16. Allah unaufhaltsam

Sie ist wahrscheinlich der größte und unhandlichste Würfel. Auf jeden Fall aber gehört sie zu den berühmtesten Gebäuden der Welt. Und für die Muslime ist sie sogar ihr Zentrum: die heilige Kaaba (arab. = Kubus). Siebenmal ist sie von den Pilgern zu umrunden, wenn sie den Weg hierhergefunden haben. Die Reise nach Mekka gehört zu den fünf Säulen, den heiligen Pflichten des Islam, die außerdem das Glaubensbekenntnis, das rituelle Gebet, die Almosensteuer und das jährliche Fasten umfassen. Schon in vorislamischer Zeit wurde die Kaaba, in deren Wände ein schwarzer Stein, ein Meteorit, eingelassen ist, von den arabischen Stämmen als Heiligtum verehrt. Das erste Gotteshaus des Islam wurde sie erst 632, im Todesjahr Mohammeds.

Nicht nur am Anfang der christlichen und jüdischen Religion, sondern auch am Anfang des Islam (wörtlich: Ergebung in Gottes Willen) steht eine charismatische Persönlichkeit: Abu ’I-Qasim, der schon früh Mohammed, d. h. der Gepriesene, genannt wird. Als Letzter der großen Religionsstifter ist er eine historische Person.

Wahrscheinlich im Jahr 571 wird er in Mekka geboren. Dass er die Welt verändern würde, ist nicht von Anfang an zu erkennen. Seine Stadt ist fast ein Außenposten der Zivilisation. Nur Handelskarawanen ziehen durch die lebensfeindliche Wüste zwischen dem Roten Meer, dem Persischen Golf und dem Arabischen Meer. Es gibt keine Zentralgewalt, keinen Staat, keine Gesetze. Als Ordnungsmacht fungieren die nomadisch lebenden Sippen.

Mohammed gehört zur Sippe der Haschemiten. Seine Familie besitzt das Privileg, im Zentrum von Mekka die Pilger mit Wasser zu versorgen. Die Menschen kommen zur Kaaba, um ihren Göttern zu opfern. Kurz nach Mohammeds Geburt stirbt der Vater. Das Kleinkind wird, wie es in Mekka üblich ist, in die Obhut von Beduinen gegeben. Es soll ihren Stolz erlernen und Wüstenluft atmen. Als Mohammed zu seiner Mutter Amina zurückkehrt, ist auch sie schon vom Tod gezeichnet. Der Junge wächst bei seinem Onkel Abu Talib auf und hütet dessen Kamele und Schafherden. Er darf ihn auf Geschäftsreisen begleiten. Diese Reisen führen ihn bis nach Bosra in Syrien. Mohammed lernt den geschäftlichen Umgang mit Handlungsreisenden, erlebt den Glanz der persischen Kultur und hört auch von Abraham, Moses, David und Jesus. Er begegnet einem christlichen Mönch namens Bahira und ist von dessen Spiritualität beeindruckt. Die Askese des Mönchs kann und will er jedoch nicht übernehmen: »Wohlgerüche, Frauen und Gebete sind mir die schönsten Dinge auf Erden.«

Mohammed ist ein heiterer, lebensfroher Mensch. Er heiratet die 15 Jahre ältere Khadija, lebt zwanzig Jahre mit ihr monogam zusammen und hat sieben Kinder mit ihr. Er lebt in Mekka und opfert an der Kaaba den Göttern seiner Sippe. Als er vierzig Jahre alt ist, gerät er jedoch in eine tiefe Lebenskrise. Er vernachlässigt seine Pflichten und irrt wie ein Kranker umher: fiebrig, verwahrlost und in zerrissenen Kleidern. Er stellt alle Sitten und Gebräuche seiner Umgebung in Frage. Auf dem Tiefpunkt seines Ausstiegs trifft ihn jedoch ein religiöses Erweckungserlebnis: Er sieht in einer Vision den Engel Gabriel, der ihm ein beschriftetes Seidentuch hinhält und ihn, den Analphabeten, auffordert zu lesen. Eine Stimme spricht ihn als Gesandten Gottes an.

In völliger Verwirrung zieht Mohammed sich zurück. Er sieht sich selbst als von Dämonen besessen. Schließlich akzeptiert Mohammed jedoch seinen Zustand und interpretiert ihn als göttliche Berufung. Er beginnt, als Verkünder göttlicher Weisungen aufzutreten. Seine Aussprüche werden von Freunden auf Papyrus, Palmenholz oder Tierhäuten niedergeschrieben. Diese Aufzeichnungen bilden den Grundstock des Koran (wörtlich: Vorlesetext).

Die gläubigen Muslime sind überzeugt, dass Allah Autor der Sprüche und Gedanken ist, die Mohammed als Medium im Zustand seelischer Trance empfängt. Der Text des Koran gilt als »Wort Gottes«, ähnlich wie in der christlichen Inspirationstheorie die Bibel als unmittelbare göttliche Offenbarung. Für den gläubigen Muslim ist es selbstverständlich, dass Allah sich der arabischen Sprache bedient und Mohammed sein endgültiger Prophet ist, der – nach Moses und Jesus – die Offenbarung vollendet.

