1.
Masochist auf Probe
Es schellte. Herr Pott lächelte und entließ die Studenten aus seiner Lateinstunde. „Vergessen Sie das Vokabellernen nicht, meine Damen und Herren. Wir schreiben in einer Woche einen Test.“
Kollektives Aufstöhnen. Auch wenn an der Akademie zur Steinburg Magie gelehrt wurde, gab es dennoch normale Fächer mit ganz normalen Prüfungen.
Sofie klappte ihr Buch zu und stand auf, um ihre Unterlagen einzupacken.
Neben ihr erhob sich Tyra. Sie stopfte ihre Sachen achtlos in die Tasche. Fröhlich schaute sie zu ihrer Freundin hoch und fragte in ihrem typisch schwedischen Akzent: „Und? Kommst du mit uns zum Essen in den Bungalow?“
Sofie schüttelte ihren Kopf. „Nein. Ich habe meine Fleecejacke vorhin im Labor vergessen und jetzt ist mir kalt. Die muss ich holen.“
„Hast du keine zweite im Zimmer?“
„Doch, aber die habe ich gestern mit Kaffee bekleckert.“ Sofie seufzte. „Und die anderen liegen alle in meinem Schrank zu Hause in Travemünde. Ich war noch nicht auf Herbst eingestellt.“
„Herbst? Der Oktober hat grade mal begonnen!“ Gabriellosch grinste. „Im August war dir auch kalt, sobald die Sonne nur mal kurz hinter einer Wolke verschwunden ist. Dir ist immer kalt, Phönix. Für einen Feuervogel bist du eine Frostbeule. Jemand wie du sollte umgehend den Klimazauber lernen.“
Sofie zog den Reißverschluss ihres Rucksacks zu und schnaufte: „Ja, hast recht. Steht ganz oben auf meiner Liste. Direkt hinter Gedankenlesen und Bilder empfangen.“
„Ärger sie nicht, Holzkopf!“, schalt Tyra ihren Gefährten und knuffte ihn grob auf den Arm.
„Wenn du aufhörst, mich zu kitzeln, vielleicht“, gab der rote Drache spöttisch zurück. „Außerdem kann man den Phönix mit so einer läppischen Stichelei gewiss nicht ärgern, nicht wahr Sofie?“ Er blickte um Bestätigung heischend zu ihr herüber
.
Sofie lächelte schief. „Nein, bestimmt nicht.“
„Du kommst aber zum Essen nach, oder?“, erkundigte sich Tyra.
„Ja, ich beeil mich. Fangt ruhig schon ohne mich an. Ich muss ganz bis zum Hochsicherheitslabor raus. Das ist ziemlich weit.“
Sofie zog ihre Regenjacke an und schulterte den Rucksack.
„Stimmt, du hattest erwähnt, dass Eliande das Labor gewechselt hat“, brummte Gabriellosch. Dann furchte er nachdenklich die Stirn. „Warum eigentlich?“
Die drei Freunde verließen gemeinsam den Kursraum in der Burg.
Sofie rollte genervt mit den Augen. „Ich habe vor ein paar Tagen beim Ableiten ein Loch in die Betonwand gesprengt. Da hielt Eliande den Umzug für sicherer.“
„Ach, die olle Laborwand hast du doch schon öfter malträtiert“, meinte Tyra. Ihr blonder Pferdeschwanz wippte munter auf und ab.
„Das schon“, ächzte Sofie, „aber es war das erste Mal, dass ich den Beton komplett durchschlagen habe.“
Die kleine Schwedin und der Rote schauten einander ungläubig an.
Sofie zuckte mit den Schultern. „Mann, ich weiß auch nicht... Seit dem Streit zwischen Jan und Xavosch vor zwei Wochen kann ich die Energie irgendwie besser fokussieren. Zosch – schon war das Loch da… und jetzt ist Eliande der Meinung, dass wir nicht länger unter belebtem Gelände trainieren sollten.“
Tyra blieb stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Moment mal, du legst das Labor in Schutt und Asche und erzählst uns nichts davon?“
Sofie verlangsamte ebenfalls ihre Schritte. Mit abwehrend erhobenen Händen drehte sie sich um. „Von Schutt und Asche kann keine Rede sein. Außerdem wart ihr beiden in den letzten Tagen anderweitig beschäftigt. Zumindest hast du nicht in deinem eigenen Bett geschlafen.“
Sofies Wangen liefen bei ihren eigenen Worten zartrosa an und straften die zur Schau gestellte Lässigkeit Lügen.
„Wo der Phönix recht hat, hat sie recht.“ Gabriellosch grinste anzüglich und zwinkerte seiner Gefährtin zu.
Tyra gab dem Drachen einen Luftkuss, beharrte jedoch in Sofies Richtung: „Ja, aber trotzdem…“
„Ach, Tyra“, unterbrach Sofie, „mir ist das peinlich! Du hättest mir
sofort alle Einzelheiten aus der Nase gezogen und dir den Schaden persönlich angeguckt, weil du die Erinnerungen in meinem Kopf ja nicht sehen kannst. Ich will einfach nur normal sein. Wenn das rauskommt, habe ich direkt den nächsten Spitznamen weg: «Bomber-Bird» oder so ein Schwachsinn.“
Gabrielloschs Augen funkelten lauernd. „Wie groß war denn das Loch?“
Sofie schloss die Augen und atmete geräuschvoll ein. „Also, gar nicht so groß. Was weiß ich – einen halben Meter vielleicht.“
Die Gefährten rissen synchron die Augen auf.
„Nun glotzt mich nicht so an“, schimpfte Sofie. „Genau aus diesem Grund habe ich die Klappe gehalten. Das hört sich krasser an, als es ist.“
„Das nenne ich einen hübschen Wumms, Bomber-Bird“, lachte der Rote und nickte bewundernd.
