»Wunderbar war die Entdeckung von Amerika.
Noch wunderbarer wäre es gewesen,
wenn man es nicht entdeckt hätte.« Mark Twain
Die schönsten Pläne, das zeigt die Weltgeschichte immer wieder, können sich unversehens in Staub auflösen. Apropos, sehen Sie dort die Staubwolke? Scheinbar zieht ein gewaltiger Heerzug Richtung Westen. Es ist das Jahr 1241, Niederschlesien, wir sitzen auf einer Anhöhe. Man erkennt Pferde. Eine riesige Horde von Reitern. Eigentlich sogar die Horde, denn von ihr stammt das deutsche Wort »Horde« her. Nämlich vom Wort ordon, zu Deutsch »Palast«, mit dem das Palastzelt des Anführers dieser reitenden Krieger bezeichnet worden sein soll. Ahnen Sie was? Es sind die Mongolen auf ihrem Weg nach Westen. Sie haben soeben mit ihrem Erscheinen alle Kalkulationen auf ein ruhiges, normales Leben vom Tisch gefegt.
Die einen machen weiter wie immer, die anderen ändern alles im Handstreich. Das sind die zwei wesentlichen Kräfte in der menschlichen Geschichte. Sie kennen das aus Ihrem Büro. Aus dem Aufeinandertreffen dieser Kräfte entsteht Überraschung, das Unvorhersehbare, das Neue, Aufregende, oft auch Tödliche. Es ist ein immer gleiches Geschehen, aber in immer neuen Varianten. Was es so interessant macht, das ist der Nutzwert für die Gegenwart. Wir können von unseren Vorfahren lernen, weil sie uns so ähnlich sind. Gut, vielleicht würden wir ein paar Tische weiterrücken, wenn in unserem Lieblingslokal einer unserer Urahnen aus dem 16. Jahrhundert zum Abendessen erschiene. Schließlich waren die damaligen Deutschen in den zivilisierteren Ländern Europas berüchtigt für ihre ungepflegten Tischmanieren. Grundsätzlich aber wäre unser Vorfahr gar nicht so ungeheuer fern von unserer Welt, nur eben geprägt von seinen sehr viel härteren Lebensumständen und einer anderen Erziehung.
Die Welt insgesamt ändert sich gar nicht so schnell, wie wir das immer denken. Wenn man sich einmal umsieht in unseren Dörfern und Städten, dann erkennt man überall mittelalterliche Stadtplanung. Da ist die Burg, dort das Rathaus, der Markt wurde so breit angelegt, damit die sperrigen Ochsenkarren drauf wenden konnten. Oft stehen sogar die originalen Mauern noch, die von Touristen so gerne besucht und von uns so gerne bewohnt werden. Viele unserer Kirchen stehen seit dem Frühmittelalter auf demselben Platz. Gut, wir haben in den Großstädten die Pferdebahnen des 19. Jahrhunderts elektrifiziert und nennen sie Straßenbahnen, wir haben in unsere Kutschen Explosionsmotoren eingebaut und nennen sie Autos, aber mit den Straßen selber folgen wir immer noch den Wegen unserer Vorfahren aus dem Mittelalter. Die Auswirkungen der Geschichte zeigen sich überall. Bis heute sind wir Deutschen im Ausland dafür berüchtigt, dass wir viel Fleisch und Wurst essen, wenn wir können. Das las man so schon zu Zeiten unseres Urahns vor 500 Jahren. Offenbar hat sich gar nicht so viel geändert.
Es ist kein Zufall, dass die Drehbuchautoren der großen Hollywood-Filme ihre weltweit erfolgreichen Stories noch immer nach den Mustern antiker griechischer Dramen ausrichten. Da gibt es Geschichten von Verrat und Hass, politischen Intrigen und Familienfehden, von Freundschaften und verschmähter Liebe, von Helden, die etwas Verlorengegangenes mit allen Mitteln zurückerobern wollen. Zwar stammen diese Erzählungen aus einer Zeit, als noch leibhaftige Götter in der sonnendurchglühten Wildnis Griechenlands herumspazierten, immer auf der Suche nach einem kleinen Abenteuer mit einer gutwilligen Hirtin, aber in seinen Grundzügen funktioniert das antike Theater noch heute, 2500 Jahre später. Egal, wie verschieden die Ideen vom Leben und Sterben auch gewesen sein mögen, die Grundidee des menschlichen Handelns war und ist doch dieselbe. Wenn man die Aufzeichnungen aus historischer Zeit aufschlägt, sieht man bei allen Unterschieden von Sitten und Gebräuchen immer wieder dasselbe Bild.