Mohammeds Verhältnis zum Christentum ist ambivalent. Der Koran sieht in Jesus einen Vorläufer des Propheten. Jesus ist der Messias, der künftige Weltenrichter, einer der großen Gesandten Allahs. Aber er ist nicht Gottes Sohn, weil Gott nicht gezeugt wurde und nicht gezeugt hat. Auch die Vorstellung von einem Gott in drei Personen ist dem Koran fremd. Er sieht darin einen Rückfall in die Vielgötterei. Maria ist für ihn ein »Zeichen für die Menschheit« – die Mutter Jesu, aber nicht die Mutter Gottes.

Mohammeds Verhältnis zum Judentum ist ebenfalls ambivalent und hat sich im Lauf seines Lebens ins Negative entwickelt. Ursprünglich sieht Mohammed in den Juden seine natürlichen Verbündeten, weil die »Kinder Israels« für ihn die Einzigen neben ihm sind, die an den einen Gott glauben und denen die Vielgötterei ein Gräuel ist. Im Koran werden die Kinder Israels vierzig Mal erwähnt. Mohammed sieht sich selbst in der Tradition der großen Propheten Israels und identifiziert sich mit Noah, Abraham und Moses. In Abraham sieht er den Urahn auch der Araber, einen wahren Muslim, der sich seinem Gott rückhaltlos unterwirft und sogar bereit ist, seinen eigenen Sohn als Opfer darzubringen.

Mohammed denkt aber nicht nur in religiösen Dimensionen. Er denkt immer auch politisch. Er geht lange davon aus, dass die Juden von Medina, wohin er ausgewandert ist, den Glauben ihrer Väter aufgeben und sich ihm anschließen werden. Erst als seine Erwartungen sich nicht erfüllen, beginnt er, sich von den Kindern Israels zu distanzieren. Er ändert die Gebetsrichtung der Muslime von Jerusalem nach Mekka. Am Ende entledigt er sich der Juden von Medina aus politischen Gründen – er sieht in ihnen ein Sicherheitsrisiko und vertreibt sie aus der Stadt. Er lässt ihre Palmen niederhauen als Zeichen der Endgültigkeit.

Mohammed versteht sich also nicht nur als Medium göttlicher Offenbarung und als gesellschaftskritischer Prophet. Er handelt auch politisch und übernimmt militärische Verantwortung. Als am 21. März des Jahres 625 vor den Toren Medinas ein starkes mekkanisches Heer auftaucht, um ihn und seine Anhängerschaft zu vernichten, ergreift Mohammed die Rolle des militärischen Führers. Er reitet mit 700 Mann der Übermacht entgegen. Die Mekkaner sind, wenn die Quellen richtig zählen, mit 3000 Mann zu Fuß, 3000 Kamelreitern und 2000 Reitern zu Pferde angerückt. Die Schlacht am Berg Uhud ist blutig. Mohammeds Streitkräfte behalten die Oberhand, verfolgen die Gegner aber nicht bis nach Mekka. Mohammed benutzt nur die Gelegenheit, mit seinen innenpolitischen Gegnern, vor allem den Juden, abzurechnen.

Mohammed schafft jetzt ein Herrschaftssystem, das sich als Gottesstaat definiert und sehr bald despotische Züge annimmt. Jede Kritik oder Infragestellung wird unterbunden. Politik und Religion werden fest ineinander verflochten. Was gegen die Religion verstößt, ist auch gegen den Staat gerichtet und umgekehrt. Mohammed wächst in die Rolle eines absolut regierenden Staatsoberhauptes. Mit den Worten der modernen Staatslehre kann man sagen: Mohammed vereinigt in seiner Hand die Legislative, die Exekutive und die Judikative, aber darüber hinaus auch die oberste Priesterschaft. Es gibt keine von der Staatsgewalt unabhängige Justiz und auch keine unabhängige religiöse Autorität. Die Trennung von religiöser und profaner Wirklichkeit, von Religion und Staat ist dem Islam immer fremd geblieben.

Als Mohammed am 8. Juni 632 stirbt, ist die Trauer unter seinen Anhängern unermesslich. Viele Gläubige waren überzeugt, der Prophet werde niemals sterben. Jetzt wird die ganze historische Dynamik seiner religiösen und gesellschaftlichen Weltsicht offenbar. Bereits 25 Jahre später gehören Syrien, Ägypten und Nordafrika bis nach Marokko zum Islam. Einhundert Jahre danach stehen muslimische Truppen in Zentralasien, im Indus-Tal, im heutigen Pakistan, Buchara und Samarkand. Die Kalifen (Mohammeds »Stellvertreter« oder »Nachfolger«) haben mit ihren Heeren aus arabischen Beduinen ein Gebiet von Spanien bis Indien erobert.

