24. Der Umbau der Welt

Das Reich der Azteken war schon gefallen; mit ihm König Montezuma und 300 000 seiner Untertanen. Den Inka hatte die Geschichte bis zur Demütigung durch den Spanier Francisco Pizarro noch eine Art Gnadenfrist eingeräumt, jetzt ging es darum, die letzten Widerstandsnester der Maya auszuschalten. Der wuchernde Dschungel hatte zwar viele ihrer Tempelpyramiden tarnen oder sogar verstecken können, aber er war keineswegs dicht genug, um auch sie selber vor den spanischen Eroberern zu schützen.

1527, Cañon von Sumidero, Hochland von Chiapas, Mexiko: Nach einem blutigen Auf und Ab militärischer Konfrontationen haben sich erbittert kämpfende Tzotzil-Maya, verfolgt von spanischen Soldaten und mexikanischen Hilfstruppen, an den Rand einer steilen Felsterrasse über dem Rio Grijalva zurückgezogen. Als die gut ausgerüsteten und zu allem entschlossenen Spanier näher und näher kommen, stürzen sich die rund 2000 ausweglos Bedrängten, darunter viele Frauen und Kinder, in den Fluss. Sie ziehen den Freitod der spanischen Knechtschaft vor. Der Massenselbstmord am Rio Grijalva, durch den sich einige Historiker an die Einnahme der jüdischen Festung Masada durch die Römer im Jahr 73 erinnert fühlen, markiert auf besonders tragische Weise den Beginn der Kolonialzeit.

Welch ein Kontrast zu den friedlichen, fast heiteren Bildern, die Christoph Kolumbus – der dies alles heraufbeschwört – beim Ablegen zu seiner ersten Reise Anfang August 1492 zeigen. Antonio Cabral-Bejarano hat 1825 eines der bekanntesten von ihnen gemalt. Die Segel der drei Karavellen, die die Westroute nach Indien finden sollen, flattern schon im Wind, Tücher und Hüte werden geschwenkt, winkende Menschen am Ufer und an Bord der Schiffe beherrschen die Szene, die der Künstler in einer romantisierenden Balance zwischen Abschied und Aufbruch hält – Aufbruch zu einer Reise, welche die Welt aus den Angeln heben wird.

Knapp sieben Monate später, Frühjahr 1493, Zeremoniensaal des Palacio Real: In der Altstadt von Barcelona erwarten die Katholischen Majestäten Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon den Mann, den sie beauftragt haben, den Seeweg nach Indien zu erkunden, und der dabei auf eine unbekannte Insel im Westen gestoßen ist. Das Königspaar kann zufrieden sein. Durch seine Heirat im Jahr 1469 waren die beiden bedeutsamsten Königreiche Spaniens miteinander verschmolzen. Gerade wurde die Reconquista, die Rückeroberung muslimischer Territorien auf der Halbinsel, mit der Einnahme Granadas abgeschlossen. Spanien ist auf dem Weg zur Großmacht, und die Majestäten können es sich erlauben, ihre Blicke auf die Welt außerhalb Europas zu richten.

Kolumbus ist soeben am Hof in Barcelona eingetroffen, um Bericht zu erstatten. Als er den Saal betritt, erheben sich alle, auch die Königin und der König. »Die Königin erlaubte mir, dass ich ihr die Hand küsste«, notiert später der Seefahrer und Entdecker. Der 42-Jährige hat Sinn für die große Inszenierung. Er führt Papageien, exotische Pflanzen und Früchte mit sich sowie Gold in Körnern, rohen Bruchstücken und in Form von Schmuck. Seine Hauptattraktion aber sind lebende »Indios« in Lendenschurz und Federschmuck. Als Indianer bezeichnet man sie, weil Kolumbus sie von den Inseln eingesammelt hat, die er zu Indien zählt.

