14. Wo die Erde den Himmel berührt

Jerusalem ist ein Ort, an dem mit Händen zu greifen ist, dass Religionsgeschichte nicht nur ein Teil der Geistesgeschichte ist, sondern Teil der politischen Weltgeschichte, in der es um Besitz- und Machtansprüche geht, um Territorien, um Ressourcen, um Geld. Auf dem Tempelberg drängen sich auf engem Raum die steinernen Zeugen dreier Traditionen: der jüdischen, der christlichen und der muslimischen. Zugleich aber stoßen mit den drei religiösen Weltsichten harte politische Positionen aufeinander. Was wir Religionskriege nennen, sind ja immer auch gewalttätige Auseinandersetzungen um höchst irdische Dinge, sind rücksichtslose Eroberungen und harte soziale Veränderungen. Selbst wenn zwei Religionen aufeinandertreffen, sind sich beide bald neidisch und kämpfen um Einfluss, Macht und Geld.

Gemeinsam ist den Religionen, die auf Abraham, Jesus und Mohammed zurückgehen, der Glaube an einen einzigen Gott. Alle drei verstehen sich als Religionen des Buches (Juden und Christen ist die Bibel heilig, den Muslimen der Koran) und als »Offenbarungsreligionen«, die sich darauf berufen, dass Gott sich ihren Propheten gezeigt, zu erkennen gegeben hat, wie es in den heiligen Schriften bezeugt ist, etwa in 2. Mose 33,11: »Der Herr aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Freund mit einem Freunde redet.« Judentum, Christentum und Islam unterscheiden sich durch diesen Glauben an einen einzigen Gott von allen Religionen, die die Welt und den Weg der Menschen durch die Geschichte mit der Präsenz und dem Wirken mehrerer Gottheiten erklären.

In Jerusalem, einer der ältesten Städte der Erde, bringen die archäologischen Ausgrabungen immer deutlicher an den Tag, in welchem Ausmaß vor allem der Tempelberg die historische Bedeutung der jüdischen, christlichen und islamischen Geschichte repräsentiert. Der Bezirk des vom jüdischen König Salomo um 950 v. Chr. erbauten, im Jahr 586 v. Chr. vom babylonischen Herrscher Nebukadnezar zerstörten, später wieder aufgebauten, von Herodes dem Großen völlig erneuerten und schließlich im Jahr 70 n. Chr. im Krieg mit den Römern endgültig zerstörten Tempels ist im Lauf seiner Geschichte zu einem Heiligtum für Juden, Christen und Muslime geworden. Die Juden verbinden den Berg mit Abraham, der auf dem Fels seinen Sohn Isaak opfern sollte, mit dem Allerheiligsten des Tempels sowie mit David und Salomo; die Christen mit der Predigt des Jesus von Nazareth; die Muslime mit dem Felsendom, dessen goldene Kuppel über die Altstadt leuchtet, und mit der benachbarten Al-Aksa-Moschee, vor allem aber mit der legendären Himmelfahrt Mohammeds, die von hier ihren Ausgang nahm.

Wenn es irgendwo auf diesem Planeten einen Ort gibt, an dem die blut- und hasserfüllte Geschichte von Juden, Christen und Muslimen auf einen Weg des Verstehens und Versöhnens gebracht werden könnte, dann wäre es der Tempelberg in Jerusalem. Die heutigen Zugangsregelungen spiegeln jedoch zunächst nur die unversöhnlichen Ansprüche, die den Ort zu einem der umstrittensten Plätze der Erde machen. Kann es wahr sein, dass hier der Himmel die Erde berührt? Betrachten wir – nach der jüdischen Religion zwei Kapitel zuvor – zunächst den Weg der Christen. Dem Islam werden Sie wieder begegnen, wenn im siebten Jahrhundert der Religionsstifter Mohammed in die Geschichte eintritt.

Der Glaube der Christen hat seine Wurzeln im Judentum. Wie in jeder Religion gehört auch im Judentum der ständige Abgleich zwischen Ideal und Lebenswirklichkeit zu den zentralen Aufgaben der Verantwortlichen. Hier aber ist dieser Prozess der Überprüfung besonders stark ausgebildet, weil die extremen Schicksalsschläge, von denen dieses machtlose Volk heimgesucht wurde, erklärt und diskutiert werden müssen: Wie können diese Ungeheuerlichkeiten geschehen, wenn der Gott des jüdischen Glaubens doch stärker als die anderen Götter, ja allmächtig ist, die ganze Welt erschaffen hat und sein Volk durch die Geschichte begleitet? Die Lösung dieser Frage fällt den Propheten zu, und deren Antwort lautet: Ihr habt euch alles selber zuzuschreiben, weil ihr vom rechten Weg abgewichen seid. Ihr selbst seid an allem schuld.