Was ist der Grund für die rasante militärische Ausbreitung des Islam? Gesellschaftliche Systeme, deren wirtschaftliche Grundlage vor allem durch kriegerische Raubzüge gesichert wird, verlieren den Nachbarn als Beuteobjekt, wenn dieser muslimisch wird. Da es verboten ist, gegen Glaubensbrüder kriegerisch vorzugehen, gehört ein Nachbar, der den muslimischen Glauben angenommen hat, zum Inneren der Glaubensgemeinschaft, der Umma. Erst jenseits seiner Grenze darf wieder Beute gemacht werden. Also muss man die Grenze zu den Ungläubigen so schnell wie möglich überschreiten, weil nur so noch Reichtümer zu gewinnen sind.

Ein anderer wichtiger Faktor des gewaltigen Eroberungszuges war, dass die Muslime es den Besiegten leicht machten, sich zu unterwerfen, wenn diese wie sie selber an einen Gott glaubten und heilige Schriften besaßen. Das war vorrangig bei Juden und Christen der Fall. Ihre Religionen galten als verwandt mit dem Islam. Gegen Zahlung einer Steuer konnten sie weiter ihrem Glauben anhängen und standen unter dem Schutz der Kalifen.

Gleichwohl sieht die monotheistische Dogmatik des Islam in der eigenen Religion die absolute Wahrheit. Neben Allah kann deshalb keine andere Gottheit geduldet werden. Wer nicht an Allah und nicht nur an Allah glaubt, versagt ihm den schuldigen Respekt und versündigt sich. Deshalb darf die Anerkennung des Universalherrschers und seines Propheten im Prinzip auch mit Gewalt erzwungen werden. Die historische Realität des Eroberungszuges kannte aber sehr wohl auch Beispiele der Toleranz.

Ohne den religiösen Ansporn, der die Araber vorantrieb, wäre ihr Sturmlauf über drei Kontinente allerdings nicht möglich gewesen. »Setzt euch ein für die Sache Allahs«, hatte Mohammed befohlen. An diesem Einsatz für die Verbreitung des Islam teilzunehmen, war deshalb eine heilige Pflicht. Wer sich dem Zug anschloss, erhielt beim Sieg ein Stück von der Beute. Wer im Kampf fiel, auch das hatte Mohammed gelehrt, auf den warteten die Wunder des Paradieses. Diese Motivation feuerte die Araber an.

Wie die militärische Ausbreitung begann auch der Sklavenhandel sehr bald nach dem Tod des Propheten. Den religiösen Vorschriften entsprechend war die Rekrutierung von Sklaven natürlich nur außerhalb der Grenzen der islamischen Glaubensgemeinschaft möglich. Im Jahr 652 zwang der Emir Abdallah ben Said den nubischen König Khalidurat, jährlich 360 männliche und weibliche Sklaven zur Verfügung zu stellen. Seither wurden, nach seriösen Schätzungen, bis ins 20. Jahrhundert etwa 17 Millionen Afrikaner Opfer des arabischen Sklavenhandels.

Zu den Gründen für die rasche Ausbreitung des Islam gehört auch die Tatsache, dass die damaligen Nachbarn der islamischen Staaten keine ebenbürtigen Gegner mehr waren. Sie waren politisch und militärisch geschwächt. Byzanz zum Beispiel war gelähmt durch die innerchristlichen Auseinandersetzungen um das Wesen Christi: ob Jesus ein Mensch oder Gott oder beides sei.

Auch die in Spanien herrschenden Westgoten waren durch innere Konflikte zerrissen. Sie hatten deshalb den von den Arabern islamisierten Berberstämmen (Mauren), die ab 711 von Nordafrika auf die Iberische Halbinsel vordrangen, nichts entgegenzusetzen. Zwar wurde ihr Versuch, auch Gebiete nördlich der Pyrenäen zu erobern, in der Schlacht von Tours und Poitiers (732) vom fränkischen Hausmeier Karl Martell abgewehrt, aber der größte Teil des heutigen Spanien geriet unter islamische Herrschaft.

Jahrhunderte hindurch sorgten die Mauren für eine funktionierende Landwirtschaft, ein vielseitiges Handwerk und ein intensives geistiges Leben, an dem auch Christen und Juden teilhatten. Vor allem von Córdoba und auch von Granada aus, wo im 13./14. Jahrhundert mit der Alhambra eines der großartigsten Zeugnisse islamischer Baukunst entstand, strahlte der Glanz der arabischen Kultur in das abendländische Mittelalter. Spanien wurde so auch zur Schaltstelle für den orientalisch-europäischen Wissens- und Wissenschaftstransfer, der nicht nur die arabischen Zahlen und die Algebra, sondern auch technische Innovationen und medizinischen Fortschritt an das Abendland weiterreichte. Mit dem Fall von Granada (1492) endete die Reconquista, die Rückeroberung der von den Mauren besetzten Gebiete durch christliche Heere. Spanien konnte sich nun anderen Dingen zuwenden wie der Entdeckung neuer Kontinente durch Christoph Kolumbus.

Im Geist des unduldsamen Katholizismus wurden 1492 die meisten Juden und bis Anfang des 17. Jahrhunderts die fast 300 000 im Land verbliebenen Mauren aus Spanien vertrieben. Das Königreich amputierte sich durch diesen Aderlass selbst.