„Wumms? Hallo?!“, rief Tyra fassungslos. „Die Wände in den unterirdischen Laboren sind aus Stahlbeton.“
„Könntest du bitte etwas leiser reden?“, zischte Sofie und setzte sich wieder in Bewegung.
Die Gefährten folgten ihr.
„Sie reißt das Labor mit der schönsten Aussicht ab und sagt es uns nicht“, empörte sich Tyra leiser, aber für Sofie deutlich hörbar.
„So wild war das gar nicht“, murmelte Sofie über ihre Schulter hinweg. „Die Decke ist oben geblieben und die Wand hat sonst keine Risse bekommen. Eben nur das Loch…“
Tyra und Gabriellosch schlossen zu ihr auf.
„Ein glatter Durchschuss also“, staunte der rote Krieger, „das spricht für eine hohe Energie. Wow! Mich würde ja mal interessieren, ob du meinem Schild damit etwas anhaben könntest.“
Tyra grunzte: „Soll sie etwa auf dich feuern, oder was?“
„Eine reizvolle Idee, findest du nicht?“ Gabriellosch grinste fröhlich.
Tyra knuffte ihren Gefährten zum zweiten Mal derbe auf den Arm. „Du hast ‘nen Knall!“
„Was denn?“, entgegnete der Rote unschuldig. „Drachenschuppen sind hart.“
„Das ist Stahlbeton auch!
“
„Ich habe aber einen Schutzschild!“
„Du hast vor allem einen Sockenschuss“, meinte Tyra trocken. „Der Phönix wird nicht auf dich feuern. Basta!“
Sofie musste lächeln. Es verging kein Tag, an dem sich ihre beiden Freunde nicht kabbelten. Meist behielt die kleine Schwedin das letzte Wort, so wie jetzt.
„Und nun“, hob Tyra mitfühlend an, „sollst du jeden Tag in einem dieser Betonbunker weit hinten unter dem Acker ableiten? Ach, du Arme. Da fühlt man sich doch sicherlich eingesperrt, hmm?“
„So schlimm ist es nicht“, widersprach Sofie. „Der weiße Hoggi hat die Rückwand unseres neuen Labors gleich am ersten Tag mit einer Illusion der Oberwelt belegt, genau wie bei dem alten Labor: Windräder, Äcker, Hasen, Rehe und ab und an der Bauer, der das Feld bearbeitet.“ Sie seufzte. „Nur dass diesmal noch zwei Blaue mitgekommen sind und energieabsorbierende Permanent-Schilde auf meinen Feuerpunkt gelegt haben.“
Gabriellosch pfiff anerkennend. „Nicht schlecht. Wohin führen sie die Energie ab?“
„Keine Ahnung“, stöhnte Sofie. „Von mir aus können sie damit Zimtschnecken backen oder was auch immer.“
Ihr war das Thema lästig. Sie hatte sich bei dem Schuss furchtbar erschreckt. „Und dann das ganze Gewese hinterher… ätzend.“
Sofie wollte keine Extrawurst, aber gleichgültig was sie auch tat, sie bekam ständig eine serviert.
„Zimtschnecken sind ein gutes Stichwort!“ Tyra schaute aufmunternd zu ihr hoch. „Was hältst du davon, wenn der Kommandant und ich welche für uns alle zum Nachtisch holen?“
Sofie nickte dankbar. Tyra hatte verstanden. Sie würde nicht länger auf der Geschichte rumreiten.
Wenig später lief Sofie die Treppen zum Tunnel hinab. Die Hochsicherheitslabore befanden sich zum Schutz von Mensch und Drache nicht auf dem Gelände der Akademie, sondern tief verborgen im Marschboden eines westlich gelegenen Ackers. Selbstverständlich ahnte der Landwirt nichts davon, was sich zirka zehn Meter unterhalb seines
Weizens abspielte. Die Speziallabore waren mit allerhand magischen Raffinessen ausgestattet, wozu unter anderem auch Geräuschreduktoren, Erschütterungsdämpfer und Explosionshemmer gehörten. Sogar für hochenergetische Zauber reichten diese Maßnahmen aus, so dass hier die mächtigen Schilde der Blauen getestet werden konnten. Ein ausgeklügeltes Belüftungssystem sorgte dafür, dass selbst nach Bränden immer genügend Atemluft vorhanden war. Erreichen konnte man den Gebäudekomplex über drei lange Tunnel. Sie waren so angelegt, dass, selbst falls einer verschüttet wurde, immer noch zwei Alternativen einen sicheren Ausweg garantierten.
„Alles in allem will ich mich nicht beschweren“
, dachte Sofie, während sie in den kürzesten dieser Tunnel einbog, „das einzig wirklich Lästige ist die ewige Lauferei und die Dunkelheit.“
Die Gedankenmuster-Bewegungsmelder reagierten bedauerlicherweise nicht auf ihren Geist und so fummelte Sofie ihren Schlüsselbund aus der Hosentasche. Jan hatte ihr eine Mini-Taschenlampe als Anhänger geschenkt, die ihr gute Dienste leistete. Ausgestattet mit WyvernPowers langlebigen PowerPills würde sie selbst bei Dauergebrauch ungefähr drei Jahre leuchten.
Der Lichtkegel der kleinen Lampe vertrieb das mulmige Gefühl aus Sofies Bauch.
„Trotzdem hätten die hier ruhig mal ein paar Kabel verlegen und Neonröhren an die Decke schrauben können.“
Sofie seufzte innerlich. „Magischen Schnickschnack bis zum Abwinken, aber sowas wie ein simpler Lichtschalter fehlt.“
„Wozu sollten die hier Lampen und Lichtschalter brauchen?“, erkundigte sich ihr Verstand stumm. „Du bist das einzige Wesen, dessen Gedankenmuster nicht von den astralen Scannern erfasst wird. Selbst Lichtlose wie Jan lösen den Zauber aus.“
„Ich aber nicht.“
„Nein, du bist ein Einzelfall, der im Übrigen zur Bauzeit nicht bekannt war. Wir Menschen schrauben doch auch keine Fackelhalter an die Wände, nur für den Fall, dass irgendein Sonderling irgendwann mal gegen elektrischen Strom allergisch sein könnte, oder?“
„Grumpf. Auch wieder wahr.