Caesar, ohne den es das schöne deutsche Wort »Kaiser« nie gegeben hätte, strebt zur Macht, will sie erringen, nimmt tausend Schwierigkeiten in Kauf, führt Krieg in weit entfernten Weltgegenden, arbeitet sich mit tödlicher Konsequenz nach oben, um endlich den Lorbeerkranz zu tragen. Dann wird er vom Meuchelmörder aus dem Freundeskreis eben deswegen umgebracht. Sie sagen, Sie kennen die Geschichte schon? Jedenfalls so in etwa, nur ohne Mord? Von Ihrem Vorgesetzten, Amtsdirektor, Bekannten? Von einem bekannten Politiker unserer Zeit? Nehmen Sie statt Caesar John F. Kennedy oder einen anderen großen Namen der jüngeren Vergangenheit. Schon passt die Sache. Das Rad der Geschichte dreht sich, aber es kommt dabei nur sehr langsam voran. Paradoxerweise lohnt sich gerade deswegen die Betrachtung. Man kann aus der Betrachtung der Geschichte durchaus Nützliches für die Gegenwart lernen. Zum Beispiel die Grundmuster politischen Handelns.
Wenn man wieder einmal eine nervtötende Politikerrede gehört hat, kann man sich immer noch an den altrömischen Politiker Cato erinnern, der jede, und wirklich jede, seiner zahllosen öffentlichen Reden mit dem Satz abschloss: »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam«, also: »Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.« Das tat er so lange, bis Rom, vollkommen entnervt von diesem unerträglichen Dauerfeuer, wirklich Karthago bis auf die Grundmauern niederbrannte und alle Karthager versklavte. Es hatte in dem Zusammenhang noch andere, weiter reichende Gründe für diesen verheerenden Kriegszug gegeben, aber Sie können sicher sein, dass Cato selbst sein rednerisches Talent als alleinige Ursache ausmachte. Catos endlose, immer wiederkehrende Formel ist sozusagen ein Urahn allen unerträglichen Politikersprechs und ein Beweis dafür, wie viel man erreichen kann, wenn man sich einfach immer nur wiederholt.
Ach diese Anführer! Alexander, Caesar, Napoleon, wie sie alle heißen. Alle wollen irgendwie nach oben. Und wenn sie dort erst mal sind, herrscht im besten Fall Ratlosigkeit. Das stärkste Gift der Welt, schrieb der englische Dichter William Blake einmal, wurde aus Caesars Lorbeerkranz destilliert. Alle, die nach ihm kamen, wollten davon kosten, meistens auf Rechnung ihrer näheren und weiteren Umwelt. Man muss es einfach akzeptieren: Die Mächtigen unterscheiden sich nicht so wesentlich von uns Normalmenschen, wie man das gerne glauben mag. Gut, manche sind gerissener, skrupelloser, böser, einige wenige vielleicht auch klüger. Sie haben tendenziell bessere Informationsquellen, was aber noch nicht heißt, dass sie aus diesen Brunnen der Weisheit auch schöpfen. Wir sind, wenn man mal ganz ehrlich ist, auch nicht besser, haben aber oft weniger Gelegenheit, Schaden anzurichten. Das ist ein Vorteil, zugegeben, aber an sich noch kein Verdienst. Wer oben auf dem Deck des Flaggschiffs steht, mitten in einer Seeschlacht, und den Admiralshut trägt, der muss auch als Admiral handeln. Der trägt damit auch das Risiko des Irrtums und des Scheiterns. Dummerweise hat das oft verheerende Konsequenzen.
