Das Lindenblatt war schuld. Es heftete sich auf eine Stelle zwischen Siegfrieds Schulterblättern und hielt das Drachenblut fern, in dem der Held gebadet und sich damit (fast) unverwundbar gemacht hatte. Der zielsichere Hagen von Tronje hatte nun keine Mühe mehr, seinen Erzfeind Siegfried tödlich zu treffen.
Da mag sich die Loreley, da mögen sich andere Sagenheldinnen und -helden noch so anstrengen – Siegfrieds Tod ist so etwas wie die Urszene der deutschen Mythologie, und das »Nibelungenlied« ist nicht zu Unrecht mit dem Ehrentitel einer »deutschen Ilias« ausgezeichnet worden. Den Stamm der Burgunder, deren Leben und Sterben das Epos schildert, umgibt seither ein tragischer Glorienschein. Aber noch ein anderes Volk ist uns durch das Heldenlied markant – freilich mit dämonischem Beigeschmack – im Gedächtnis geblieben: die Hunnen.
Deren Invasion ab der Mitte des vierten Jahrhunderts betrachten manche Forscher als die entscheidende Ursache für den Untergang des römischen Imperiums. In der Tat war es Rom immer schwerer gefallen, seine Grenzen im Nordosten zu verteidigen. Bereits in der Regierungszeit des Augustus, im Jahr 9 n. Chr., war ein römisches Heer unter Publius Quinctilius Varus in der Schlacht am Teutoburger Wald, höchstwahrscheinlich bei Kalkriese am Wiehengebirge, von den Cheruskern unter Arminius besiegt worden. Kaiser Domitian (81– 96) nahm Zuflucht zum Bau eines Grenzwalls und ließ den Limes errichten, der allein an der obergermanisch-raetischen Grenze in seinem Endstadium (159 – 260) etwa 550 Kilometer lang war. Später musste Aurelian (270 – 275) sogar eine Mauer um die Stadt Rom ziehen.
Das Römische Reich befand sich durch die im vierten Jahrhundert einsetzende Völkerwanderung, die das Eindringen germanischer Stämme zur Folge hatte, in einem permanenten Kriegszustand. Es verlor nach der verheerenden Niederlage von Adrianopel 378 gegen die terwingischen Goten, die auf der Flucht vor den Hunnen waren, zunehmend die Kontrolle über seine westlichen Provinzen. Theodosius I., in dessen Regierungszeit (379 – 395) das Imperium letztmalig vereint war, gewährte den Siegern unter dem Druck eines Friedensvertrags etwas bis dahin Unvorstellbares: Sie erhielten die Erlaubnis, südlich der Donau unter Beibehaltung ihrer Sitten und Gebräuche zu siedeln. Damit durfte erstmals ein fremdes Volk im Römischen Reich ansässig werden.
Nach Theodosius’ Tod wurde sein Sohn Honorius Herrscher im Westen und sein Sohn Arcadius Herrscher im Osten des Imperiums. Wenn auch formal die Einheit weiter bestand, war das der endgültige Schritt zur Teilung in ein Oströmisches und ein Weströmisches Reich. Wie die Brennpunkte einer Ellipse lagen jetzt Konstantinopel und Rom auf der politischen Landkarte: Ostrom mit Ägypten, Palästina, Griechenland, Makedonien und Kleinasien, Westrom mit Italien, Nordafrika, Gallien, Spanien, Germanien und Britannien.
Und Westrom geriet immer mehr unter den Einfluss der Germanen. 410 plünderten die Westgoten, die vorher schon Konstantinopel und Athen bedroht hatten, die Stadt Rom. 455 folgten ihnen darin die Vandalen; der an diese Eroberung angelehnte Ausdruck »Vandalismus« kam erst im 18. Jahrhundert auf.
Aber zunächst einmal waren die Hunnen am Zug. Diese in Zentralasien beheimateten Reiternomaden hatten sich zu Beginn des dritten Jahrhunderts im Gebiet der heutigen Mongolei zu einem Großreich zusammengeschlossen und befanden sich seitdem in einer Art Dauerkrieg mit China. Die Chinesen hatten zuvor ihrerseits unter ihrem ersten Kaiser Ch’in die Reichsgrenze weit nach Norden verschoben und bedrohten nun die besten Weidegründe der Reiternomaden. Darauf antworteten die Hunnen (chin. Hsiung-nu) wiederum mit eigenen Offensiven. Als Schutzwall gegen die Hunnen (und später die Mongolen) entstand in China ab 215 die »Große Mauer«, die sich aus Erdhügeln und Holzpalisaden zu einem massiven steinernen Bollwerk entwickelte und im Endausbau eine Länge von 2500 Kilometern erreichte.