“
„Was bist du auch so dusselig und vergisst deine Jacke?“, spottete ihr Verstand. „Gabriellosch hat recht, dir ist immer kalt, warum ziehst du sie überhaupt aus?“
„Weil sie seit Neuestem nach dem Feuern immer so angeköselt an den Ärmeln riecht. Außerdem wird mir heiß, wenn ich mich aufrege und beim Ableiten rege ich mich nun mal auf!“
„Herz über Kopf. Das ist noch nie gut gegangen.“
„Laberrhabarber.“
Sofie schnaubte und beendete den inneren Monolog. Ihre Emotionen hatte sie seit dem Tod ihrer Eltern eine halbe Ewigkeit unterdrückt. Sie musste erst wieder lernen, das Gleichgewicht zwischen den beiden Facetten ihres Ichs herzustellen. Eliande hatte ihr prophezeit, dass das ein langer Weg werden würde.
„Ein langer, finsterer Weg wie dieser endlose Tunnel“, brummte sie. „Na, endlos ist er nicht – sind ja «nur» 500 Meter, aber mir reicht’s.“
Sofie holte tief Luft und schritt kräftig aus. Nach geschätzten 400 Metern gab die Taschenlampe plötzlich ein leises Zischen von sich. Dann wurde es zappenduster.
„Mist.“
Sofie schüttelte die Lampe und klopfte auf das Gehäuse. Es tat sich nichts. Offenbar war die LED durchgeschmort.
„Heute ist echt nicht mein Tag“, schnaubte sie und drehte sich um.
„Umkehren ist sinnlos.“
Die Dunkelheit um sie herum wurde drückend.
„Stehenbleiben auch.“
Also blieb nur eines: selbst Licht machen und vorwärts.
„Ach, Scheiße! Warum habe ich ausgerechnet heute mein Smartphone im Zimmer liegenlassen?“
Genervt öffnete Sofie ihre Meridiane. Sie nahm Energie aus der Umgebung auf, öffnete ihre Handfläche zur Decke hin und erzeugte darüber eine blassblaue Feuersäule. Eigentlich hätte die Säule ein kleiner Ball sein sollen, aber das bekam sie nicht hin.
„Grumpf, wenn ich das die nächsten zwanzig Minuten machen muss, habe ich garantiert eine Brandblase. So’n Schiet! Hoffentlich sind in den Laboren nicht schon alle zum Mittagessen gegangen.
“
Bereits nach 50 Metern kribbelte ihre Haut unangenehm.
„Es nützt nichts – ich werde Pausen einlegen müssen.“
Auf einmal hörte sie Schritte. Unverhofft flackerte das magische Deckenlicht auf und erhellte im nächsten Augenblick den kompletten Gang.
„Da kommt jemand aus den Laboren. Sott gehabt!“
Sofie drosselte die astrale Energie und atmete auf. Ihre Handinnenfläche fühlte sich unangenehm heiß an und spannte. Seufzend blieb sie stehen und besah sich den Schaden. Die Haut war gerötet.
Währenddessen wurden die Schritte lauter. Eine Person bog in den Tunnel ein.
Sofie pustete auf ihre Hand und schaute beiläufig hoch.
Blaue Jeans, weißes Hemd.
Xavosch.
„Mist!“
Ertappt schloss Sofie ihren Mund und ließ die Hand sinken.
In diesem Moment erkannte der Lichtmeister sie. Warmes Glück explodierte in seiner Aura. Sofie kam sofort ein buntes Korallenriff in den Sinn: fröhlich, überschäumend vor Leben, wunderschön.
Im nächsten Atemzug erstarrte der Drache. Er zwang seine Gefühle hinter einen Eispanzer, doch seine verzehrende Sehnsucht leuchtete darunter hervor.
Sofie schluckte. „Er will sich nichts anmerken lassen, aber er leidet! Und das nicht zu knapp.“
Hölzern wandte Xavosch sich um. Obwohl es einen Umweg bedeutete, schien er einen anderen Tunnel nehmen zu wollen.
„Na sicher“, mischte sich die Margareta in Sofie ein. „Er hat ja auch versprochen, Jan und dir aus dem Weg zu gehen.“
Sofie spürte, wie viel Kraft den Blauen allein das Umdrehen kostete. Er wollte sich nicht von ihr entfernen. Es war, als würde er magnetisch von ihr angezogen. Dennoch befahl er seinen Beinen mit übermenschlicher Disziplin, sich von ihr wegzubewegen.
Ohne nachzudenken machte Sofie einen Schritt auf Xavosch zu. „Nicht. Das ist doch albern.“
Hoffnung schmolz Löcher in seinen Eispanzer. Der Drache erstarrte ein
zweites Mal und drehte sich zögernd zu ihr um.
Er war groß und gutaussehend, allerdings wirkte seine helle Haut noch blasser als sonst und seine blauschimmernden schwarzen Haare bildeten einen harten Kontrast dazu.
„Ungesund. Irgendwie ausgezehrt“
, stellte Sofie mit schlechtem Gewissen fest. Aer und Lenir, die Kommandanten der Wölfe, hatten ihr erzählt, dass Gefährten, deren Bindung nicht voranschreiten konnte und die sich trotzdem in räumlicher Nähe ihres Partners aufhielten, zu einer tickenden Zeitbombe wurden. Dünnhäutig, unkonzentriert, aggressiv, unglücklich – so ließ sich der Zustand beschreiben. Genau das fühlte Sofie, als sie den Lichtmeister betrachtete. Er drohte, sein inneres Gleichgewicht zu verlieren.