Trotzdem sollte man aus der Geschichte nicht nur das Misstrauen gegenüber allen Mächtigen, sondern durchaus auch Verständnis für ihre Probleme lernen. Wenn man sich einmal in die Position des Admirals Horatio Nelson versetzt, der im Herbst 1805 vor dem Kap Trafalgar inmitten unerträglichen Lärms vom Dauerfeuer mehrerer hundert Kanonen auf Deck seines passend benannten Schiffs »Victory« steht, ungeschützt im Kugelhagel, inmitten von Pulverdampfschwaden, tödlich umherfliegenden Holzsplittern, umgeben von Toten und schreienden Verwundeten, mit seinem gut sichtbaren Hut eine lebende Zielscheibe, dann gewinnt man schon einen gewissen Respekt für die Leistung dieses Menschen. Mitten im Chaos gibt er noch ganz klare, kontrollierte Anweisungen, die eine Armada von tödlich bewaffneten Segelkriegsschiffen zu einem epochalen Sieg für das British Empire lenken.
Die meisten von uns wären längst kreischend über Bord gehüpft, aber nein, dieser kleine, schmächtige Mann, kriegsverwundet und früh gealtert, mit nur noch einem Arm und einem Auge, er steht da, gewinnt die Schlacht für England und lässt sich zur Belohnung von einem feindlichen Scharfschützen totschießen. Man mag das blutige Verblendung nennen, aber eine ungewöhnliche Leistung ist es doch. Angesichts solcher Heldensagen sollte man allerdings nicht vergessen, dass die meisten edlen Taten der Menschheitsgeschichte niemals aufgeschrieben wurden. Von den Matrosen auf Nelsons Schiffen ist beispielsweise deutlich weniger die Rede. Und den vielen Frauen der Geschichte hat ohnehin nie jemand ein Denkmal gesetzt. Haben Sie einmal gezählt, wie viele Statuen unter den Monumenten einer beliebigen europäischen Großstadt real existierende Frauen der langen europäischen Geschichte zeigen? Vermutlich keine einzige! Diejenigen Brunnen und Denkmalssockel, auf denen die Anwesenheit von Damen nur ein Vorwand ist, lüstern entblößte Weiblichkeit zu zeigen, sollen ausdrücklich nicht mitgezählt werden.
Die Eroberung der Welt
Immer gibt es jemanden, den man nicht mag. Diese Barbaren! Auch so ein Wort, das aus dem alten Griechenland stammt. Damals bezeichnete man damit jene ebenso bedauerns- wie verachtenswerten Menschen, die nicht ordentlich Griechisch sprachen. Ihre raue Rede klänge wie »br br«. Daher das Wort barbaroi. Interessanterweise sind es ja immer die anderen, drüben, jenseits der Grenze. Man selbst hat selbstverständlich immer recht. Aus diesem sehr eingeengten Blickwinkel auf das Fremde entstehen oft gröbere Irrtümer. Man sieht förmlich einen Politiker der römischen Zeit vor sich stehen, der im vierten Jahrhundert unserer Zeit inbrünstig die ewige Macht Roms beschwört und seine Rede mit den Worten enden lässt: Diese Barbaren werden niemals genug Macht erringen, um Rom gefährlich zu werden, denn sie sind unfähig zu jeder höheren kulturellen Entwicklung. Und wenig später erringen sie dann die Macht, und dann sind sie da. Oft stellt sich in der Folge heraus, dass der vermeintliche Barbar die jetzt Bezwungenen und vermeintlich Zivilisierten selber für Barbaren hält. Merke: Die Barbaren von früher sind gar nicht selten die Herrscher der Zukunft. Dann errichten sie ein neues Reich und missachten neue Barbaren an den Grenzen.
Auch dies kann man aus der Geschichte lernen: wie oft der Mensch darin zu kurz gedacht hat. Wenigen segensreichen Einsichten stehen lange Perioden totaler Verblendung gegenüber. Immer wieder haben Menschen sinnlose Feindschaften gepflegt, Kriege geführt, Mitbürger aus den aberwitzigsten Gründen ermordet. Es ist noch gar nicht so lange her, da konnten Frauen nicht wählen, da waren Arbeiter und Bauern nur dazu da, um den Mächtigen ein angenehmes Leben zu garantieren. Die Geschichte zeigt dem interessierten Betrachter in einem bunten Bilderbogen, was geschieht, wenn man so einfältig denkt. Wie steril und tot eine Gesellschaft ist, aus deren Mitte man die Frauen verdrängt! Wie krisengeschüttelt eine Ausbeutergesellschaft, in der jeder nur seinen Vorteil wahrnimmt und den Schwarzen Peter nach unten durchreicht! Wie aggressiv und am Ende selbstzerstörerisch der Hass auf alles Fremde und Andere sich äußert! Man kann sich angesichts dieser Vorgeschichte immerhin vornehmen, es besser zu machen, auch wenn durchaus nicht sicher ist, dass es einem auch gelingt.