Diese Überlastung des Schuldbewusstseins lässt die Sehnsucht nach einem Ent-Schuldner, einem Erlöser, wachsen, der für alle Sünden des Volkes bezahlt. Unterschiedliche religiöse Bewegungen formulieren diese Sehnsucht nach einem Messias, der beim Untergang der Welt die Menschenseelen rettet. Wanderprediger rufen zur Umkehr zu den Werten der jüdischen Tradition auf, öffnen aber auch das religiöse Bewusstsein für neue Perspektiven. Einer von diesen Predigern ist Jesus von Nazareth, mit dem seine Anhänger ein neues Zeitalter heraufkommen sehen.

Als der römische Kaiser Augustus ein Imperium regiert, das von Kleinasien bis nach Britannien und von Nordafrika bis in die Wälder Germaniens reicht, wird in der galiläischen Provinz ein Junge geboren, der bald als Rabbi, als jüdischer Lehrer, durchs Land zieht und in seinem Umfeld zur Erneuerung von Religion und Moral aufruft, dabei in religiöse und politische Konflikte gerät und – im Zusammenspiel von jüdischen Würdenträgern und staatlichen Machthabern – als politischer Rebell zum Tode verurteilt und gekreuzigt wird.

Mit den historischen Tatsachen, die uns überliefert werden, verhält es sich mitunter merkwürdig. Das scheinbar Nebensächliche erreicht uns zweifelsfrei und mit einer Fülle an Details. Das aber, was wir vorrangig und sehr viel genauer geklärt haben möchten, entzieht sich unseren Blicken und bleibt im Nebel der Geschichte.

Müssen wir erfahren, dass König Herodes ein herausragender Sportler war, berühmt als Ringer und Speerwerfer, der nach griechischem Vorbild nackt und sorgfältig eingeölt trainierte? Reicht es nicht zu wissen, dass er – wie viele Machthaber vor und nach ihm – alle aus dem Weg räumte, die ihm den Thron hätten streitig machen können? Dass er andererseits aber ein durchaus weitsichtiger Herrscher war, der die Konflikte zwischen Römern, Juden und anderen Bevölkerungsgruppen nicht eskalieren ließ? Und dass ihm der sogenannte »bethlehemitische Kindermord« (mit Sicherheit) nicht anzulasten ist? Wie spärlich nehmen sich dagegen die Kenntnisse über Jesus von Nazareth aus, über den wir gern mehr, viel mehr in Erfahrung bringen möchten!

Andererseits aber ist der Glaube dort besonders stark, wo ihm das Wissen den Platz nicht streitig macht. Und eines auf jeden Fall ist gesichert: Jesus, die bedeutendste Gestalt der Weltgeschichte, zumindest der westlichen, war tatsächlich eine historische Person. Damit wir aber nicht unsere gesamte Zeitrechnung und damit die komplette Zivilisation in Frage stellen, finden wir uns, wie paradox das auch klingen mag, mit der Tatsache ab, dass er nicht im Jahr 4 v. Chr., sondern tatsächlich um die Zeitenwende das Licht der Welt erblickte und dass dies nicht – wie es die Bibel gern hätte – in Bethlehem, sondern in Nazareth geschah. Er dürfte mehrere Brüder und Schwestern gehabt haben und lernte den Beruf seines Vaters, der Zimmermann war. Mit rund siebzig Anhängern – darunter die zwölf Apostel und Maria Magdalena – zieht er im Jahr 30 n. Chr. zum Passahfest nach Jerusalem. Auch wenn Sie nicht bibelfest sind, dürfte ihnen der weitere Ablauf der Ereignisse in der Version der Heiligen Schrift bekannt sein.