„Eine Bindungsphase zieht sich angeblich über Monate oder Jahre hin. Ich hätte nicht erwartet, dass man ihm das so schnell anmerkt.“
„Ach nein?“, entgegnete Margareta spöttisch. „Wenn das astrale Potenzial der Partner entsprechend hoch ist, geht es schneller. Das haben die Wölfe zumindest behauptet. Er ist ein Meister des Lichts, und du? Denk mal an das Loch in der Laborwand und hör auf dich zu wundern.“
Xavosch gab sich äußerlich ruhig, doch Sofie konnte er nichts vormachen, dazu war seine Aura viel zu aufgewühlt. Zweifellos verspürte der Drache das drängende Verlangen, ihr nahe zu sein. Der Schmerz, es nicht zu dürfen, zerrte an seinem Herzen. Er liebte sie.
„Aber ich liebe ihn nicht! Ich liebe Jan.“
Sofies Finger wanderten automatisch zu dem Ring, den ihr Freund ihr vor zwei Wochen geschenkt hatte. Der als Blüte eingefasste zartblaue Ostseekiesel passte perfekt zu der Kette mit den Steinen ihrer Eltern. Jan hatte ihn ihr höchstpersönlich angesteckt und sie hatte ihn seitdem nicht wieder abgenommen. Sofies Mundwinkel zuckten. „Kein Verlobungsring, sondern ein Vertragsabschlussbonus für das Eingehen einer Interimsbeziehung mit ihm. Der Antrag war so typisch für meinen Spacken!“
Nein, sie liebte Xavosch nicht. Kein Stück. Doch er tat ihr leid. Sehr sogar. Er hatte sich die Bindung zu ihr nicht ausgesucht. Im Gegenteil! Es war grade mal zwei Monate her, da hatte der blaue Drache die ganze Menschheit bis aufs Blut gehasst und gemieden, wo es nur ging. Aber seit er Gefährte war, hatte sich alles für ihn geändert. Seit ein paar Wochen
knüpfte er sogar vorsichtige Bande zu den Kommilitonen und versuchte, die Menschen zu verstehen. Nach ihrer ersten Begegnung war das mehr, als Sofie ihm in hundert Jahren zugetraut hätte.
Und jetzt stand der Meister des Lichts 50 Meter entfernt am Ende des Tunnels, verzehrte sich vor Sehnsucht nach ihrer Nähe und wagte es nicht, ihr auch nur einen Schritt entgegenzugehen. Seine Aura schien wie abgestorben, denn er unterdrückte alle Emotionen.
„Dabei war das Korallenmeer so schön“
, durchzuckte es Sofie.
„Verräterin!“, zischte Margareta.
Unvermittelt rutschte Sofie der Schlüsselbund aus der Hand und fiel zu Boden. Metall klimperte.
Xavoschs Blick folgte dem Geräusch. Die Taschenlampe leuchtete nicht. Überrascht hob er eine Augenbraue und fixierte für eine Sekunde die Hand, mit der Sofie den Feuerball erzeugt hatte.
„Ist dein Licht kaputt?“, rief er zu ihr rüber. Seine Stimme klang rau.
Sofie nickte und ging auf ihn zu. „Vor zwei Minuten hat das Teil den Geist aufgegeben.“
Der Blaue schnaubte: „Ich dachte, der Karfunkel hätte das Gerät mit seinen PowerPills vollgestopft. Die sollen doch ewig halten. Angeblich.“
War das Schadenfreude, die da in seiner Aura aufglomm? Oder Spott?
Sofie zuckte mit den Achseln und lief weiter auf ihn zu. „Die Batterien sind weniger das Problem. Ich fürchte, die LED ist durchgeschmort.“
Der Drache rührte sich noch immer nicht von der Stelle. „Darum konnte ich das Licht nicht spüren.“
„Was?“ Sofie runzelte perplex die Stirn. „Du kannst meine Taschenlampe wahrnehmen? Wie machst du das denn?“
„Nicht die Lampe, nur ihr Licht.“ Xavosch lächelte verhalten. „Weißt du, dein Gedankenmuster kann ich nicht sehen, aber das Licht dieser Lampe, das erkenne ich. Es hat eine besondere Wellenlänge. Hätte ich geahnt, dass du hier bist, hätte ich einen anderen Tunnel genommen.“ Er deutete eine entschuldigende Verbeugung an.
Sofie war nur noch wenige Meter von dem Drachen entfernt. In seiner Aura konnte Sofie deutlich lesen, dass er die Begegnung mit ihr genoss.
„Meinetwegen musst du das nicht tun“, sagte sie.
Xavosch hob fragend eine Augenbraue
.
„Einen Umweg gehen“, erklärte Sofie. „Um ehrlich zu sein, bin ich sogar froh, dass du hier bist.“ Sie zeigte ihm ihre gerötete Handfläche und grinste schief. „Ich kann die Energie nicht richtig dosieren. Ohne dich hätte ich eine Brandblase oder müsste im Dunkeln durch die Gegend stolpern.“
Der Blaue schluckte aufgewühlt. „Wenn das so ist, begleite ich dich selbstverständlich. Das heißt, falls du es möchtest.“
„Danke.“ Sofie schaute unsicher zu ihm auf. Er war eine Handbreit größer als Jan, seine Augen schimmerten blaugrün und geheimnisvoll wie das Meer. „Aber… ist das keine Zumutung für dich?“
Xavosch brummte verächtlich: „Ich wäre ein schlechter Lichtmeister, wenn ich jemanden hilflos im Dunkeln stehen lassen würde, oder?“
„Das stimmt wohl.“ Sofie lächelte. „Trotzdem, ich könnte es verstehen.“
Der Blaue runzelte verwundert die Stirn. „Wieso?“
„Ich…“ Sofie brach ab. „Zu viel Ehrlichkeit ist taktlos!“
„Blödsinn“, knurrte ihr Verstand. „Gerade ihm gegenüber ist Ehrlichkeit der einzige Weg. Er darf sich keine Hoffnungen machen. Er sollte wissen, woran er bei dir ist. Je öfter er die Wahrheit aus deinem Mund hört, umso besser.“
Xavosch ließ sie nicht aus den Augen. Er war nervös, dennoch wartete er geduldig.
