17. Ein Landweg für Schiffe

Um das Jahr 1000 war in Kleinasien ein neues Volk aufgetaucht – die Türken. Sie kamen aus Zentralasien und waren Muslime geworden. Sie drangen vor bis über den Bosporus. Der osmanische Sultan Mehmed der Eroberer erhielt seinen Beinamen zu Recht. Er kannte sich in den wichtigsten Wissenschaften aus und konnte sich in sechs Sprachen unterhalten. Vor allem aber konnte er rechnen. Er ging davon aus, mindestens 70 000 eigene Soldaten für den Angriff aufbieten zu können. Die Verteidiger, so kalkulierte er, würden selbst mit Unterstützung durch die Seemächte Genua und Venedig und weitere Hilfstruppen kaum 10 000 Mann in die Schlacht schicken können.

Das beruhigte ihn keinesfalls. Der Sultan konnte auch denken. Byzanz war keine Stadt, sondern eine Festung mit allem, was dazugehörte. Eine der sichersten und wehrhaftesten in der ganzen bekannten Welt. Tausend Jahre lang hatte sie alle Attacken abgewehrt. Das wog einen Teil der numerischen Übermacht wieder auf.

Deshalb hatte Sultan Mehmed vorgesorgt. Frühzeitig hatte er sich der Fachberatung eines kooperationswilligen Christen, Urban mit Namen, versichert. Der Spezialist für schwere Waffen war zuvor beim byzantinischen Kaiser abgeblitzt, weil Konstantin XI.mit dem von Urban geforderten Honorar nicht einverstanden war. In Mehmed traf er nun auf einen Herrscher, der nicht nur alle Salärwünsche erfüllte, sondern endlich auch den schweren Geschützen, die er im Angebot hatte, die nötige Beachtung schenkte. Vor dem Kampf um Konstantinopel waren Kanonen eher zur akustischen Abschreckung des Feindes eingesetzt worden, Sultan Mehmed aber ließ sich von ihrer Funktion als Kriegswaffen überzeugen, die sich in der offenen Feldschlacht, aber erst recht bei der Belagerung von Festungen einsetzen ließen.

Also ging Urban ans Werk, um seinen Arbeitgeber mit einer starken Artillerie zu versorgen. Der Sultan, der ein Technik-Freak war, schaltete sich persönlich in die Kaliberdefinitionen und die Ballistikberechnungen ein. In einem Dreivierteljahr entstanden ab Mitte 1452 in Urbans Werkstatt 69 Kanonen mit unterschiedlicher Feuerkraft, darunter riesige, nie zuvor gesehene Geschütze. Das größte von ihnen, das sogenannte Konstantinopel-Geschütz, hatte eine Rohrlänge von über acht Metern und einen Durchmesser von 75 Zentimetern. Der Sultan hatte Glück, dass sein Feuerwerker erst nach der Fertigstellung des Waffenparks starb (an einem Rohrkrepierer). Er war von Urbans Arbeit begeistert. Beruhigt, was die kommende Schlacht anging, war er noch immer nicht.

Das schafften auch die serbischen Mineure nicht, die Mehmed angeworben hatte, um durch Tunnelgrabungen und unterirdische Explosionen die Festungsmauern zum Einsturz zu bringen oder wenigstens zu beschädigen. Der Sultan war sich darüber im Klaren, dass dies auf der Gegenseite auch geschehen und der Kampf dann unter Tage fortgesetzt würde. Auch die osmanische Kriegsflotte, die mittlerweile weit über hundert Schiffe aufbieten konnte, schaffte es nicht, ihn in Sicherheit zu wiegen. Er kannte die Kampfstärke der feindlichen Boote, und vor allem kannte er die massive Sperre, die die Byzantiner errichtet hatten, um die türkische Flotte am Einlaufen in das Goldene Horn zu hindern.

Deshalb hatte er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht. Sultan Mehmed neigte allerdings nicht dazu, seine Pläne frühzeitig an seine Kriegsherren weiterzugeben. Vor allem nicht, wenn sie so verwegen waren wie jetzt. So waren zunächst die eigenen Truppen verwirrt, bevor auch die Belagerten fassungslos mit ansehen mussten, was sich auf dem Bergrücken des Goldenen Horns abspielte: Die türkischen Schiffe segelten auf dem Landweg in Richtung Festung.

