25. Zum Teufel mit der Tinte

Es gibt ihn nicht, und es hat ihn nie gegeben, auch wenn viele Wartburg-Besucher noch immer nach ihm fahnden: jenem Fleck an der Wand, den das Tintenfass hinterlassen haben soll, das der große Reformator Martin Luther alias Junker Jörg, wie sein Pseudonym während der zehn Wartburg-Wochen lautete, kraftvoll und zielgenau nach dem Teufel warf. Oder nach dem Schattenriss, der Silhouette des Teufels, wie andere Quellen behaupten. Wie auch immer! Da das viel beschworene Indiz – das ominöse Mal an der Wand – fehlt und keine Tatzeugen überliefert sind, dürfte auch der Wurf selbst in das Reich der Fantasie gehören.

Dabei wäre es so schön gewesen, ein bisschen zu spekulieren. Etwa über die Frage, woher der Leibhaftige denn gekommen ist. Ob der Reformator ihn möglicherweise, eben um ihn zu treffen, selber herbeizitiert, ihn quasi – wie heißt es so schön – an die Wand gemalt hat. Oder ob vielleicht jene Flammenschrift, jenes Menetekel, das einst dem babylonischen Herrscher Belsazar erschien und es bis in die Bibel schaffte, im Hintergrund der Wartburg-Legende herumgespukt hat. Aber warten Sie es ab, Sie werden die Erklärung des umstrittenen Volltreffers noch kennenlernen. Und sie hat zwei Vorzüge. Sie klingt nicht nur überzeugend, sie ist auch wahr.

Auf unserer Zeitreise sind wir schon ein paarmal in Rom vorbeigekommen. Und bei dieser Gelegenheit haben Sie sicherlich gesehen, wie gigantisch groß und sehr bedeutend der Petersdom ist. Wenn Sie jetzt das kleine Kämmerchen oben links auf der Wartburg betreten, werden Sie bemerken, wie eng und klein es dagegen ist. Aber lassen Sie sich nicht von Äußerlichkeiten blenden: Dieses Kämmerchen im ersten Stock ist viel bedeutender. Geschichtlich gesehen.

Anders gesagt: Diese zwölf Quadratmeter Wartburg sind im 16. Jahrhundert deswegen so berühmt geworden, weil eigentlich die Peterskirche berühmt werden sollte, der Schuss aber nach hinten losging. Für das katholische Mammutprojekt »Peterskirche« wurde nämlich damals so viel Geld ausgegeben, dass der Unmut derer wuchs, die dafür zur Kasse gebeten wurden. Und das waren die einfachen Menschen. Das »Volk«, das sich nun massenhaft von der prunksüchtigen, mehr und mehr entfremdeten Papstkirche abwandte. Im bescheidenen Wartburg-Zimmerchen hingegen wurde ohne jeden Kostenaufwand eine Bibelübersetzung angefertigt, die vielen Menschen die christliche Botschaft in verständlichen Worten nahebrachte und unsere Welt wirklich verändert hat.

Was die Dinge wert sind, lässt sich eben nicht immer auf den ersten Blick sagen.

Luther wäre auch nicht Luther, wenn es die Tinte nicht gäbe. Davon war schon die Rede. Den ominösen Klecks haben bereits in früherer Zeit viele Wartburg-Besucher so schmerzlich vermisst, dass der Realhistorie schließlich ein wenig Nachhilfe zuteil und die Wand sozusagen künstlich »befleckt« wurde. Aber inzwischen verzichten die Museumsleute darauf, den berühmten Fleck an der Wand immer wieder nachzupinseln. Jahrhundertelang haben unzählige Touristen sich Stückchen für Stückchen tintigen Mauerwerks als Erinnerung herausgepult. Fleißig haben die Burgverwalter immer wieder nachgemalt. Aber irgendwann war damit Schluss.

Die Museumsführer werden nicht müde, Ihnen und den anderen Besuchern immer wieder zu erklären, dass Luther eigentlich niemals mit dem Tintenfass geworfen habe, sondern dass »mit Tinte den Teufel vertreiben« nur symbolisch gemeint war. Mit seinen vielen Flugschriften, die ein halbes Jahrhundert nach Erfindung des Buchdrucks in hoher Auflage reißenden Absatz fanden, und mit seiner bahnbrechenden Bibelübersetzung habe er »den Teufel« vertrieben – und das meinte damals, Sie werden es ahnen, keinen anderen als den Papst! Mit Tinte also, gewiss. Aber niemals mit dem Tintenfass!