Oft erreicht man ja genau das Gegenteil des ursprünglich Gewollten. Sehen Sie sich einmal um. Wir stehen auf dem Petersplatz, an einem lauen römischen Frühlingstag, und dort drüben, das sind die Mauern des Vatikans. Lange ging es in den ehrwürdigen vatikanischen Palästen trotz der göttlichen Berufung ihrer Bewohner überaus irdisch zu, da wurden Kinder gezeugt, Gifte an Konkurrenten ausprobiert, kurz: Der Papstpalast war ein Abbild der Welt, nur etwas konzentrierter. Machiavelli, der toskanische Theoretiker der Politintrige, dessen Name längst sprichwörtlich geworden ist, hat aus der Beobachtung unter anderem dieser Zustände seine Theorien vom Machterhalt entwickelt. Und über den hatten die Päpste allerdings vieles zu berichten, ebenso wie über die Erweiterung ihrer Macht. Bizarrerweise wandelte sich unter ihrer Herrschaft die friedliche Botschaft des jüdischen Philosophen Jesus zu einem angriffslustigen Dogma. Dieser Leiter einer jüdischen Splittergruppe hatte wenige Jahrzehnte nach dem Jahr eins seine Ansichten immer weiter reformiert und seinen sehr wenigen Anhängern radikale Wahrheiten von der Gnade Gottes und von der Feindesliebe verkündet. Mehr als tausend Jahre später überzogen völlig andere Menschen in seinem Namen die Welt mit Krieg. Ohne Jesus keine Bergpredigt und keine Christen, ohne Christentum kein Papst in Rom, keine Kreuzzüge, keine Ketzerverfolgung und kein europäischer Kolonialismus. So war das doch eigentlich nicht gedacht.
Die großen Eroberungszüge der europäischen Neuzeit boten für alle Beteiligten eine befriedigende Mischung aus heiligem Auftrag, Abenteuerlust, Gier und der Hoffnung auf einen angenehmen Platz im Paradies. Zu einer Zeit, als die irdische Existenz sehr schmerzhaft und kurz sein konnte, war dieser letzte Beweggrund nur zu verständlich. So begann für die Europäer die große Reise nach Übersee mit den mittelalterlichen Kreuzzügen. Ob dabei die eigentlich zu rettenden christlichen Heiligtümer Konstantinopel oder Jerusalem eher geplündert als gerettet wurden, wen kümmerte es. Weiter und weiter wagten sich die Europäer in die Welt hinaus, von der sie seit römischer Zeit immer mehr die Kenntnis verloren hatten. Man nennt es gerne das Zeitalter der Entdeckungen. Dazu sei ausdrücklich gesagt, dass Entdecken und Entdecktwerden zwei sehr unterschiedliche Angelegenheiten sind. So bekamen die Menschen am Rande der europäischen Welt ihre Kenntnis von den Fortschritten der Europäer immer dann, wenn wieder ein Heerzug in ihre Länder einbrach oder ein Kriegsschiff sich ihnen bedenklich näherte. Sehr viele von ihnen haben den wirtschaftlichen Aufschwung Europas mit ihrem Leben bezahlt. Sie legten vermutlich überhaupt keinen Wert darauf, von uns entdeckt zu werden.