Aber blicken wir noch einmal zurück in das Jahr 28, als Jesus seinen Beruf aufgibt und seine Familie verlässt. Sein erster Schritt in die Öffentlichkeit hat mit Johannes dem Täufer zu tun. Offenbar will Jesus das Lebenswerk dieses Bußpredigers fortsetzen, nachdem Herodes Antipas, einer der Söhne Herodes’ des Großen, den lästigen Moralisten Johannes hatte ermorden lassen. Jesus gibt dieser Nachfolge ein eigenes Gesicht. Er verzichtet darauf zu taufen, setzt auf das Wort und die helfende Tat. Er zieht sich nach Galiläa zurück und beginnt, Jünger um sich zu sammeln. Er erklärt, das »Reich Gottes« stehe unmittelbar bevor. Er erläutert diese Botschaft vor allem in Gleichnissen, zum Beispiel denen vom Unkraut unter dem Weizen oder vom Senfkorn, das am Anfang sehr klein ist, am Ende aber eine große Pflanze hervorbringt. Jesus erinnert an die Propheten, kritisiert die Verkrustung der Tradition und formuliert eine neue Freiheit: die Befreiung von religiös verbrämten Machtansprüchen und Bevormundungen. Sein früher Tod ermöglicht seinen Jüngern, das Wunder der Auferstehung als »frohe Botschaft« zu interpretieren und weiterzuentwickeln.

Die Umstände seines Todes lassen, trotz der Berichte seiner engsten Anhänger, viele Fragen offen: Die Hinrichtung durch öffentliche Kreuzigung war nach römischem Recht nur für politische Rebellen und Aufständische vorgesehen. Das jüdische Recht verbietet, dass Urteil und Vollstreckung an einem einzigen Tag stattfinden. Ganz undenkbar aber war eine Hinrichtung am Passahfest. Die Evangelien sehen dieses Problem und erklären den unerhörten Vorgang mit dem Zusammenwirken der römischen und der jüdischen Autoritäten und der ungewöhnlichen Einigkeit in diesem Verfahren iuxta legem, also einem Verfahren neben dem Gesetz.

Die Widersprüche der verschiedenen Überlieferungen lassen sich historisch nicht mehr auflösen. Das christliche Selbstverständnis hat sich jedoch davon unabhängig gemacht. Die Kirche der Anhänger Jesu übernimmt durch ihre Existenz die Garantie für eine authentische und ununterbrochene Verbindung zum historischen Jesus. An diesen Jesus werden die Kultformen des ersten und zweiten Jahrhunderts n. Chr. angekoppelt, um die Glaubenswelt der heidnischen Mysterien in der Geschichte des Jesus von Nazareth zu verankern.

Dies ist gelungen. Am Beginn des dritten Jahrtausends verstehen sich etwa 1,9 Milliarden Menschen als Christen. Sie alle berufen sich auf die geheimnisvolle und in jeder Hinsicht faszinierende Gestalt, die am Anfang steht und den Gläubigen den Namen gab: Jesus Christus. Das Profil des historischen Jesus ist zwar nur wie in einem Schattenriss zu erkennen. Aber trotzdem wird das Charakteristische und Einmalige der Gestalt und ihrer Wirkungsgeschichte sichtbar.

In den Jahrzehnten nach seinem Tod gibt es unter den Anhängern Jesu eine zunächst mündliche, dann auch schriftliche Überlieferung der Spruchweisheiten und Anekdoten seines Lebens, aber auch die Erzählung vom Tod und der Auferstehung Jesu. Unterschiedliche Autoren haben die Lebens- und Weltanschauung dieses Jesus von Nazareth aufgeschrieben, als Evangelium, als frohe Botschaft verbreitet und in ein Geschichtsbild eingefügt, das von der Vision bestimmt ist, dass alles Leben auf dem Planeten einem Ziel, einer Endzeit zustrebt, sich also nicht in einem ewigen Kreislauf wiederholt. Dieses Ziel wird als »Jüngstes Gericht« und »neue Schöpfung«, als »himmlisches Jerusalem« und als »Gottesherrschaft« charakterisiert. Der Anbruch der »Königsherrschaft Gottes« ist der zentrale Begriff in der Verkündigung des Jesus von Nazareth. Er bezeichnet zugleich das Ende der Geschichte und den Beginn von Frieden und Wohlstand. Nach dieser Vision ist das Ende der gegenwärtigen Welt mit Krieg und Verwüstung, Umweltkatastrophen und kosmischen Desastern verbunden. Zu dieser apokalyptischen Weltsicht gehört auch die Erwartung, dass Weltende und Neubeginn unmittelbar bevorstehen.

Jesus bleibt also im Rahmen der jüdischen Endzeiterwartung. Seine Anhänger haben dieses Geschichtsbild weiterentwickelt, nachdem das Weltende nicht stattgefunden und die Historie ihren Lauf genommen hatte. In der Urgemeinde entsteht daraufhin die Idee der Kirche. Sie ist die Gemeinschaft, die in Jesus den erwarteten Messias, den Christus, den Gesalbten, sieht, mit dessen Erscheinen die Gottesherrschaft begonnen hat, aber nicht vollendet ist.