„Ich…“, hob Sofie erneut an, „also, ich kann spüren, wie es dir geht. Darum weiß ich, wie sehr dich unsere Begegnung … mitnimmt.“
Schweigen.
„Mitnimmt?!“
, stöhnte Sofie stumm. „Alter! Das trifft es nicht mal ansatzweise. Verdammt, warum ist es so schwer, die richtigen Worte zu finden?“
Der Drache sagte nichts. Er kämpfte mit sich. Am liebsten wollte er seine Gefährtin an sich ziehen und nie wieder loslassen. Warmes Glück umspülte die quälende Sehnsucht nach der Menschenfrau, vor der er stand. Dann erinnerte er sich, dass er sie nicht einmal berühren durfte.
Die Emotionen in seiner Aura schossen hoch und hüllten Sofie in eine bittersüße Wolke. Gischt. Meeresbrandung, die gegen schroffe Felsen toste. Ungestüm und auf Dauer zerstörerisch
.
Sofies Augen weiteten sich. „Wie lange kann er das aushalten?“
Xavosch rang um Fassung, doch es gelang ihm nicht, seine Gefühle ein zweites Mal unter einem Eispanzer zu verbergen.
„Warum tun sie dir das an?“, flüsterte Sofie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. „Die Nähe zu mir zerreißt dich schon jetzt. Wie können sie dich dazu zwingen, an der Akademie zu bleiben? Das ist unmenschlich!“
„Wir sind keine Menschen, sondern Drachen“, würgte Xavosch hervor. Er gab den Versuch auf, sein Inneres kontrollieren zu wollen. „Und mich zwingt niemand. Nicht mehr…“
„Was?“ Sofie musste sich verhört haben. „Irgendwer setzt ihn doch unter Druck! Alles andere wäre…“
„Es ist meine Entscheidung“, bekräftigte der Lichtmeister. „Ich bin hier, weil ich es sein will.“
„Aber du wirst den Verstand verlieren!“, protestierte Sofie. Seine aufgewühlte Aura setzte ihr zu. „Sieh dich nur an. Das hier zermürbt dich! Die Wölfe sagen, Gefährten werden irre, wenn sie die Bindung nicht … ich meine…“
„Das weiß ich“, antwortete Xavosch merkwürdig ruhig.
Sofie starrte den Drachen an.
Gefühle am Anschlag. Keiner sagte ein Wort.
Schließlich schüttelte Sofie ihren Kopf. „Ich begreife das nicht. Warum erträgst du das?“
„Weil ich dich liebe.“
In Xavoschs blaugrünen Augen glomm Hoffnung auf. Er rang sich zu einem halben Lächeln durch. „Für mich gilt «alles oder nichts».“
„Aber ich liebe dich nicht!“, rief Sofie und wich einen Schritt zurück. „Ich liebe Jan.“
Der Lichtmeister hob beschwichtigend seine Hände. „Hab keine Angst vor mir, Sofie. Bitte. Ich werde mein Versprechen halten: Ich werde dir nie wieder etwas gegen deinen Willen tun oder dir gar Schaden zufügen.“
Sofie war nicht überzeugt. Allerdings war sie sich des halben Kilometers Tunnel in ihrem Rücken sehr bewusst. Skeptisch schaute sie zum Blauen rüber.
„Eher sterbe ich, als dir was zu tun“, fügte Xavosch eindringlich hinzu.
Seine Gestalt wirkte nun noch ausgezehrter, die schwarzen Haare schimmerten bläulich im magischen Licht.
Ein Rieseln kribbelte durch Sofies Meridiane: Der Drache war ehrlich.
„Ich muss das klarstellen!“
Sofie holte tief Luft. „Liebe ist nichts, was wir Menschen mit dem Kopf beschließen können. Wir verlieben uns oder wir tun es eben nicht. Das lässt sich nicht steuern. Selbst wenn ich etwas ändern wollte, ich könnte es nicht. Bei der Gegenüberstellung hast du dich verbunden. ICH habe es nicht! Alle behaupten, eine Gefährtenbindung könne man nicht beeinflussen. Ich kann das erst recht nicht. Du solltest dir keine Hoffnungen machen, was mich betrifft.“
Sie guckte dem Drachen fest in die Augen. „Ich liebe Jan! Dich liebe ich NICHT, Xavosch, so leid es mir für dich auch tut.“
Der Blaue ließ die Schultern hängen und nickte. Ihre Zurückweisung schmerzte ihn, doch seine Sehnsucht hielt locker dagegen. „Das weiß ich. Eliande hat mir alles erklärt. Ich versuche ja gar nicht, dir den Karfunkel abspenstig zu machen.“
„Ja, und warum bist du dann immer noch hier?“
Sofie breitete in einer umfassenden Bewegung die Arme aus. Sie verstand den Drachen nicht. „Du leidest! Wieso gehst du nicht einfach?“
Ihre Worte hallten von den Wänden des Tunnels wider und verklangen. Xavosch antwortete nicht. Eine beklemmende Stille breitete sich aus.
Sofie sah ihn mitfühlend an. „Für dich und mich wird es kein «UNS» geben. Warum quälst du dich?“
Der Drache stand regungslos vor ihr. Melancholie glänzte in seinen Augen. Unverbesserliche Hoffnung quoll Sofie entgegen, getragen von Liebe.
„Du … kannst gar nicht mehr gehen!“, keuchte sie. „Jetzt schon?! Das ist viel zu früh!“
Sie schüttelte den Kopf. „Weiß die Führung davon?! Die müssen dich von hier abziehen!“
„Das müssen sie nicht. Ich könnte gehen, aber das ist nicht das, was ich möchte.“ Xavosch schloss kurz die Augen, schaute seine Gefährtin jedoch gleich darauf wieder an. Sein Blick war ruhig und intensiv. „Ich habe eine Entscheidung getroffen. Das Kaleidoskop hat damit nichts zu tun.