Das mit der Entdeckung Amerikas war am Ende auch so ein Zufall. Was wäre eigentlich passiert, wäre Kolumbus daran vorbeigefahren oder vorher in einen tödlichen Sturm geraten? Wäre er dann so berühmt geworden, dass man – wie Mark Twain schrieb – in einem Museum in Havanna zwei seiner Schädel ausgestellt haben soll, den des jungen Kolumbus und den des erwachsenen? Die Geschichte des Entdeckers Christoph Kolumbus ist so abenteuerlich, dass sie eigentlich nur wahr sein kann. Er fuhr mit der sicheren Gewissheit los, in Richtung Westen den Osten zu erreichen. Die karibischen Inseln hielt er für Vorboten des indischen Festlands. Und bis zu seinem Tod hielt er daran fest, auf dem amerikanischen Festland eigentlich Indien entdeckt zu haben. Zum Dank nennen wir die Menschen, denen er dort begegnete, bis heute Indios beziehungsweise Indianer. Mit Kolumbus’ starrsinniger Suche nach den Reichtümern der östlichen Länder begann auf dem amerikanischen Kontinent der Wahnsinn des Goldrausches. Immer mehr Menschen strömten über das Meer, um irgendwo in Urwäldern, Steppen oder auf Bergen Städte aus Gold zu finden.
Reisen durch die Geschichte
Einer der Ideengeber für die Hatz nach der goldenen Stadt war daran vollkommen schuldlos. Er hieß Marco Polo, lebte in Venedig und hatte Jahrhunderte zuvor die Reise immer weiter nach Osten angetreten, weit über die Grenzen der bekannten Welt hinaus. Er war nicht der Erste in der Familie, denn er folgte den Spuren seines Vaters und Onkels, die beide schon Peking erreicht hatten und ihn nach ihrer Rückkehr mit auf eine zweite Reise durch das Reich des mongolischen Großkhans nahmen, der über große Teile Asiens herrschte. Obwohl alle drei wohlbehalten in ihre Heimatstadt zurückkehrten, ist nur Marco Polo der Nachwelt bekannt geblieben. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Er hat seine Reise aufgeschrieben für die Nachwelt und von unglaublichen Reichtümern im Osten berichtet. Menschen wie ihn gab es zu allen Zeiten.
Durch das antike Griechenland bis nach Ägypten wanderte Pausanias und schrieb alles auf, was ihm von Bedeutung erschien. Auch die islamische Welt des Mittelalters kannte phänomenale Reisende wie Ibn Jubayr und Ibn Batuta, die wirklich unglaubliche Touren durch ferne Gegenden und Kulturen unternahmen, alle Widrigkeiten und Gefahren überlebten und zu Hause von ihren Erlebnissen berichteten. Stellen Sie sich einmal vor, eine Reise in fremde Länder über viele Jahre zu unternehmen, ohne Reiseführer, Sprachkenntnisse, Reiseleiter, ohne Kreditkarte, Autos, Expeditionsbekleidung, ohne Medikamente oder Ärzte, ohne Landkarten oder Navigationsgeräte, durch Landstriche, in denen wilde Tiere und Räuberbanden den Reisenden erwarten, durch die Staaten verrückter Gewaltherrscher, in denen Krieg und Anarchie herrschen. Können Sie sich nicht vorstellen? Diese Reisenden haben genau das getan.
Mit den Eroberungszügen der Europäer und den verbesserten Verkehrsmitteln zu Wasser und zu Land wurde es dann immer einfacher, die Welt zu umrunden. Der Erste, der das aus rein touristischem Interesse tat, quasi unser aller Urahn im Bereich der Urlaubsreise, war ein heute ziemlich vergessener italienischer Kavalier namens Giovanni Francesco Gemelli Careri. Er startete seine Reise 1693 und brauchte für die Weltumrundung volle fünf Jahre. Nicht ganz 200 Jahre später ging das deutlich schneller. 1872 organisierte der britische Prediger Thomas Cook für eine Touristengruppe die erste kommerzielle Reise um die Welt. Zu sehr stolzem Preis enthielt sie den Dampfschifftransfer über den Atlantik, eine Postkutschenreise quer durch die USA, die Fahrt von der Westküste mit dem Schaufelraddampfer nach Japan und eine anschließende Landpartie durch China und Indien inklusive Rückreise. Thomas Cook und seine Gruppe benötigten dafür genau 222 Tage. Nur ein Jahr später schrieb der französische Abenteuerschriftsteller Jules Verne seinen berühmten Roman »In achtzig Tagen um die Welt«. Klar, woher er seine Inspiration hatte.