Der osmanische Chefbelagerer hatte die Quadratur des Kreises geschafft, indem er eine Schiffstransportstraße anlegte, um die gesperrte Hafeneinfahrt zu umgehen. Bergaufwärts wurde eine Fahrrinne gegraben und mit Balken ausgelegt. Dann wurde das Holz mit einer dicken Fettschicht überzogen. Mit im Wind flatternden Segeln und der Unterstützung durch sechzig Ochsen sowie zahlreiche Seeleute der Kriegsflotte, die die Seile zogen, glitten die Schiffe wie Schlitten den Berg hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter.

Das Unternehmen lief wie geschmiert und versetzte den Byzantinern einen Schock. Ihre Boote konnten nun die Häfen im Goldenen Horn nicht mehr verlassen. Außerdem mussten sie Truppen heranführen, um die Frontmauern der nun fast völlig umzingelten Stadt auch nach dieser Seite hin zu sichern – Truppen, die an anderer Stelle Lücken rissen.

Die christliche Festung Konstantinopel konnte sich noch weitere fünf Wochen, bis zum 29. Mai 1453, halten. Aber das waghalsige Unternehmen der Türken, eines der merkwürdigsten maritimen Manöver der Kriegsgeschichte, war so etwas wie der Anfang vom Ende.

Mindestens ebenso merkwürdig mutet etwas anderes an: Wie hatte sich nach dem Untergang des Weströmischen Reiches der oströmische Teil mit seiner Hauptstadt Konstantinopel – zumindest staatsrechtlich – noch ein ganzes Jahrtausend halten können? Kurzer Rückblick auf ein erstaunlich langlebiges Provisorium.

Natürlich könnten Sie auch »Byzanz« sagen. Dieser Name ist, wie Sie gemerkt haben, gleichbedeutend mit der Bezeichnung »Konstantinopel« und wurde in der Neuzeit rückblickend auf das ganze Oströmische Reich ausgedehnt. Byzanz war in seinen Anfängen im sechsten Jahrhundert geprägt von römischem Staatswesen, christlicher Religion und hellenistischer, das heißt griechisch inspirierter Kultur. Seine Einwohner fühlten und bezeichneten sich selbst als Römer und erlebten unter Justinian I. (527– 565) einen markanten Aufschwung ihres Reiches. Seine Feldherren Belisar und Narses konnten Teile Nordafrikas von den Vandalen, einige Gebiete Italiens von den Ostgoten und den Südosten Hispaniens von den Westgoten zurückerobern. Damit war Justinian ein mächtiger Kaiser mit einem Reich, das fast die Ausdehnung des alten römischen Imperiums erreicht hatte (mit Ausnahme Britanniens, Galliens und Nordspaniens).

In seiner Regentschaft wurde auch ein einmaliges Zeugnis byzantinischer Kunst errichtet: die Hagia Sophia mit ihrer monumentalen Kuppelbasilika die der »heiligen Weisheit« gewidmete Krönungskirche der oströmischen Kaiser in Konstantinopel, der größte Kirchenbau der christlichen Antike und des Mittelalters. Die Türken machten sie 1453 zur Moschee, seit 1934 wird sie als Museum genutzt.

Doch von einer langfristigen Stabilität des Reiches konnte keine Rede sein. Schon während der Regierungszeit Justinians war es nur unter größter Kraftanstrengung möglich gewesen, die Grenzen im Osten gegen die sassanidischen Perser zu halten, und die eroberten Gebiete im Westen fielen nach dem Tod des Kaisers zurück an die germanischen Stämme.

Justinians Nachfolger traten ein schweres Erbe an: Sie hatten es mit leeren Staatskassen, religiösen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen christlichen Gruppierungen und mit nun an allen Grenzen auftauchenden Gegnern zu tun. Insbesondere die Kriege gegen die Anfang des siebten Jahrhunderts heftig anstürmenden Perser brachten das Reich an den Rand des Zusammenbruchs. Kaiser Heraklios konnte nur unter Aufbietung der letzten Kräfte Ende 627 in der Schlacht bei Ninive (im heutigen Irak) die Entscheidung für Ostrom herbeiführen.

Beide Imperien gingen geschwächt aus den Kämpfen hervor. Und es dürfte Heraklios wenig getröstet haben, dass die einstige Großmacht Persien schon bald danach, zermürbt von vernichtenden Überfällen durch die Sarazenen, im Chaos versank. Das Perserreich spielte weltgeschichtlich in dieser Form nie wieder eine Rolle.