“
„Aber…“ Sofie hob hilflos die Hände. „Er wird daran zugrunde gehen, wenn er in meiner Nähe bleibt.“
„Das ist nicht dein Problem“, mischte sich ihr Verstand ein.
„Falsch! Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, wenn er durchdreht.“
Der Blaue lächelte. „Es ist alles gut, Sofie. Ich habe mir das selbst so ausgesucht. Ich komme klar.“
„Noch vielleicht“, brummte Sofie, „aber nicht mehr lange – zumindest wenn Lenni recht hat. Vielleicht sollte ICH mir eine andere Akademie suchen.“
„NEIN!“
Panik wallte in Xavosch auf. Er trat auf Sofie zu, als wolle er sie festhalten.
Sofie riss die Augen auf und wich zurück.
Erschrocken hielt der Drache inne. Er holte Luft und zwang seinen inneren Blick auf das, was ihm wirklich wichtig war: Sofie. Er durfte sie nicht bedrängen. Wie von selbst glättete sich seine Aura und nahm einen Hauch Korallenmeer an.
„Wow! Was für eine Disziplin.“
„Nein“, wiederholte Xavosch deutlich besonnener. „Bitte geh nicht, Sofie. Nicht meinetwegen. Wenn dir meine Anwesenheit an der Steinburg unerträglich sein sollte, sag es. Dann werde ICH gehen.“
„Spinner!“, grunzte die Margareta in ihr. „Mit jeder Schuppe schreit der Kerl danach, bei dir bleiben zu dürfen, aber falls es dir unangenehm sein sollte, würde er gehen? Tse! Wer soll das denn bitte glauben?“
„Ich“
, stellte Sofie fest. Der Lichtmeister behandelte sie wie ein rohes Ei. Das war nicht gespielt. Er hatte schlichtweg Angst, etwas kaputt zu machen. In diesem Moment hatte sie keinen Zweifel daran, dass Xavosch wirklich alles tun würde, bloß um sie glücklich zu sehen.
„Aber ich liebe Jan! Für Xavosch wird das nie und nimmer gut ausgehen.“
Mitleid flutete Sofies Herz. Sie spürte seinen Schmerz. So konnte sie ihn unmöglich in die Wüste schicken.
Der Blaue betrachtete sie aufmerksam. Je länger sie schwieg, desto mehr sank seine Hoffnung. Das Korallenmeer kühlte sich von innen
heraus ab.
Sofie fröstelte. Der Gedanke, Xavosch könnte die Akademie tatsächlich verlassen, bedrückte sie.
„Dabei wünsche ich mir genau das seit dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Was ist los mit mir?“
Verunsichert untersuchte sie ihre Gefühle für den Drachen. Bilder wirbelten durch Sofies Erinnerung: das Gesicht eines alten Mannes mit gezwirbeltem Bart – Liebe, gefolgt von unbändiger Wut – eine Drachenpranke, die sie brutal in den Bauch traf und meterweit durch den Kies schliddern ließ – ein aufgebrachter Xavier, der sie anbrüllte – ein Übelkeit erregender Flug – schwindelnde Höhe – der Absturz ins Bodenlose.
Als Sofie nicht antwortete, gab Xavosch sich geschlagen und ließ seinen Kopf hängen. „Ich verstehe das“, wisperte er. „Nach allem, was ich angerichtet habe, ist es nur nachvollziehbar, dass du nichts mit mir zu tun haben willst.“
Sofie blieb stumm. Die Bilderflut ging weiter. Pralinen regneten und eine Standpauke über die Verschmutzung der Meere zuckte durch ihren Geist. Plötzlich sah sie Xavosch, wie er vollkommen selbstvergessen auf dem Steg am See hockte und ein Ballett magisch leuchtender Nebeltiere über das Wasser zauberte. Das war so wunderschön gewesen und hatte sie tief berührt. Wärme breitete sich in Sofie aus. Ihr kam sein Versuch, Jan um Verzeihung zu bitten, in den Sinn.
Sofie schluckte. Wenn sie ihn ließe, würde der Drache sie auf Händen tragen.
Unwirklich drang die Realität zu ihr durch. Sie wurde sich bewusst, dass sie noch immer mit ebendiesem Drachen im Tunnel zu den Hochsicherheitslaboren stand.
Seine Worte hallten in ihren Ohren nach: „…dass du nichts mit mir zu tun haben willst.“
„Nein, das stimmt nicht“, widersprach Sofie. „Ich will dich nicht loswerden.“
Erstauntes Schweigen.
„Nicht?“ Xavoschs Stimme klang dünn wie das erste Eis des Winters, das nicht trug. „Dann… dann hasst du mich nicht mehr?
“
„Nein, ich hasse dich nicht.“ Sofie schaute ihm ins Gesicht und versuchte die inneren Bilder abzuschütteln. „Waren seine Augen immer schon so krass blaugrün?!“
Ihr Puls beschleunigte sich. „Und ich will auch nicht, dass du gehst.“
Das war weder gelogen noch aufgesetzt.