Rund um den Globus hatten die staunenden Reisenden Orte gefunden, an denen sich die Geschichte der Weltkulturen ablesen ließ. Was hatten diese Orte zu bedeuten, und wie hing das alles zusammen? Stellen Sie sich einmal vor, wir wären solche Reisende und flögen mit einem Heißluftballon über eine ganz unbekannte Landschaft. Das wäre ein Abenteuer! Nun, wagen wir einmal einen Blick hinunter über den Rand des Ballonkorbes. Hoffentlich sind Sie schwindelfrei. Eine trockene Ebene, darin ein Fluss, der in der Hitze ein bisschen ermüdet daliegt. Der Euphrat. Es ist gewaltig heiß, selbst hier oben im Ballon. In der flirrenden Hitze erkennt man auf einem gewaltigen Areal deutlich Reste von Lehmbauten. Das ist Babylon oder jedenfalls das, was davon heute noch übrig ist. Eigentlich unglaublich, dass ein solcher Mythos wirklich existiert. Aber hier ist der Beweis. Man spricht immer vom »Turmbau zu Babel«, vom »babylonischem Sprachengewirr«. Aber den Ort gibt es, man kann ihn ansehen. In Babylon wurde der erste Gesetzestext festgehalten, jedenfalls der erste, den man bisher gefunden hat. Sie werden lachen, aber letztlich gehen alle unsere Gesetze auf diese ersten Versuche zurück. Ein Grund mehr, sich mit dieser Geschichte konkret zu beschäftigen.
Nur ein Experiment: Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten für Sie eine Zeitmaschine gebaut. Sie dürfen den Apparat jetzt ausprobieren. Schnell die Koordinaten von Babylon eingestellt, die Zielanzeige wird auf das Jahr 1680 vor der Zeitenwende fixiert. Gut festhalten, es wird unruhig, immerhin reisen wir fast 3700 Jahre zurück in der Zeit. Ah, das Rütteln hört auf, wir sind offenbar angekommen. Nun die Tür der Zeitkapsel öffnen. Gleißendes Licht, furchtbare Hitze. Und da hinten eine gewaltige Lehmmauer, die sich aus der Ebene erhebt. Sieht aus wie eine Großstadt. Man ahnt die Zinnen vieler Türme. Hinter den Umfassungsmauern scheinen sich noch viel höhere Gebäude zu erheben. Der Weg durch eines der Haupttore, die mit bunt glasierten Ziegeln verkleidet sind, führt hinein in dieses Weltwunder, die Stadt des Gottes Marduk und seiner Könige. Man sieht die Türme der Tempel hoch aufragen, das ist wirklich unvorstellbar.
Noch ein Versuch gefällig? Gut, wir stellen den Apparat auf das alte Ägypten ein. Schon sind wir da. Sehen Sie diese steinernen Spitzen, gewaltige Baukörper, die aus der Wüste ragen? Man sieht Rampen, die hinaufführen, und Heerscharen von Arbeitern, die mit Seilen, Hölzern und Winden Steine über den Abhang nach oben fördern. Das sind die Pyramiden von Giseh, bis heute unbegreifliche Wunder der Ingenieurskunst. Sie bestätigen, dass die Menschen früherer Zeiten nicht dümmer waren, als wir es heute sind. Vielleicht können Sie mit Computern umgehen, aber diese Leute kennen dafür die Gesetze der Mechanik. Die wissen, wie man mit Seilen, Rollen, Schlitten und ein paar Kanthölzern schwerste Lasten bewegt. Die Pyramiden, die wir hier eben im Bau sehen, sind der Versuch, die Unsterblichkeit und unendliche Macht eines einzigen Menschen zu beweisen, des Pharao, des göttlichen Herrschers über ganz Ägypten. Tausende von Jahren besteht das ägyptische Reich mit seiner eigenen Schrift und Sprache, mit seinen Kulten, seiner komplizierten Landwirtschaft, die das Überleben im Niltal sichert. Was sind da schon ein paar Jahrhunderte unserer eigenen Epoche! Babylon und die Pyramiden von Giseh, das sind Monumente der Vergangenheit, die längst selber zu Begriffen geworden sind, zu Mythen unserer Welt. Jeder von uns hat ein Bild vor Augen, wenn man von ihnen spricht.