Das ist wohl richtig, aber nicht romantisch. Wir wünschen uns aber meistens, dass die Geschichten um Luther romantisch sein mögen. Besonders am 31. Oktober, am Reformationstag, wenn wir feierlich in der Kirche sitzen und mit Orgelgebraus »Ein feste Burg ist unser Gott« singen. Für das Reformationspathos hat vor allem das 19. Jahrhundert gesorgt, damals, als wir Deutschen uns als Nation entdeckten. Als unsere Urururgroßväter stolz die deutsche Geschichte priesen und ihre Märchen und Mythen zu sammeln begannen. Als sie ihre Bauwerke in prachtvolle neugotische Gewänder kleideten. Und als Luther zu einem nationalen Helden und Schöpfer der deutschen Sprache gekürt wurde, mit Goldrand-Abbildungen und kiloschweren Neuausgaben der Lutherbibel. Dabei war der Reformator Martin Luther (1483–1546) alles andere als ein Romantiker. Er war einfach ein Kind seiner Epoche, die als eine des »Grobianismus« bezeichnet werden kann: unaufgeklärt, brutal, abergläubisch, roh und einigermaßen unkultiviert.

Wie so oft spielt auch in der Geschichte von Luther und dem Papst das liebe Geld eine wesentliche Rolle. Weil die Päpste, die um 1500 in Rom hauptsächlich ihrer Macht und Pracht frönten, die alte Konstantin-Basilika durch einen prestigeträchtigen Weltwunderbau, nämlich den Petersdom, ersetzen wollten, benötigten sie eine üppige Finanzspritze.

Das Mal-, Bildhauer- und Architekturgenie Michelangelo hatte eine Kuppel von ungeheurer Dimension entworfen, der kein Architekturliebhaber widerstehen kann. Schon gar nicht ein Renaissance-Papst. So verwandelte Leo X. (1513–1521) das Ablasswesen, das seit dem frühen Mittelalter eigentlich dazu gedacht war, den tapferen Teilnehmern der Kreuzzüge göttliche Vergebung ihrer Sünden zu garantieren, in eine sprudelnde Finanzquelle.

Ablassbriefe, die gegen Geld Absolution von allen Sünden gewährten, überschwemmten Anfang des 16. Jahrhunderts Europa wie haussierende Wertpapiere. »Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt«, reimten die Ablasshändler sehr werbewirksam.

Der unbedeutende Augustinermönch Luther in Wittenberg, der schon als Novize seinen Beichtvater unablässig mit der Frage nervte, durch welche Bußleistung er denn nun von seiner Sündhaftigkeit wirklich befreit werden könnte, ist entsetzt: Er will nicht akzeptieren, dass man ohne Reue, aber mit klingender Münze die Sündenvergebung erlangen könne. Seiner Meinung nach könne nur eines einen Sünder retten: die Güte Gottes. Und die sei nicht käuflich. Es komme vielmehr auf den rechten Glauben an. Auf den Glauben, dass es allein Christus sei, der mit seinem Tod am Kreuz die Erlösung der Menschen bei Gott erwirkt habe. Mit Geld lasse sich da gar nichts machen.

»Sola fide, sola scriptura, sola gratia, solus Christus«, also: nur durch den Glauben, nur durch die Heilige Schrift, nur durch die Gnade Gottes, Christus allein (durch seinen Opfertod) – mit diesen vier Grundsätzen ist die Essenz der lutherischen Theologie umrissen.

In der Konsequenz steckt in diesen vier Prinzipien aber nichts weniger als eine Kriegserklärung an die katholische Kirche! Denn nicht nur, dass Luther mit dem »sola fide« das Individuum mit seiner ganz persönlichen Entscheidung in den Mittelpunkt des christlichen Glaubens rückt und die »Institution Kirche« damit zur Nebensache erklärt – mit dem Hinweis auf die Bibel als die allein selig machende Richtschnur erklärt er auch sämtliche päpstlichen und amtskirchlichen Erlasse für Makulatur. Die leidigen Ablassbriefe sowieso.