Xavosch traute sich kaum zu atmen. Tonlos fragte er: „Was willst du dann?“
„Ich…“ Sofie horchte in sich hinein. „Ja, was will ich?“
Wie von selbst tasteten ihre Finger nach dem Ostseekiesel an ihrer Hand und sofort funkelten zwei Saphire spitzbübisch durch ihre Erinnerung. „Jan!“
Sie sah dem Lichtmeister in seine faszinierenden Augen und erklärte mit fester Stimme: „Ich will Jan. Ich möchte, dass niemand an unserer Beziehung rumzerrt. Akzeptiere, dass ich ihn liebe und versuche nicht, uns auseinanderzubringen.“
Xavosch lächelte leicht. „Das habe ich an dem Tag aufgegeben, an dem ich mit dem Karfunkel aneinander geraten bin. Eliande hat mir erklärt, was dieser Mensch dir bedeutet. … Und ich habe geschworen, dich nie mehr zu verletzen.“
Sofie starrte den Blauen an. Er sprach die Wahrheit. Sie schüttelte den Kopf. „Und warum bist du dann noch hier? Wenn du aufgegeben hast, ist das doch sinnlos...“
Xavoschs Lächeln vertiefte sich. „Bloß weil ich deine Beziehung zu Jan achte, heißt das nicht, dass ich aufgegeben habe.“
„Du bist ja verrückt“, schnaubte Sofie.
„Vermutlich.“ Der Blaue grinste. Die Offenheit tat ihm sichtlich gut. Mit einem Mal wirkte er selbstsicher. Sofie kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass er attraktiv war. „Wenn ich ehrlich bin, noch attraktiver als Jan.“
„Pah!“, motzte die Margareta in ihr. „Seit wann legst du denn Wert auf Äußerlichkeiten?“
„Das tue ich gar nicht. DU warst es, die vorhin meinte, ich solle ihm unbedingt die Wahrheit sagen. Das mache ich jetzt!“
Sie blickte Xavosch aufmerksam ins Gesicht. „Du willst mir also weißmachen, dass du nicht an meiner Liebe zu Jan rühren willst und trotzdem an der Steinburg bleibst?
“
Der Drache nickte.
„Warum?“ Sofie hob ihre Schultern. „Ich schnall das nicht! Ich kann fühlen, wie sehr dich diese Situation quält: dieses Nahsein und trotzdem Abstand halten müssen. Das ist, als würde sich jemand eigenhändig Elektroschocks verpassen. Sowas macht niemand freiwillig!“
„Willst du es genau wissen?“, erkundigte sich Xavosch.
„Ich…“ Sofie hielt inne. „Will ich das? … Ja, ich muss.“
Sie nickte stumm.
Die Augen des Blauen glänzten. Er genoss ihr Interesse.
„Natürlich schmerzt es mich, nicht mit dir zusammen zu sein. Aber es würde mich auch schmerzen, wenn ich mich auf der anderen Seite des Erdballs verkriechen würde. Bloß, dass ich mir dort jede Chance nehmen würde, dir zu begegnen. … Das hier“, er deutete auf sie und ihre Umgebung, „wiegt die Qualen der letzten Wochen auf.“
„Der Schmerz wird größer werden“, prophezeite Sofie düster.
„Ich halte das aus“, widersprach der Blaue stoisch. Er schien sich dabei wohlzufühlen.
„Was wird das denn jetzt?“
Sofie runzelte misstrauisch die Stirn. „Stehst du darauf?“
„Was? Worauf?“
„Auf Schmerzen.“ Sofie musterte ihn ernst. „Wir Menschen nennen solche Leute Masochisten. Bist du einer?“
„Eigentlich…“, der Lichtmeister furchte irritiert die Brauen, „… nicht. Nein, wirklich nicht. Du etwa?“
„Ich?“ Sofie winkte verächtlich ab. „Bestimmt nicht!“
Auf einmal lächelte Xavosch verschmitzt. „Kamikaze-Kai erzählte mir neulich, dass dieses Sadisten-Masochisten-Zeug bei euch Humanoiden gerade modern ist. SM wird das genannt, sagte er. Ich wollte es nicht glauben, doch er meinte, es würden sogar Romane darüber geschrieben. «Die 50 Schattierungen von Grau» oder so.“
Er lachte.
„Was?“ Sofie war verwirrt. Die Aura des Drachen hatte sich verändert, sie kräuselte sich warm und fröhlich. „Südsee.“
Er war definitiv erheitert. Das löste Sofies eigene Anspannung. Sie atmete auf.
Der Lichtmeister grinste. „Eliande hat mich mehrfach ermuntert, das
Menschsein auszuprobieren. Mit allem, was dazu gehört. Von der Seite betrachtet, würde es hinkommen mit dem auf Schmerzen-Stehen. Zeitlich begrenzt versteht sich.“
Sein Humor war ansteckend, die Selbstironie sympathisch.
Sofie schmunzelte: „Ach, also bist du nun quasi ein Masochist auf Probe, oder wie?“
„Ja, so könnte man es ausdrücken.“
Entspanntes Schweigen.
„Xavosch hat was.“
Die Miene des Lichtmeisters wurde weich. „Ich mag das.“
Sofie hob spöttisch eine Augenbraue. „Die Schmerzen?“
„Nein, wenn du scherzt.“
„Ja, das eben fühlte sich gut an.“
Sofie schluckte. Durfte sie sich in der Anwesenheit von Xavosch überhaupt so fühlen oder war das ein Verrat an Jan?
Das Gesicht des Drachen wurde ernst, dennoch leuchtete das Korallenmeer in seiner Aura so einladend und glücklich wie noch nie. Er war jetzt ganz bei sich.
„Weißt du, Sofie, wegen solcher Momente bin ich hier. Dafür nehme ich all die anderen Tage in Kauf.“
„Aber das hat doch keine Perspektive“, kritisierte Sofie, „jedenfalls nicht, wenn du meine Beziehung zu Jan respektieren willst.“
„Das sehe ich anders.“ Xavosch trat behutsam einen Schritt auf seine Gefährtin zu und hob Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand. „Ich schwöre bei allem Leben in den Ozeanen, dass ich Jan und dich nicht willentlich auseinanderbringen werde.“
Ein angenehm vertrauter Duft stieg Sofie in die Nase. „Meeresbrise.“
Sie betrachtete die fein geschnittenen Gesichtszüge des Lichtmeisters. Ihr magischer Sinn zeigte ihr, dass der Drache die Wahrheit sprach.