Das sind die Grundlagen unserer Kultur, in Stein gehauen: die weißen Steine der Akropolis, hoch oben über Athen, die immer noch gigantischen Reste der Bauten des alten Rom. Ohne Athen kein Rom, ohne Rom kein Europa. In Rom zeugen das Kolosseum und der mächtige Vatikan von den beiden Epochen seiner weltumspannenden Macht. Auf dem Tempelberg in Jerusalem, der Juden, Christen und Muslimen heilig ist, sieht man, wie diese scheinbar weit entfernten Religionen zusammengehören, wie sie aus einer gemeinsamen Wurzel stammen. In der Hagia Sophia im heutigen Istanbul, einst Kirche der byzantinischen Welt, dann Moschee, schließlich Gedenkort und Museum, wird die fließende Grenze zwischen dem sichtbar, was wir Orient und Okzident bzw. Westen nennen. In Aachen kann man heute den Kaiserthron bestaunen, auf dem Karl der Große vor 1200 Jahren Platz nahm, jener legendenumwobene Kaiser, der allen späteren Herrschern Europas zum Vorbild diente.
Die italienischen Städte Venedig und Florenz erzählen mit ihren Palästen und Museen noch immer von der Erfindung des modernen Kapitalismus in der italienischen Renaissance. Madrid mit den Goldschätzen der spanischen Könige ist der Ort des vollendeten Kolonialismus, Paris mit dem Palast von Versailles das Zentrum einer vollkommenen Königsmacht. Im Gegensatz dazu war Berlin lange eine verschlafene Kleinstadt, aber als die preußischen Könige das ganze Land zur gut gedrillten Kaserne umfunktionierten, da entstanden Fabriken und Vorstädte in der damals modernsten Stadt der Welt. In London fand die weltumspannende Industrialisierung, die Globalisierung des 19. Jahrhunderts, ihren Höhepunkt. Auf den Schlachtfeldern von Verdun endete dann für Jahrzehnte jede Hoffnung auf eine menschliche Gesellschaft. Und New York, das ist das Symbol unserer Zeit, eine Megacity voller Geschwindigkeit und Größe. Das Wahrzeichen der Stadt waren die sogenannten Twin Towers. Dass ebenso naive wie gewissenlose Verschwörer glaubten, sie müssten nur die Türme zu Fall bringen, um auch die von ihnen verabscheute Modernität abzuschaffen, zeigt, wie mächtig diese Symbole sind.
Der Sichtbarmacher
Nicht alle Zeugnisse der Vergangenheit sind so leicht erkennbar. Was im sogenannten Neolithikum geschah, in der Jungsteinzeit, das war mindestens so revolutionär wie die Industrialisierung der Welt in unserer Zeit. Vielleicht sogar bedeutender. Nur sind die Zeichen jener Epoche längst verfallen, alle Holzhäuser und Hütten verrottet, die Töpferwaren zu Scherben zermahlen, die Steinwerkzeuge unter der Erdoberfläche verborgen. Und kein Korrespondent, kein Reisender hat seine Erlebnisse aus dieser Zeit für uns aufgeschrieben. Dabei hätten uns die Menschen des Neolithikums viel zu erzählen, denn sie vollzogen den Übergang zum Ackerbau und zur Sesshaftigkeit in festen Siedlungen. Wie sie bearbeiten wir immer noch das Land und leben heute in unserem wohlgeordneten Wohnviertel. Wir sind unseren Vorfahren viel näher, als wir denken. Um diese ferne und doch nahe Vergangenheit aufzudecken, braucht man eine ganz andere Art von Reisenden. Er zieht nicht in die Ferne, sondern gräbt sich ganz geduldig und maulwurfsartig großflächig nach unten in Richtung Erdmittelpunkt. Das ist der Archäologe.