Unter dem Einfluss des ersten großen christlichen Theologen, des Apostels Paulus, öffnet sich die Gemeinde für die hellenistische Kultur und die außerjüdische Welt. Die Dialektik zwischen »schon jetzt« und »noch nicht« wird für das Schicksal des Einzelnen fruchtbar gemacht. Dennoch bleibt das Christentum eine auf die Zukunft ausgerichtete Religion, die sich in einer Verantwortungsethik verwirklicht. Die Geschichte ist eine Entscheidungssituation, die nur vom Ende her gedacht und bewältigt werden kann. Die Zeit ist nicht mehr chronos, die ablaufende Zeit, die ihre Kinder frisst, sondern kairos, der Moment der Entscheidung.

Die Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten ist nicht auf staatliche Förderung oder gar auf militärische Eroberungen zurückzuführen. Im Gegenteil: Die Zahl der Christus-Anhänger wächst trotz Unterdrückung und Verfolgung. Dabei spielt sicherlich die Faszination für die Person Jesu eine Rolle. Aber die Anmutung eines Heimat gebenden Gemeindelebens dürfte ebenso entscheidend gewesen sein: die Solidarität unter den zumeist armen Mitgliedern und die Atmosphäre von Hoffnung und Zukunftskraft.

Wo immer das Christentum Fuß fassen konnte, veränderte es die Kultur der Bevölkerung. Das Vehikel der Christianisierung war die Bildung; eine ihrer wirksamsten Antriebskräfte waren die Mönche, die in der Geschichtsschreibung meist zu kurz kommen. Die Mönchsorden, die in ihren Klöstern Gemeinschaften bildeten, verankerten Glauben, Kultur und Zivilisation im Leben der Menschen. Benedikt von Nursia wird auf diese Weise Anfang des sechsten Jahrhunderts nicht nur zum Begründer der späteren Mönchsorden, sondern auch der Vater der europäisch-christlichen Kultur. Die Mönche bearbeiteten das Land, kultivierten es, führten landwirtschaftliche Techniken ein und nutzten die Kenntnis des Lesens und Schreibens nicht nur, um die Texte der Bibel abzuschreiben und zugänglich zu machen, sondern gleichzeitig auch, um die ursprüngliche Literatur der christianisierten Völker zu erhalten und zu fördern. Sie beschränkten sich nicht auf religiöse Mission, sondern gaben auch naturkundliches und medizinisches Wissen weiter. Sie überlieferten die Kenntnisse des Ackerbaus, der Obst- und Weinkultur. Sie vermittelten die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens und verbreiteten die Kenntnis der lateinischen Sprache, in der ja die Kultur der Griechen und Römer noch lebte. Die Mönche erledigten auch die Schreibarbeit regierender Fürsten, so dass sie im Lauf der Zeit auch Einfluss auf die Politik nehmen konnten.

Weitab von jeder Politik und abseits aller Bildungs- oder Herrschaftsfragen gab es jedoch im Mittelalter auch innerkirchliche Bewegungen, die allein durch ihr Streben nach den urchristlichen Idealen der Nächstenliebe und der Armut Anziehungskraft ausübten und Anhänger fanden. Exponenten dieser Lebensweise waren Franz von Assisi (1181–1226) und die Bettelorden, die durch ihren Verzicht auf Privateigentum der aufkommenden Geldwirtschaft und der Fixierung des Denkens auf Profit entgegensteuern wollten. Für Franz von Assisi war es wichtig, die Kerngedanken des Christlichen aufrechtzuerhalten und mit tätiger Hilfe für Arme und Kranke ein Gegengewicht zur zügellosen Geldgier zu schaffen.

Seine Gedanken fanden auch in Deutschland ein lebhaftes Echo. In Thüringen zum Beispiel übernahm Elisabeth, die junge Frau des Landgrafen Ludwig IV., das Armutsideal des Franz von Assisi. Sie gründete 1223 ein Hospital in Gotha, in dem sie auch selber tätig war. Sie gab sogar Teile ihres Vermögens an die armen Landeskinder weiter. Damit provozierte sie allerdings den thüringischen Hof, der sie nach dem Tod ihres Mannes – er starb 1227 auf einem Kreuzzug – vertrieb. Elisabeth ging nach Marburg, baute dort ein Krankenhaus und pflegte Aussätzige. Als sie starb, war sie gerade 24 Jahre alt. 1235 wurde sie heiliggesprochen. Im Jahr darauf nahm der Stauferkaiser Friedrich II. an der Hebung ihrer Gebeine teil. In einer Mönchskutte folgte er demütig dem Sarg der Fürstin.