Jeder sei ab sofort sein eigener Priester. Es bedürfe keiner institutionellen Vermittlung in Glaubensfragen. Überall und immer könne man mit Jesus Christus in Kontakt treten. Auch ein Priester sei nichts anderes als ein normaler Mensch, denn von »Priesterweihe« stehe überhaupt nichts in der Bibel. Und außer dem Abendmahl und der Taufe sei in der Heiligen Schrift überhaupt keines von den Sakramenten zu finden, die die Kirche so würdevoll und exklusiv austeile: kein Ehesakrament, keine Firmung, keine Totensalbung, kein Bußsakrament. Alles bloß kirchliche Erfindung.

Am 31. Oktober 1517 lässt Dr. Martin Luther seine gesammelte Meinung drucken. Das mit der Schlosstür, an die er trotzig seine Thesen genagelt haben soll, ist eine Legende. Und wenn er es doch getan hätte? Mutig wäre es, gewiss. Aber eigentlich ist es eher eine naive, unfreiwillige Heldentat. Denn für den Hochschullehrer Doktor Luther ist es einigermaßen selbstverständlich, das Grundsatzpapier bekannt zu geben, so wie es damals eben üblich war, wenn man eine akademische Disputation in einer Universitätsstadt vom Zaun brechen wollte. Mit dem Sturm, der dann von diesen 95 Thesen ausging, rechnete Luther nicht im Traum.

Beinahe war es schon ein alter Hut, was der Reformator da anmahnte. Bereits hundert Jahre zuvor hatte nämlich schon ein anderer ähnlich »protestiert«: der Prager Reformator Jan Hus (1369–1415). Damals war ihm diese Kritik an der mächtigen Kirche allerdings schlecht bekommen. Obwohl man ihm kaiserlichen Schutz für seine An- und Abreise zum Konzil von Konstanz zugesichert hatte, stellte man ihn doch noch während des Konzils 1415 auf den Scheiterhaufen.

Den unliebsamen Kritiker konnte man verbrennen, seine Botschaft nicht. Die berechtigte Empörung seiner Anhänger mündete in die furchtbaren Hussiten-Kriege, die halb Böhmen in Schutt und Asche legten. Danach wurden die Politiker und Kirchenleute etwas vorsichtiger, wenn es darum ging, schnellen Prozess zu machen und das Versprechen des »Freien Geleits« mir nichts, dir nichts zu brechen.

Aber auch Luther wurde 1521 vom 21-jährigen Kaiser Karl V. vor den Reichstag zu Worms zitiert. Mit der Aufforderung, seiner Irrlehre abzuschwören. Denn die Angelegenheit war eskaliert, nachdem der aufmüpfige Mönch die »Rote Karte« des Papstes, die Bannandrohungsbulle, öffentlich verbrannt hatte und darauf sogleich mit dem kirchlichen Bannfluch belegt worden war. Die heftige Reaktion Luthers auf den »Statthalter des Teufels«, wie er den Papst ab sofort nannte, war vor allem deswegen so provokant ausgefallen, weil es sich hier um eine wirkliche Liebesenttäuschung handelte: Luther glaubte, der Heilige Vater wüsste gar nichts von Amtsmissbrauch, Vetternwirtschaft und Ablassschacher. Mit der bitteren Erkenntnis, dass der Papst tatsächlich selbst hinter allem stecke, war Luthers fromme Ergebenheit in rabiaten Hass umgeschlagen.

Dass Luther schließlich sein – ebenfalls nur legendenhaft überliefertes – »Hier stehe ich und kann nicht anders!« dem Kaiser in Worms entgegenschleudern konnte, ohne sogleich auf dem Scheiterhaufen zu landen, hat vor allem zwei Gründe: den Buchdruck und die Politik.

Durch den Buchdruck mittels metallener, beweglicher Lettern war um 1450 von Johannes Gutenberg (1400–1468) das erste Massenmedium der Welt erfunden worden, das eine enorme Breitenwirkung entfaltete, vergleichbar dem heutigen Internet. Luther wusste von Anfang an alle Möglichkeiten des Mediums voll auszuschöpfen. Was heute Facebook leistet, bewirkten damals Luthers flott geschriebene Broschüren von kaum mehr als ein paar Dutzend Seiten, die die wesentlichen Elemente seiner neuen Lehre lauffeuerartig verbreiteten. Entsprechend rasch vergrößerte sich seine Anhängerschaft. Bereits vor dem Wormser Reichstag war Luther zu einem Promi aufgestiegen, den man nicht einfach gefahrlos hätte beseitigen können.

