18. Das Kreuz und das Schwert

Sie können ihm nicht ausweichen, ihn nicht verfehlen, warum sollten Sie es auch? Hat er doch wie kein anderer der Idee eines vereinten Abendlandes, eines europäischen Reiches Auftrieb gegeben, das antike Erbe, die christliche Religion und die germanische Gedankenwelt unter seiner Herrschaft zusammengeführt. Ja, von ihm, von Karl dem Großen ist die Rede. Fast fünfzig geschichtliche Gestalten verzeichnet das Lexikon unter dem Namen »Karl«, aber immer werden Sie ihn an erster Stelle finden.

In Aachen begegnen Sie ihm auf Schritt und Tritt. Lassen Sie es am besten schön bunt beginnen und betrachten zuerst das Fresko im Krönungssaal des Aachener Rathauses, das Karl auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit den heidnischen Sachsen zeigt. Nehmen Sie dann das Wunderwerk des Kaiserdoms, des im Jahr 805 geweihten Aachener Münsters, ins Visier, das Ihnen schon beim Verlassen des Rathauses entgegenblickt. Im Zentrum des Doms, der achteckigen Pfalzkapelle, geht dann kein Weg mehr an ihm vorbei: dem Erzstuhl des Reiches, etwas schlichter auch Königs- oder Kaiserstuhl genannt.

Sechs steinerne Stufen führen zum Thron des römischen Kaisers deutscher Nation, dem Sitz des ersten Mannes im Heiligen Römischen Reich, dem Erbe des alten römischen Imperiums. Dieser Thron im Oktogon des Aachener Doms steht für die historischen Zusammenhänge der deutschen und der europäischen Geschichte.

Der Thronsessel ist ein Ort großer Symbole. Die Marmorplatten, aus denen er gefügt ist, und auch die Stufen stammen nach neueren Mutmaßungen aus der Grabeskirche in Jerusalem. Er steht auf der Westempore der Pfalzkapelle, die als symbolisches Abbild das himmlische Jerusalem darstellt. Sie ist nach Osten ausgerichtet, dem irdischen Jerusalem entgegen. Wer auf diesem Thron Platz nimmt, um die Krönungsinsignien zu empfangen, hält mit dem Reichsapfel das Sinnbild des Erdkreises und des Himmelsgewölbes und mit dem Zepter das Symbol der höchsten Gewalt in den Händen.

Diese Zeichen kaiserlicher Würde sind Karl dem Großen bei seiner Krönung noch nicht verliehen worden. Verschiedene Gegenstände, zu denen auch Schwert, Mantel, Kreuz und Lanze gehören konnten, wurden erst ab dem dreizehnten Jahrhundert für die Zeremonie bedeutsam. Sie hätten auch zu der Inszenierung, die am Weihnachtstag 800 in Rom stattfand, nicht gepasst. Angeblich soll Karl der Große nämlich durch Papst Leo III. überrascht worden sein: Der setzte ihm, als er sich in der Peterskirche vom Gebet erheben wollte, unerwartet eine goldene Krone auf und erklärte ihn anschließend zum römischen Kaiser. Karl verstand sich von da an als Augustus Imperator Renovati Imperii Romani, als Kaiser des erneuerten Römischen Reiches.

Die Geschichte mit der Überraschung, die von Karls Biografen Einhard verbreitet wurde, klingt wenig glaubhaft. Eher sind vorherige Absprachen mit einer Handvoll Eingeweihter zu vermuten. Äußeres Anzeichen dafür war allein schon der prächtige Purpurmantel, in dem Karl erschien. Er trug ihn statt fränkischer Bundhose und Wams hier zum ersten und letzten Mal.

Mit dieser Zeremonie war aus dem König der Franken ein römischer Kaiser geworden, dessen Machtbereich sich über weite Teile Europas erstreckte. Er war die genialische Herrschergestalt, die das mittelalterliche und damit auch das moderne Europa prägte. Das Kerngebiet seines neues Riesenreiches umfasste jene Länder, die rund 1150 Jahre später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gründen sollten: Frankreich, die Benelux-Staaten, Deutschland und Italien; hinzu kam Nordspanien.