Acht Jahre hatte Kolumbus nach einem Geldgeber gesucht, bis er nach vielen vergeblichen Anläufen die Unterstützung der Königin Isabella von Kastilien erreichte. Am Hof von Lissabon hatte er kein Gehör gefunden, weil die portugiesischen Geografen die Unternehmung als waghalsig und unrealistisch taxiert hatten. Sie hielten die Erde, über deren Kugelgestalt kein Zweifel mehr bestand, für deutlich größer, als Kolumbus schätzte. So fielen Ehre und Ausbeute der Neuentdeckung überwiegend den Spaniern zu, die seiner Fehleinschätzung von 3000 Seemeilen und zehn bis zwölf Reisetagen für die westliche Route nach Indien Glauben schenkten. Die tatsächliche Entfernung wären 11 000 Seemeilen gewesen.

Der Weg über das Meer in den Fernen Osten wurde deshalb so fieberhaft gesucht, weil die Türken 1453 Konstantinopel erobert hatten. Dadurch war für die europäischen Kaufleute der Kontakt mit Indien und China versperrt oder enorm verteuert. Denn die türkischen Zwischenhändler erhoben hohe Auflagen. Es galt also eine Alternative für die Seidenstraße zu finden. Während die meisten anderen Expeditionen zur See darauf zielten, Afrika in Richtung Osten zu umrunden, ging Kolumbus davon aus, man müsse auf der Erdkugel nur lange genug westwärts segeln, um schließlich in den »Ostländern« anzukommen.

September 1493 wird Kolumbus zu einer zweiten Reise über den Atlantik aufbrechen. 17 Schiffe und 1500 Mann – Seeleute, Soldaten, Siedler, Missionare – lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass aus dem kühnen Navigator, dem »Vizekönig« und »Admiral des Weltmeeres« – Titel, die er sich von der spanischen Krone garantieren ließ – inzwischen ein Eroberer geworden ist. Die Logik der Okkupation und die Gier nach Gold sind längst über die Rücksichten und Absichten des Entdeckers hinweggegangen. Seine Nachfolger werden furchtbare Verbrechen an den Menschen der Neuen Welt begehen. Sie werden ganze Volksstämme ausrotten, Krankheit und Elend über Hunderttausende bringen, den Einwohnern ihre Kultur rauben und ihnen mit Gewalt die christlichen Glaubensdogmen aufzwingen. Goldgier und Aberglauben werden zu Versklavung, Arbeitszwang, Ausbeutung, zu Folter und Mord, ausgeklügelten Strafen und sadistischen Hinrichtungen führen: Verbrennen, Ertränken, Pfählen, Vierteilen, Einmauern, Eingraben, Verstümmeln, Hängen – und das alles im Namen von göttlichen Wahrheiten und kirchlichem Glaubensgehorsam.

Die vermeintlichen Entdecker sind blind für das, was es wirklich zu entdecken gibt: Die Länder, in denen sie landen, haben zumeist jahrhundertealte Hochkulturen hervorgebracht wie die der Maya, Inka, Azteken und Tolteken. Auch in technisch-zivilisatorischer Hinsicht sind die Entdeckten den Entdeckern in manchen Dingen überlegen. Sie haben gepflasterte Straßen, Brücken und Wasserleitungen, sie bauen Pyramiden als Tempel und Paläste für ihren König. Nur auf einen ersten oberflächlichen Blick können sie als primitiv gelten, bloß weil sie kein Eisen, keine Bronze, kein Rad und keine Töpferscheibe, keinen Pflug und keinen Wagen kennen, anstelle von Münzen Kaffeebohnen verwenden und ihren Göttern Menschenopfer darbringen.

Doch der über sie hinwegrollenden Eroberungsmaschinerie haben die einheimischen Völker nichts entgegenzusetzen. Sie erfahren nicht nur die eigene Ohnmacht, sondern auch die Ohnmacht ihrer Götter, an die sie geglaubt hatten. Auch wenn es vereinzelte Beispiele von Barmherzigkeit, Einfühlung und Verständnis für die fremden Kulturen auf Seiten der spanischen Invasoren gibt, ist die Gesamtbilanz deprimierend. Zwischen 35 und vierzig Millionen Menschen hatten zum Zeitpunkt der Kolumbus-Expeditionen im späteren Spanisch-Amerika gelebt. Bis 1650 verringerte sich die Zahl der Indianer auf rund vier Millionen. Großen Anteil an diesem massenhaften Sterben hatten eingeschleppte Krankheiten wie Pocken, Pest, Typhus, Malaria und viele andere, die sich oft epidemieartig ausbreiteten. Aber auch diejenigen Indios, die zur Sklavenarbeit in den Silberbergwerken der Anden rekrutiert wurden, entrichteten einen hohen Blutzoll.