Ab etwa 370 trieben die Hunnen ihre Expansion nach Westen voran und lösten mit der Unterwerfung verschiedener germanischer Stämme im Südosten Europas eine fast den ganzen Kontinent umfassende Fluchtbewegung aus: die Völkerwanderung. Bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts konnten sie ihren Machtbereich auf ein Territorium von Mittelasien und dem Kaukasus bis zur Donau und schließlich bis an den Rhein ausweiten. Hier schlugen sie 436 – in einer kurzzeitigen Allianz mit dem römischen Feldherrn Aetius – auch die Burgunder, die sich zwischen Mainz und Worms niedergelassen hatten. Die Vernichtung ihres Reiches könnte den Tatsachenkern des Sagenkomplexes um Siegfried und Kriemhild bilden, der den Untergang der Burgunder schildert.
Besonders markant sind die Geschehnisse um den Stammesfürsten Attila (406 – 453), den König Etzel des »Nibelungenlieds«, der sich nach der Beseitigung seines Bruders und Mitregenten im Jahre 444 an die Spitze der hunnischen Reiterhorden gesetzt hatte. Er schickte einen Boten zum weströmischen Kaiser und verlangte von ihm die Hälfte des Reiches und die Kaisertochter als Ehefrau. Kaiser Valentinian III. (419 – 455) lehnte ab und stellte 451 auf den Katalaunischen Feldern in der Champagne seinen Feldherrn Aetius dem Angreifer entgegen. Die Schlacht führte zum Rückzug der Hunnen. Sie zogen über die Ostalpen in Richtung Rom. In höchster Not – ein militärischer Sieg über die heranrückenden Heere schien ausgeschlossen – ritt Papst Leo dem Hunnenherrscher entgegen, um mit ihm zu verhandeln. Wider Erwarten konnte er ihn zur Umkehr bewegen (453). Das Weströmische Reich schien noch einmal gerettet.
Aber ein Unglück kommt selten allein. Mit Attila trat auch der germanische, in römischen Diensten stehende Heerführer Odoaker (um 433 – 493) auf den Plan. Er erklärte sich zum König aller Germanen in Italien, nahm Ravenna als Hauptstadt und setzte 476 den erst neunjährigen Romulus Augustulus nach nur einem Jahr Regierungszeit als letzten weströmischen Kaiser ab. Damit schrieb er Weltgeschichte: Er beendete im Westteil das einst so mächtige tausendjährige Imperium der Römer.
Doch schon schickten sich die Ostgoten an, Odoaker zu vertreiben. 493 erreichten sie, von Osten her kommend, Italien. Theoderich der Große (451/56 – 526), ihr mächtiger König, lud Odoaker und seinen Sohn zu einem Friedensmahl ein, das diese nicht überlebten. In Ravenna entstanden die unter Theoderich begonnenen, heute noch berühmten Kirchen mit ihren kostbaren Ausstattungen. Die Mosaiken von Sant’ Apollinare und San Vitale gehören jetzt zum Kulturgut der Menschheit. Macht schließt weder Verbrechen noch Kunst aus.
»Goten und Italiker liebten ihn sehr«, rühmte einige Jahrzehnte später der byzantinische Geschichtsschreiber Prokop den großen Theoderich. Sein gewaltiges Grabmal in Ravenna, schon zu Lebzeiten errichtet, spiegelt die eigenständige germanische Weiterführung des antiken Erbes. Auch Theoderich hatte ein literarisches Nachleben: In der fiktiven Gestalt des Dietrich von Bern erhielt er einen Ehrenplatz im »Nibelungenlied« und wurde zu einer der bekanntesten Sagenfiguren des deutschen Hoch- und Spätmittelalters.
Als das »Nibelungenlied« um 1200 irgendwo im Donaugebiet aufgezeichnet wurde, waren die Hunnen längst wieder aus der Geschichte verschwunden. Schon Ende des fünften Jahrhunderts verlor sich die Spur ihres Reiches. Auf wenig kriegerische Weise hatte sich zuvor der gefürchtete Attila von seinem Volk verabschiedet. Er starb im Jahr 553 – möglicherweise durch einen Blutsturz – während einer ausschweifenden Hochzeitsfeier, nachdem er soeben seinen üppigen Harem durch die germanische Prinzessin Ildiko erweitert hatte.