Karl stammt nicht aus einem alteingesessenen Herrschergeschlecht. Seine Vorfahren waren aber erfolgreich als Heerführer der Merowinger, hatten diese dann ausgeschaltet und sich selbst an die Spitze ihres Königreiches gesetzt. Sein Großvater Karl Martell ist der Begründer einer mächtigen Dynastie; er hatte sich um Europa schon verdient gemacht, als es ihm gelang, im Jahr 732 den Vorstoß der islamischen Mauren bei Tours und Poitiers zurückzuschlagen. Karl Martells Sohn Pippin III., Karls Vater, konnte das Reich durch Eroberungen stetig vergrößern, was natürlich auch dem Papst nicht verborgen blieb. Der war auf der Suche nach einer Schutzmacht für seine Stellung in Italien, und schon Pippin hatte ein sehr starkes Interesse an der Anerkennung durch die Kirche. Das passte. Und tatsächlich begab sich 754 Papst Stephan II. nach Saint-Denis, um mit Pippin ein Bündnis zu schließen. Der kaum sechsjährige Karl war bei dieser Begegnung dabei, sie wurde für ihn zum Schlüsselerlebnis und war die Basis für die dauerhafte Verbindung seiner Familie mit der Kirche. Sie führte auch dazu, dass er sich sein ganzes Leben als Herrscher dazu berufen sah, die Botschaft der Bibel, die Gesetze Gottes zu verbreiten. Und er war davon überzeugt, Kriege gegen die Heiden führen zu müssen, für seinen Glauben töten zu dürfen.

Das bekamen vor allem die Sachsen zu spüren, deren Gebiet Karl christianisieren und seinem Reich einverleiben wollte. Seine Krieger brachten in dem viele Jahre andauernden Unterwerfungskrieg Zerstörung, Tod und Elend in die Dörfer und erzwangen die Umsiedlung Zehntausender Menschen, die für immer ihrer Heimat beraubt wurden. Auch die Vernichtung der Irminsul, des zentralen Heiligtums der germanischen Stämme, konnten die sächsischen Götter nicht verhindern.

Besonders ein Ereignis warf Schatten auf das Bild des großen Herrschers Karl: die brutale Massenhinrichtung von über tausend gefangenen Sachsen (sächsische Chronisten sprechen von 4500 Opfern) bei Verden an der Aller (782), deren Wasser sich vom Blut der Getöteten rot gefärbt haben soll. Schon zu seinen Lebzeiten regte sich Kritik an Karls Racheakt, heute erinnern in Verden 4500 im Jahr 1935 – ganz im Geiste der damaligen Zeit – gesetzte Steine an das blutige Geschehen.

Dreizehn Jahre dauerte der Krieg gegen Widukind, den Anführer der Sachsen, und seine Aufständischen, die sich weder dem christlichen Glauben noch der politischen Herrschaft der Franken unterwerfen wollten. Schließlich überzeugten die kirchlichen Berater Karl davon, einen friedlichen Weg einzuschlagen und mit den Sachsen zu verhandeln. Karl stimmte zu, verlangte aber im Gegenzug die Taufe Widukinds. 785 war es so weit. Der kriegsmüde Widukind kam mit einer Gefolgschaft nach Attigny in die Residenz des Königs der Franken und sprach das christliche Glaubensbekenntnis.

Die Taufe Widukinds war ein großer Erfolg Karls. Obwohl es noch fast zwanzig Jahre bis zur vollständigen Unterwerfung Sachsens dauern sollte, war er sich recht schnell sicher, dass er nun endlich sein Ziel erreicht hatte: ein christliches Reich mit lauter Christen unter einem christlichen Herrscher.

Sie werden sich vielleicht fragen, ob der kriegerische Karl nicht auch andere Seiten hatte. Er hatte. Mit der Eroberung der Lombardei – seit 774 trug er den Titel Rex Francorum et Langobardorum (König der Franken und Langobarden) – war sein Interesse an antiker Kultur und Wissenschaft geweckt worden, und er brachte eine Art Bildungsreform auf den Weg. Zahlreiche Gelehrte, vor allem Mönche und Kleriker, wurden an seinen Hof gerufen, sie kamen aus allen Teilen Europas. Mit der Bibel und Gottes Wort als Basis gelang ihnen gleichsam eine Wiedergeburt der lateinischen Welt (eine Karolingische Renaissance), die in den Jahrhunderten zuvor in den Wirren von Kämpfen und Völkerwanderungen ihre Konturen fast ganz verloren hatte.