Und politisch sympathisierten viele deutsche Fürsten mit Luther. Vor allem sein Landesfürst Friedrich der Weise (1486 bis 1525), der dann ja auch den geächteten und vogelfreien Rebell auf die sichere Wartburg »entführen« ließ, um ihn aus der Schusslinie zu nehmen. Dabei hatte die Liebe zu Luther nicht immer nur religiöse Gründe. Lange schon murrten die Fürsten, dass mit den Ablassgeldern enorme Summen nach Rom flossen – und somit nicht in ihre eigenen Taschen. Außerdem spekulierten sie heimlich darauf, dass ihnen bei einer erfolgreichen Reformation der reiche katholische Kirchenbesitz zufließen würde.

Der Habsburger Karl V. war zudem ein junger ehrgeiziger Kaiser, der sich mit zahllosen Problemen herumschlagen musste. Er hatte von seinem Großvater Maximilian I. (1486–1519), den man oft den »letzten Ritter« genannt hat, ein Riesenreich in Zeiten des Umbruchs geerbt. Als gebürtiger Burgunder sprach er kaum ein paar Brocken Deutsch, musste aber die selbstbewussten deutschen Fürsten bändigen. Neben Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Österreich rechnete neuerdings auch Amerika zu seinem Imperium, in dem nun die Sonne nicht mehr unterging. Nur das gefestigte Frankreich und England entzogen sich seiner Befehlsgewalt. Mit Frankreich aber gab es ständig kriegerische Reibereien, da sein König Franz I. Italien ebenso beanspruchte, wie Karl es tat.

Versetzen Sie sich einmal in die Situation des jungen Karl, und Sie werden verstehen, dass jeder Beruf besser ist als der des Kaisers in einem inzwischen diffusen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Karl befand sich ja sozusagen im Dauerclinch: im Kampf gegen die deutschen Fürsten, die mit Luther sympathisierten und heimlich gegen den Papst Front machten; zeitweise auch im Kampf gegen den Papst, den er in Worms noch dadurch glücklich zu machen suchte, dass er über Luther die Reichsacht verhängte; im Kampf gegen den Erzfeind Frankreich; vor allem aber gegen die Türken, die 1529 bis vor die Tore Wiens gefährlich vorrückten, nachdem sie schon ganz Ungarn verheert hatten. Bei so viel Regierungsstress ist es kein Wunder, dass dieser Weltenherrscher sich 1556 frustriert ins spanische Kloster Yuste zurückzog und die Herrschaft über Spanien und die Niederlande seinem Sohn Philipp, die Kaiserkrone aber seinem Bruder Ferdinand überließ.

In Yuste soll er fast täglich an der Verbesserung einer technischen Innovation herumgebastelt haben: an Uhren, deren Mechanismus er in absoluten Gleichlauf zu setzen suchte. Letztlich vergeblich, was ihm aber als tröstliches Symbol dafür galt, dass nichts auf dieser Welt in Einklang zu bringen sei – die Uhren nicht und schon gar nicht die Menschen.

Und wenn Sie sich noch tiefer in den Seelenzustand eines frustrierten Kaisers der Lutherzeit einfühlen wollen, dann sollten Sie jetzt unbedingt in ein Musikgeschäft gehen. Da finden Sie unter der Rubrik »Moderne Klassik« etwas ganz Passendes, das der ungarische Komponist György Ligeti 1962 unter dem Titel »Poème Symphonique« veröffentlicht hat: ein Konzertstück für hundert unterschiedlich tickende Metronome. Genauso verrückt muss bereits die Welt in Karls Ohren »getickt« haben.

Übrigens hat auch Luther ganz ähnliche disharmonische Erfahrungen gemacht. Aber er hatte wohl die stärkeren Nerven. Dauernd hatte er mit der Uneinigkeit seiner Protestanten zu kämpfen.

Da waren die Täufer, die als »Wiedertäufer« verspottet wurden und denen Luthers Reform nicht weit genug ging. Sie forderten eine staatsfreie Kirche und lehnten die Säuglingstaufe als unbiblisch ab. Taufen lassen soll man sich erst als mündiger Erwachsener, meinten sie.