In den alten Städten Europas hat man immer wieder bei Bauarbeiten in den Kellergeschossen Überreste von Gebäuden gefunden, auch Statuen, Vasen, Reste von Werkzeugen. In Rom gab und gibt es Stadthäuser, in denen Kellertreppen steil in die Tiefe führen, bis man finstere Räume betritt, die mit geheimnisvollen Wandmalereien bedeckt sind, Tempel und Paläste aus antiker Zeit. Über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg hatten die Menschen offenbar immer wieder neue Bauten auf die alten gesetzt und dabei immer höhere Schuttberge angehäuft, zu deren unteren Schichten es schließlich nur noch wenige, verborgene Zugänge gab. Es war also logisch, die Zeugnisse älterer Zeiten weiter unten im Erdboden zu suchen. Und was man dort fand, das änderte die gesamte Ansicht der Weltgeschichte. Nicht nur Reste jungsteinzeitlicher Siedlungen wurden sichtbar, sondern ganz unbekannte Kulturen. Die antike Welt von Mykene, mit ihren rätselhaften Kulten und ihren prachtvollen Palästen, wäre völlig im Dunkeln geblieben, hätte man sie nicht Stück für Stück ausgegraben. Unter der Erde lagen völlig neue Einsichten, von den Archäologen aufzublättern wie ein Buch.
Aber was wäre der Archäologe ohne sein Pendant, den Schreibtischtäter der Geschichtsschreibung? Während der Archäologe eine Entwicklung der letzten hundert Jahre ist, gibt es den Historiker schon sehr viel länger, vermutlich schon so lange, wie man miteinander spricht. Im fünften Jahrhundert vor der Zeitenwende lebte der berühmteste aller Geschichtsschreiber, Herodot von Halikarnassos. Schon die Römer kannten ihn als »pater historiae«, das heißt auf Deutsch »Vater der Geschichtsschreibung«. Er beschrieb in seinen sogenannten Historien den Krieg der Perser gegen die Griechen. Selbstverständlich bezog er dabei Partei, nämlich die seines eigenen Volkes, der Griechen. Aber er bemühte sich doch, die ganze Geschichte zu verstehen, auch was dem Angriff der Perser nämlich vorausging und wie das Perserreich überhaupt dazu kam, Griechenland anzugreifen.
Das ist Geschichtsschreibung, das Zusammentragen vieler Berichte, das Bewerten, das Erzählen des Ganzen in einer Geschichte. Bis heute ist allerdings umstritten, ob Herodot überhaupt je, wie er behauptete, seinen Schreibtisch verließ, um an die Orte des Geschehens zu reisen. Immerhin berichtete er von Ameisen in der Größe »zwischen einem Fuchs und einem Hund«, die in Indien Gold ausgruben. Das wirft doch einige Zweifel auf, meinen Sie nicht? Am besten sollten Sie auch dem Historiker nicht einfach glauben, sondern selber weitere Nachforschungen anstellen. Sie würden ja auch Ihrem Chef in der Firma nicht einfach glauben. Wenn man selber Bücher liest, weiß man schon mehr. Vielleicht fährt man auch einfach mal hin an den Ort des Geschehens. Dann sieht man schon, ob die Ameisen dort wirklich so groß sind, wie sie scheinen. Und ob sie wirklich nach Gold graben. Wir haben das gemacht, wir sind einfach mal hingefahren.
Lassen Sie uns, den Aufzeichnungen aus früherer Zeit, den Erkenntnissen aus vielen Ausgrabungen und der Geschichtsschreibung zweier Jahrtausende folgend, einen kleinen Streifzug durch die Weltgeschichte machen. Dabei gehen wir keinen geraden Weg, sondern ziehen durch die Landschaft unserer eigenen Geschichte, wie es uns gerade gefällt. Auf diese Art, da werden Sie mir zustimmen, lernt man doch unbekannte Gebiete am besten kennen. Es geht auf und ab, über Stock und Stein. Ab und zu erreicht man Aussichtspunkte, von denen man die weite Landschaft der Vergangenheit überblickt. Wir werden dabei vielleicht niemals die ganze, unendlich komplizierte Wahrheit und alle ihre Details gleichzeitig sehen können, denn wir haben ja nur zwei Augen, und beide unpraktischerweise auf derselben Seite des Kopfes. Aber wir können dort an unserem Standpunkt beginnen, einen ersten Überblick zu gewinnen. Dann können wir auch anfangen, aus der Geschichte zu lernen.
Und das wäre doch wirklich wünschenswert, meinen Sie nicht?