klang ein bisschen heiser. »Und vergiss nicht, Zippi. Im Herbst stehen die nächsten an.«
Ich dachte an den roten Schlafsack, an den Kauf der Mausefallen, an die 12 Berliner, das Aprikosen-Mandelshampoo, den Rauhaardackel, ans Schaumgebirge und an Nele, wie sie den Reporter angelächelt hatte. An die Töpfe mit dem angebrannten Essen dachte ich auch und sagte: »Bis dahin wird noch viel passieren.«
Später im Bett machte Marta mir schlimme Vorwürfe. »Was soll das Herumeiern? Du hättest Ignaz sagen müssen, dass du Emir liebst. Dann wäre die Sache klar, dann müsstest du dich nicht mit einem schlechten Gewissen herumplagen, dann hättest du noch ein paar schöne Tage auf der Jägeralpe. Aber so … Ach Zippi, du tust mir leid.«
»Ich tu mir ja auch leid. Aber weißt du, im Grunde genommen ist es doch nicht so schlimm. Die Tage hier heroben halte ich aus. Dann fahren wir nach Hause, zuerst mailen wir uns noch, die Mails werden weniger und weniger und irgendwann schlafen sie ein.«
Mit einem Ruck setzte sich Marta im Bett auf. »Du glaubst diesen Schwachsinn doch wohl selbst nicht, Zippi! Wenn Ignaz dich liebt - was er tut -, bleibt er dran. Solltest du dich mal nicht melden, fährt der Junge nach Stuttgart, steht vor deiner Tür und checkt, was Sache ist. Und noch was, Zippi. Emir ist nicht der Typ, dem du auf der Nase rumtanzen kannst. Emir wird dich fragen: Zippi, wen willst du eigentlich? Mich oder Ignaz? Was dann? Gib’s zu: Spätestens dann bist du so weit wie jetzt. Und dann ist da ja auch noch Cas. Du lieber Himmel!« Sie zog die Beine an und wiederholte, ich täte ihr leid.
Ich seufzte. »In der Liebe darf man eben nichts überstürzen. Du wirst diese Erfahrung auch noch machen, Marta.«
»Kann sein«, gab meine Freundin zu. »Aber wenn ich sie machen sollte, weiß ich wenigstens, dass ich zwei- oder dreifachen Liebesstress vermeiden muss.«