Byzanz konnte sich immerhin erfolgreich gegen eine vollständige islamische Eroberung verteidigen. Den Arabern war es bis zum Ende des siebten Jahrhunderts gelungen, Ägypten, Syrien, Palästina und ganz Nordafrika zu annektieren. Byzanz konnte sich zwar gegen ihre zahlreichen Attacken verteidigen und dem Untergang entgehen, aber der Preis für das Überleben war hoch: Es verlor zwei Drittel seines Territoriums, damit auch einen Großteil seiner Steuereinkünfte, und war nun auf die Stadt selbst, Kleinasien, die Ägäis und einige Küstengebiete in Griechenland beschränkt.

Auch das ausgehende achte Jahrhundert war geprägt von intensiven Abwehrkämpfen in alle Himmelsrichtungen. Zweimal wurde die Hauptstadt erneut von den Arabern belagert, zweimal (678 und 717/18) gelang es Byzanz, die Gefahr unter anderem durch den Einsatz des sogenannten »griechischen Feuers« – einer militärischen Brandwaffe, einer Vorform des Flammenwerfers – abzuwenden.

Die Araber stellten in der Folgezeit keine wirkliche Bedrohung mehr dar, dafür zeigten sich an den nördlichen Grenzen in Gestalt der vordringenden Slawen neue Feinde. Aber auch sie wurden nicht nur aufgehalten, sondern Byzanz konnte sogar Teile der von ihnen in Griechenland besetzten Regionen zurückgewinnen. Doch auch jetzt kam der Balkan nicht zur Ruhe: Die Bulgaren kamen ins Spiel und sollten in den nächsten Jahrhunderten mit ihrer aggressiven Expansionspolitik Byzanz immer wieder in Bedrängnis bringen.

Wir ersparen Ihnen jetzt einige Kapitel und Ereignisse, die Byzanz allerdings nicht erspart blieben: Wechsel der Dynastien, die sich teilweise gewaltsam vollzogen; innenpolitische Zwistigkeiten (etwa der zermürbende Bilderstreit, ausgelöst durch Leo III., der Ikonen als heidnisch deklarierte und verbot); Kämpfe zwischen christlichen Gruppen; Streitigkeiten mit dem Papst in Rom um die Vormachtstellung. In der Zusammenschau all dieser Erschütterungen und Bedrohungen ist es mehr als verwunderlich, dass Ostrom immer noch existierte. Und nicht nur das: Unter den Kaisern der makedonischen Dynastie im zehnten und frühen elften Jahrhundert erreichte Byzanz noch einmal den Status einer Großmacht.

Für diesen vorübergehenden Erfolg waren mehrere Faktoren verantwortlich: Die territorialen Einbußen waren zwar schmerzlich, machten aber auch mehr Einheitlichkeit möglich. Es gab einen stabilen Beamtenapparat, eine effiziente Verwaltung, eine gemeinsame Sprache – das Mittelgriechische hatte Latein abgelöst. Der nach wie vor florierende Handel wurde unterstützt durch eine ansehnliche Flotte. Reformen des Heerwesens sorgten für eine kalkulierbare und kostensparende militärische Stabilität.

So schien sich unter Basileios II. (957–1025) Byzanz tatsächlich wieder zu einem Großreich zu entwickeln. Seine Vorgänger hatten den oströmischen Einfluss bereits bis nach Syrien und kurzzeitig sogar bis Palästina ausdehnen können; Basileios gewann nun während seiner Regierungszeit Süditalien zurück und sicherte zudem die Grenzen auf dem Balkan: Er eroberte in jahrelangen Kämpfen das erste bulgarische Reich, was ihm den Beinamen Bulgaroktónos (»Bulgarentöter«) einbrachte. Im Jahr 1018 wurde Bulgarien eine byzantinische Provinz. Das Oströmische Reich erstreckte sich jetzt von der Adria bis nach Armenien und vom Euphrat bis zur Donau.

Doch die Blütezeit war nicht von langer Dauer. Basileios’ Nachfolger kümmerten sich nicht mehr um die Armee. Das stehende Heer musste durch unzuverlässigere Söldner ersetzt werden, was eine erhebliche militärische Schwächung bedeutete. Und außenpolitisch geriet das Reich durch neue Eindringlinge in Bedrängnis: Die Normannen holten sich Süditalien Anfang des elften Jahrhunderts, und gegen dessen Ende fiel ein Großteil Kleinasiens an die Seldschuken, die 1071 das byzantinische Heer in der Schlacht von Manzikert in Ostanatolien vernichteten.