Luthers reformatorischer Kollege Ulrich Zwingli (1484 bis 1531) sorgte zwar in Zürich dafür, dass diese furchtbaren Ketzer sich nicht ausbreiteten, widersprach aber Luther seinerseits heftig in einem anderen Punkt: in der Abendmahlslehre.

In Genf gab es einen Reformator der zweiten Generation namens Johannes Calvin (1509–1564), der auf überstrenge Kirchenzucht setzte, jeden Luxus und jede Leichtigkeit des Herzens als Sünde brandmarkte und außerdem zur radikalen Ausrottung aller Hexen aufrief. Auch ihm war Luther viel zu lasch.

Selbst im heimischen Wittenberg begannen dessen radikale Anhänger, die schönen Kunstwerke aus den Kirchen herauszureißen und damit revolutionäre Freudenfeuer zu entfachen. Keine Kompromisse! So eine Reformation darf keine halbe Sache sein, meinten sie. Die leibeigenen, unzufriedenen Bauern wiederum missverstanden Luthers Lehre »Von der Freiheit eines Christenmenschen« als Aufruf zum gesellschaftspolitischen Umsturz. Genau wie die verarmten Reichsritter, die im beginnenden Kampfgetümmel frische Morgenluft witterten und ihre sterbende Mittelalterwelt kriegerisch reanimieren wollten – fast ähnlich dem deutschen Adel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als dieser dem Militarismus verhängnisvoll Vorschub leistete, weil das Kriegsspiel seine eigentliche Domäne war und ihm seine Daseinsberechtigung verlieh.

Luther aber widerstand weitgehend jeder Radikalisierung seiner Bewegung. Das mag ein wesentlicher Grund dafür sein, warum er zuletzt im Bett starb und nicht auf dem Scheiterhaufen oder durch das Schwert. Das Rezept seines Erfolgs waren Verlässlichkeit und Standhaftigkeit, Bemühung um Ausgleich, Authentizität seiner Absichten, Abneigung gegen Gewalt – auch wenn er hier und da aus taktischen Gründen moralisch versagt hat, etwa wenn er gegen plündernde Bauern und »geldgierige« Juden Front machte. Oder wenn er dem für ihn politisch wichtigen Landgrafen von Hessen die Ehe mit zwei Frauen erlaubte, wie bei Abraham in der Bibel. Der Leibarzt des Fürsten ist mit dem Argument überliefert, der potente Graf habe drei Hoden und benötige daher eine entsprechend reichliche Versorgung.

Am starren hierarchischen Herrschaftsprinzip seiner Zeit hat Luther, der Entdecker der »Freiheit eines Christenmenschen«, aber zeitlebens nie gerüttelt. Ein König sei ein König, ein Knecht ein Knecht. Jeder an dem Ort, wo Gott ihn hinstellt. Und auch in Fragen der »richtigen« Religion ließ er nicht mit sich reden. Luther war ein Mann in der Mitte zwischen Mittelalter und Neuzeit. Tief religiös, aber zugleich intellektuell erweckt. Das kritische Nachdenken über die Verhältnisse hat durch ihn einen ersten großen Schub erfahren. Aber universelle Menschenrechte und religiöse Toleranz zählen noch längst nicht zu seinen Erfindungen.

Ja, so etwas gibt es eben auch: Nicht nur Geld und Machtstreben verändern die Welt, wie man in unserer Zeit gern glaubt, manchmal sind es sogar redliche Gewissensgründe. Man kann aber auch aus noch ganz anderen Motiven zum Protestanten werden. Dafür ist Heinrich VIII. von England (1491–1547) ein gutes Beispiel.

Der englische König wollte nämlich nicht nur seine Eheschließungen – sechs sollten es am Ende sein – päpstlich genehmigt sehen, sondern sogar die Hinrichtungen seiner abgelegten Ehefrauen. Da der Papst jedoch die rabiate Ehepraxis von König Blaubart rügte, weil im Zuge der Gegenreformation auch in Rom die Sitten nun strenger wurden, löste Heinrich seine Kirche kurzerhand von der römischen ab. Er gründete 1533 seine eigene »Anglikanische Kirche«, eine Art Zwischending zwischen Katholizismus und Protestantismus. Der Papst schied als höchste Autorität der englischen Kirche aus, und an seine Stelle trat der Staat, natürlich in Gestalt seines obersten Herrschers. Reformation light sozusagen. Ein königlicher Federstrich reichte da noch aus, um die Fragen von Gott und Welt glattzuziehen.