»Ich kam, um Gold zu holen, nicht um den Boden zu pflügen wie ein Bauer«, soll Hernán Cortés, der Zerstörer der Azteken-Kultur, gesagt haben. Damit gab er die Losung und das Muster vor, wonach die Unterwerfung Mittel- und Südamerikas ablief. Ab 1531 eroberte der Spanier Francisco Pizarro das zweite und größte Reich im alten Amerika, das sich über weite Teile des heutigen Perus und Boliviens erstreckte: das Imperium der Inka. Pizarro agierte wie eine Kopie von Cortés. Er erpresste vom Inka-Herrscher Atahualpa ein Lösegeld in Gold und Silber im heutigen Wert von 150 Millionen Euro – und tötete ihn anschließend dennoch.

Die menschenverachtende Brutalität der Konquistadoren ist eigentlich nicht verwunderlich. Denn in den Zentren der Alten Welt gehört sie längst zum Alltag: die Aggressivität gegen Ketzer, Hexen und Juden. Immerhin bewirkt die Entdeckung immer neuer fremdartiger Völker, dass die ausschließlich auf Europa konzentrierte Weltsicht allmählich relativiert wird. Die Menschen begreifen, dass die plötzlich ins Blickfeld geratenen Länder, Erdteile und Ozeane nur den Europäern unbekannt waren und dass die neuen Länder im Grunde alte Länder sind, längst besiedelt und mit einer eigenen Kultur und Zivilisation ausgestattet. Das eurozentrische Weltbild ist damit natürlich nicht erledigt, aber mit den Entdeckungen der beginnenden Neuzeit ist der Keim einer anderen, einer globalen Perspektive gelegt. Als Kolumbus den neuen Kontinent erreicht, hat Martin Behaim in Nürnberg gerade den »Weltapfel«, den ältesten heute noch erhaltenen Globus, gebaut.

Das Erkunden und Erschließen ferner, fremder Territorien ist so alt wie das Erobern schon bekannter oder benachbarter Ländereien. Immer schon hat der eine Mensch dem anderen etwas weggenommen. Aber die Reichweite der Eroberer war begrenzt, so dass die Kenntnis fremder Länder und Kontinente sogar wieder verloren gehen konnte. Die Wikinger wussten von der Nordostküste Nordamerikas, die Antike kannte die Kanaren, Madeira und die Azoren. Die Kanarischen Inseln werden 1341, Madeira 1419 und die Azoren 1427 nicht neu, sondern nur wiederentdeckt.

Erst nach und nach wächst ein geografisches Bewusstsein für die Weite der Erdoberfläche im Verhältnis zum eigenen Horizont. Portugal und Spanien wissen, was sie tun, als sie mit dem Vertrag von Tordesillas die Neue Welt schon frühzeitig unter sich aufteilen. Mit einem Federstrich bestätigt der Borgia-Papst Alexander VI. die Demarkationslinie, die einen westlichen spanischen Teil mit Nord-, Mittel- und Südamerika (außer dem noch unentdeckten Brasilien) von einer östlichen »Welthälfte« trennt, die die portugiesische Einflusssphäre umfasst.

Die Portugiesen waren es gewesen, die das maritime Wettrüsten eingeleitet und im Laufe des 15. Jahrhunderts allmählich einen deutlichen Vorsprung vor den Spaniern erzielt hatten, bevor diese später durch Kolumbus gewissermaßen gleichzogen. Die Eroberung Ceutas an der Nordspitze Afrikas durch Portugal im Jahr 1415 war das erste Ausgreifen auf einen Kontinent außerhalb Europas und eine Stützpunktbildung in einem fremden Kulturkreis gewesen. Nach einer Periode des langsamen Vordringens portugiesischer Seefahrer an der afrikanischen Westküste umrundete schließlich Bartolomeu Diaz 1488 die Südspitze des Kontinents, die der portugiesische König Johann II. nach Diaz’ Rückkehr als »Kap der guten Hoffnung« betitelte. Um welche Hoffnung es sich dabei handelte, unterlag keinem Zweifel: Sie galt dem Seeweg nach Indien auf der Ostroute um Afrika herum.