Alexios I. konnte in seiner Regierungszeit (1081–1118) zwar durch eine Reihe militärischer Erfolge die Katastrophe gerade noch einmal abwenden. Er war aber auch derjenige, der mit seinem Ruf nach westlicher Hilfe gegen die Muslime 1097 den ersten Kreuzzug ins Land brachte – langfristig mit schrecklichen Folgen! Die von Anfang an nicht gerade entspannten Beziehungen zwischen den selbstbewusst und eigenständig agierenden Rittern und den Oströmern zeigten zunehmend eine aggressive Qualität. Beim vierten Kreuzzug kam es Anfang des dreizehnten Jahrhunderts schließlich zur Katastrophe: Auf Betreiben von einflussreichen venezianischen Machthabern eroberten und plünderten die Kreuzfahrer nicht etwa muslimische Stellungen, sondern Konstantinopel. Sie töteten brutal Tausende von oströmischen Christen und zerstörten – wenn sie nicht zu transportieren waren – unwiederbringliche Schätze: Bilder, Heiligenreliquien und ganze Bibliotheken, raubten und stahlen alles, was kostbar schien, und brachten es nach Venedig oder in andere Gegenden Westeuropas, wo man bereit war, viel Geld dafür zu bezahlen.

Konstantinopel sollte sich von diesem Desaster nie mehr erholen. Jahrhundertelang war es Schutzschild gegen die Islamisierung Westeuropas gewesen. Ironie des Schicksals: Ausgerechnet nach dem Auftritt christlicher Kreuzfahrer konnte es diese Funktion nun nicht mehr wirksam wahrnehmen. Obwohl der oströmische Kaiser Michael VIII. die Stadt im Jahr 1261 zurückeroberte, war der Untergang nicht mehr aufzuhalten. Dem inzwischen mächtigen osmanischen Reich hatten selbst die klügsten und geschicktesten Kaiser nichts mehr entgegenzusetzen. 1326 fielen die bedeutende Stadt Bursa – etwa neunzig Kilometer südlich von Konstantinopel – und die zweitgrößte byzantinische Metropole Adrianopel an die Türken. Das einst so mächtige Oströmische Reich bestand Anfang des 15. Jahrhunderts schließlich nur noch aus Konstantinopel.

Der 29. Mai gilt auch heute noch bei den Griechen als Unglückstag. Es ist der historische Moment, in dem die Reichshauptstadt Konstantinopel – nach fast zweimonatiger Belagerung – von den Truppen Mehmeds, dem siebten Sultan des osmanischen Reiches, gestürmt wurde. Der letzte byzantinische Kaiser Konstantin XI. starb während der blutigen Kämpfe.

Nach Einnahme der Festung ließ sich der türkische Triumphator die Gelegenheit nicht entgehen, sich an markanter Stelle in die nach oben offene Skala der mittelalterlichen Scheußlichkeiten einzutragen: Mehmed ließ allen byzantinischen Adligen verkünden, sie würden in ihre alten Rechte eingesetzt, wenn sie sich meldeten. Diejenigen, die dem Aufruf folgten, ließ er zusammen mit ihren Familien enthaupten. Mit den Köpfen der jüngsten Opfer – Leser unter 18 Jahren, bitte weiterblättern! – wurden die Flammen der in den Kirchen brennenden Kerzen ausgelöscht. Sultan Mehmed gilt dennoch als einer der großen, weitsichtigsten Herrscher des osmanischen Reiches.

Die siegreichen Eroberer sahen sich nach dem Zusammenbruch als legitime Nachfolger der byzantinischen Kaiser. Aber auch in Russland reklamierten die Patriarchen ihren Anspruch. Moskau bezeichnete sich bald als Drittes Rom, eine staatsrechtliche Fortsetzung fand das Reich allerdings nirgendwo mehr.

Inzwischen unbestritten sind die Verdienste von Byzanz als Vermittler von Werten und Wissen der Antike. Sie waren der Antrieb für eine große Bewegung in Westeuropa: Ohne sie ist eine Entfaltung der Renaissance und der sich anschließenden Aufklärung gar nicht denkbar.