Aber Karl förderte mit viel Energie auch die Entwicklung einer altfränkischen Volkssprache, der lingua theodisca (zum Volk gehörig), aus der die althochdeutsche Form diutisc hervorging, die sich allmählich zu dem späteren Wort »deutsch« wandelte. Einer sollte schreiben wie der andere, alles sollte von allen gelesen werden können. Karl hatte einen politischen Raum geschaffen, der nun auch zu einem gemeinsamen Sprachraum wurde und das Bewusstsein von Einheit ermöglichte. Tatsächlich war seine große Leistung die Durchsetzung des Wortes »deutsch«. Er legte damit den Grundstein für eine gemeinsame Kultur, für das Entstehen von Literatur: Eine Sprache, eine Schrift waren für die Formung seines Imperiums von unschätzbarer Bedeutung. Überall im Reich entstanden Klöster, Bibliotheken und Schulen, die von ihm gefördert wurden. Die Schrift, die wir heute noch verwenden, geht auf diese Reform zurück: Die karolingische Minuskel war das Vorbild unserer Kleinbuchstaben.

Was Sie vor diesem Hintergrund natürlich nicht vermuten: Karl der Große selbst war Analphabet. Noch als alter Mann soll er in schlaflosen Nächten mühsam versucht haben, endlich lesen und schreiben zu lernen.

Nach der Integration des sächsischen Gebiets in sein Imperium, nach der Taufe Widukinds, über dessen weiteres Schicksal wenig bekannt ist, konzentrierte sich Karl auf andere Projekte, vor allem auf die Etablierung eines festen Regierungssitzes. Karl wählte Aachen. Mit seinen warmen Quellen und ausgedehnten Wäldern, gelegen im Kerngebiet des Imperiums, sollte es zur prächtigsten Stadt seines Reiches werden. Er ließ eine riesige Anlage errichten (Baubeginn vermutlich 793/94). Sie umfasste Regierungsgebäude, Räume für die königliche Familie, Garnisonsunterkünfte, einen Gerichtssaal und ein Studienzentrum mit Bibliothek. Geistlicher Mittelpunkt war die Pfalzkapelle, heute der Aachener Dom. Er galt schon bei den Zeitgenossen als der prächtigste Kirchenbau diesseits der Alpen. Später haben sich 33 deutsche Herrscher auf Karl berufen und wurden hier zwischen dem Ende des neunten Jahrhunderts und dem Jahr 1531 gekrönt.

Mit seiner eigenen Krönung 800 in Rom hat Karl der Große Geschichte geschrieben, sie erregte schon zu seiner Zeit höchste Aufmerksamkeit, galt als Sensation. Zum ersten Mal wurde ein Kaiser, der zudem aus einem anderen Reich als dem römischen stammte, von einem Papst in sein Amt gesetzt, der allein die Befugnis dazu beanspruchte. Deshalb musste Karl ihn als sein geistliches Oberhaupt anerkennen. Umgekehrt gewährte der Kaiser der römischen Kirche Schutz, auch gegen die byzantinische Vorherrschaft. Entsprechend war es die Pflicht des Stellvertreters Petri, ihm als seinem weltlichen Herrscher zu huldigen.

Damit erfüllte sich für Karl den Großen eine Vision: die Allianz zwischen Papst und Herrscher, zwischen Reich und Kirche, zwischen Religion und Volk, eine Verbindung von Schwert und Kreuz. Die Krönung Karls begründete das mittelalterliche Kaisertum, das tausend Jahre lang als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation Bestand haben sollte, bis 1806.

Gleichzeitig wurde mit diesem Akt der Krönung, mit dem sich der Kaiser an die Zustimmung und Segnung durch den Papst in Rom band, ein jahrhundertelanger Konflikt angelegt, der später der »Investiturstreit« genannt werden wird. Es ging um die Frage: Wer ist der Stärkere? Der Papst oder der Kaiser?

Dieser Kampf zwischen der kirchlichen und der weltlichen Macht prägte vor allen Dingen das späte elfte Jahrhundert. Seine Zuspitzung erfuhr er 1076 mit dem Streit zwischen dem deutschen König Heinrich IV. und Papst Gregor VII. Sie waren die Hauptprotagonisten in einem dramatisch angelegten Szenario, das für immer verbunden sein wird mit dem Namen eines Ortes, einer Burg: Canossa.