All diese Aktivitäten, die schließlich zur Jahrtausendmitte zu einem spanisch-portugiesischen Kopf-an-Kopf-Rennen auf den Weltmeeren eskalierten, wären nicht denkbar gewesen ohne die Konstruktion eines neuen Schiffstyps: der Karavelle. Durch ihre Bauweise und Besegelung erlaubte sie das Kreuzen hart am Wind und gab damit der europäischen Hochseeschifffahrt einen entscheidenden Schub. Der große Inspirator, »Architekt« und Organisator der portugiesischen Seefahrt, Prinz Heinrich der Seefahrer (1394 –1460), hatte diese Entwicklung vorangetrieben und gilt deshalb bis heute als Vater des Zeitalters der Entdeckungen.

Es kulminiert – zumindest aus portugiesischer Sicht – in der erneuten Umrundung Südafrikas und der nachfolgenden Erschließung des Ostweges nach Indien durch Vasco da Gama 1498. Ihm wird in Lissabon ein triumphaler Empfang bereitet. Er darf sich »Admiral des Indischen Meeres« nennen und sichert seinem Land mit einer zweiten Reise ein Jahrhundert lang die Seeherrschaft und das Monopol auf den Gewürzhandel in dieser Weltgegend.

Gewürze – sie vor allem, die kleinsten und feinsten Handelsgüter, wertvoll wie Edelmetalle, sind es, die die Westeuropäer nach Ostasien locken. Nicht nur mit Teak- und Sandelholz, sondern auch mit Pfeffer, Zimt und Ingwer hatte Vasco da Gama seine Schiffe bei der Rückkehr von der ersten Reise beladen. Schon Phönizier, Griechen, Römer, Perser und Araber haben mit Gewürzen gehandelt. Pfeffer war so kostbar, dass er oft mit Gold aufgewogen wurde. Als nun endlich auch Europa nicht nur weiß, wo der Pfeffer wächst, sondern auch, wie und wo man sich ihn holen kann, blüht das Geschäft – so sehr, dass es Kriege um den Gewürztransport und das Know-how der Portugiesen geben wird. Gewürze, das bedeutet, dass das Essen besser schmeckt und sich vor allem länger konservieren lässt, dass man es als Medizin gebrauchen und dass man damit reich werden kann. Portugal macht es vor – mit Ingwer, Vanille, Zimt, Muskatnuss, Nelken, Safran, Anis, Pistazien. Und Pfeffer natürlich.

Auch in der spanischen Einflusssphäre brummt das Überseegeschäft. Die Transportrouten sind für damalige Verhältnisse dicht befahren. Der Atlantik ist zum Mittelmeer geworden. Kartoffeln, Kaffee, Kakao und Kautschuk, Zucker, Tabak, Tomaten, Erdnüsse, Mais, Baumwolle und auch der Truthahn kommen aus den amerikanischen Ländern. Rind, Pferd, Esel, Schaf, Huhn und Haushund, Weinstöcke, Ölbäume, Apfel und Orange, Weizen und andere Getreide führen die Eroberer als Importgüter aus Europa ein.

Das sieht nach einem Geschäft auf Gegenseitigkeit, einem Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen aus. Aber ausschließlich die Kolonialisten diktieren die Regeln, und allein die Unterdrückten zahlen den Preis. Und das schmutzigste Geschäft läuft gerade erst an: der sogenannte Dreieckshandel, bei dem die Europäer bis ins 19. Jahrhundert hinein zehn Millionen Farbige als Sklaven aus Afrika nach Amerika verschleppen.

Der Umbau der Welt um 1500 ist in der Geschichte ohne Beispiel. Nicht einmal die germanische Völkerwanderung in der Spätantike reicht an ihn heran. Allenfalls lässt sich der Seevölkersturm, der um 1200 v. Chr. einen verheerenden Dominoeffekt im gesamten Mittelmeerraum auslöst, mit seinen epochalen Folgen vergleichen.