„Solange du es wünschst, werde ich euch in Ruhe lassen. … Ach, vermutlich bin ich tatsächlich ein Masochist.“ Er zwinkerte ihr zu und wurde sofort wieder ernst. „Sofie, ich bleibe hier, weil ich bereit sein möchte, falls sich etwas ändert. Bis dahin lerne ich. Ich habe mich in den vergangenen Jahrhunderten nie für die Oberwelt interessiert, also muss ich einiges nachholen. Insbesondere, was deine Art angeht. Ich möchte wi
ssen, wie ihr Menschen denkt, was ihr mögt, was euch ängstigt, einfach alles.“
Xavosch schaute ihr offen ins Gesicht. „Solche Momente wie dieser mit dir sind meine Lichtblicke. Ich nehme einfach alles, was ich kriegen kann.“
„Hat Jan nicht damals etwas ganz Ähnliches gesagt?“
Sofies Bauch erfasste ein undefiniertes Flattern.
Xavosch lächelte, das Blaugrün seiner Augen leuchtete wie die Ostsee an einem Sommertag und mit einem Mal war alles Leid aus seiner Aura fortgewaschen. „Scherzen mit dir im Tunnel – es gibt nichts Besseres für mich.“
„Mir hat das auch gefallen“
, gestand Sofie sich ein, „irgendwie...“
Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Er hatte etwas von einem großen Bruder.
Eine Pause entstand. Sie waren noch immer allein im Tunnel. Befangenheit breitete sich aus.
Schließlich räusperte der Drache sich. „Wohin wolltest du eigentlich? Deine Stunde mit Eliande in diesem Gebäudetrakt war doch heute Morgen.“
„Du kennst die Änderungen in meinem Stundenplan?“ Sofie runzelte unbehaglich die Stirn.
„Klar!“ Xavoschs Mundwinkel hoben sich. „Wie soll ich dir denn sonst zuverlässig aus dem Weg gehen? Dein Gedankenmuster ist für so ziemlich jeden unsichtbar. Wie ich bereits eingangs sagte, bin ich da keine Ausnahme.“
„Auch wieder wahr“, murmelte Sofie. „Also, ich muss noch mal ins Labor – hab da vorhin meine Jacke vergessen.“
Der Lichtmeister verbeugte sich und deutete in Richtung der Spezialräume.
„Einmal Begleitservice zu Eliandes Labor und zurück zum Campus. Bitte sehr, die Dame!“
Galant ließ er ihr den Vortritt.
Sofie nickte ihm zu und setzte sich in Bewegung.
Schweigend liefen die beiden nebeneinander her. Xavosch genoss ihre Anwesenheit. Sie spürte, dass er nicht mehr versuchte, seine Emotionen zu verbergen oder wegzudrängen. „Es hätte ja ohnehin keinen Sinn.
“
Seine Aura entspannte sich, Druck fiel von ihm ab. Er wirkte so gelöst wie damals am See, als er das Nebelballett dirigiert hatte. Das rührte Sofie an.
„Irgendwie gibt es eine Verbindung zwischen mir und ihm, auch wenn ich ihn nicht liebe.“
Wenig später kamen sie beim Labor an und Sofie holte ihre Fleecejacke heraus. Den Rückweg traten sie ebenfalls schweigend an.
„Was für eine merkwürdige Stille. Man hört nur unsere Schritte. Unangenehm? Nein, eigentlich nicht. Scheu? Ja, ich glaube, das passt. Wir trauen beide dem Frieden nicht so recht.“
Sofie lächelte und stellte fest, dass sie seinen Ozean-Duft mochte.
„Sag mal“, begann sie zögerlich und sah zu ihm auf, „machen es solche Begegnungen für dich eigentlich schlimmer? Also, insgesamt gesehen, meine ich.“
„Schlimmer?“ Xavosch schüttelte den Kopf. „Nein, keinesfalls. Im Gegenteil, in den nächsten Tagen werde ich wesentlich gelassener sein.“
„Hmm“, brummte Sofie. Sie war nicht überzeugt.
Der Drache schmunzelte und guckte ihr direkt in die Augen. „Du kannst mir das ruhig glauben.“
Ein Rieseln. Er war ehrlich zu ihr.
„Und das mit Jan und mir…“, bohrte Sofie weiter.
„… akzeptiere ich! Versprochen.“ Er legte seine Hand aufs Herz.
„Dir ist schon klar, dass das mit ihm und mir noch ewig so gehen wird, oder?“
„Ja.“ Xavoschs Blick wurde intensiv. Er hoffte, dass sie Unrecht hatte, aber falls nicht, war er fest entschlossen, das hinzunehmen.
„Du bist echt ein Masochist!“, schnaufte Sofie.
Er lächelte schief. „Nur auf Probe.“
„Weißt du“, überlegte Sofie laut, „vielleicht solltest du das mit dem Mir-Aus-Dem-Weg-Gehen einfach sein lassen.“
Xavosch blieb wie angewurzelt stehen. „Ist das dein Ernst?“
„NEIN!!!“, protestierte ihr Verstand. „Bist du irre?!“
Doch für Sofie fühlte sich das richtig an, warum auch immer. Sie drehte sich zu dem Lichtmeister um und nickte. „Ja.“
Glück explodierte in der Aura des Drachen und hüllte Sofie in
überschäumende Wogen aus Freude.
Die Margareta in ihr war fassungslos. „Was im Namen aller Dämonen machst du da?“
Sofie schluckte und hatte plötzlich Respekt vor ihrer eigenen Courage. Mahnend hob sie ihren Zeigefinger.
„Aber nicht vergessen, Xavosch: Ich liebe dich nicht, sondern Jan!“
„Das werde ich nicht vergessen“, gelobte Xavosch und schloss mit beschwingten Schritten zu ihr auf.
„Alter!!!“, motzte Sofies Verstand. „Das wird nicht gut gehen! NIE IM LEBEN wird das gut gehen! Das KANN gar nicht gut gehen! Ich glaub, ich dreh durch!“