Aber in der Menschheitsgeschichte zieht ein Federstrich manchmal einen dicken Klecks hinter sich her, wenn auch nicht an der Wartburg-Wand. Die Krise der Kirche, die noch wenige Jahrzehnte zuvor als einheitsstiftende Macht in Europa gewirkt hatte, wurde bald zur großen Krise der europäischen Politik. In England begann unter der Tochter Heinrichs, der »jungfräulichen Königin« Elisabeth I. (1533–1603), deretwegen übrigens die erste englische Kolonie in Amerika Virginia, die »Jungfräuliche«, getauft wurde, eine unerbittliche Jagd auf Katholiken, die sich noch immer zu Rom bekannten. Mit der Hinrichtung Maria Stuarts (1542–1587), der katholischen Königin von Schottland, erreichte der Religionskampf seinen vorläufigen Höhepunkt.

In Frankreich ging es nicht weniger grausam zu, nur andersherum: Während eines Hochzeitsfestes, bei dem der gesamte Adel des Landes zusammenkam, ließ die katholische Königin Katharina von Medici (1519–1589) alle vornehmen Protestanten niedermetzeln. Als »Pariser Bluthochzeit« ist diese warme Augustnacht des Jahres 1572, die am Namenstag des heiligen Bartholomäus stattfand, in die Geschichtsbücher eingegangen.

Spanien freilich blieb unter Philipp II., dem Sohn Karls V., die treueste Hausmacht des Papstes. Im prachtvollen Palast El Escorial unweit von Madrid ging es ab sofort hochgeschlossen und höchst katholisch zu. Der Kampf gegen den Protestantismus erzeugte einen rigorosen »Reformkatholizismus«, dessen höchstes Anliegen die völlige Vernichtung der Ketzer war. Innenpolitisch konnte Philipp seinen Extremkatholizismus durchsetzen, indem er Tausende von Ketzern verbrennen ließ, viele Juden und Moslems gleich mit. Als Schutzherr der Kirche ging er zudem sehr erfolgreich gegen die Türken vor: In der Seeschlacht von Lepanto wurde die türkische Flotte so vollständig vernichtet, dass sie sich niemals mehr davon erholte.

Nur mit den Niederlanden, die ja auch zu seinem Reich gehörten, hatte er so seine Probleme. Die reichen Städte des Nordens, die sich erfolgreich und offen dem Welthandel aufschlossen, hielten nichts von Philipps fanatischem Glaubenseifer. Sein Statthalter im Norden, der eiskalte Machtmensch und Kriegsverbrecher Herzog Alba (1507–1582), suchte nach der Wurzel allen protestantischen Übels und fand sie nicht zuletzt im Buchdruck, den er nun unter strenge Zensur stellte, nachdem er einige Buchdrucker hatte ermorden lassen. In seinem »Blutgericht zu Brüssel« verfügte er außerdem die Hinrichtung von über 6000 Befürwortern der niederländischen Unabhängigkeit. In der Folge von Aufständen ließ er schließlich mehr als 20 000 Niederländer exekutieren. Daran erinnern Friedrich Schiller in seinem »Don Carlos« und Johann Wolfgang von Goethes »Egmont«.

Wir kennen das inzwischen ja zur Genüge: Druck erzeugt Gegendruck, der schließlich ein Ventil sucht. Letztlich entfachte die brutale Entfesselung von Gewalt den niederländischen Widerstand nur umso heftiger. Nach brutalen, wütenden Kämpfen konnten sich die protestantischen Städte 1579 vom spanischen Joch befreien. Dieser politische Misserfolg mag Philipp zu einem noch extremeren Kreuzzug angestachelt haben, der allerdings in einer noch größeren Katastrophe für ihn endete.

Die Sache ist spannend: Um das protestantische England zu rekatholisieren, lässt Philipp im Jahr 1588 130 Segelschiffe mit 2000 Kanonen und 20 000 Soldaten Kurs auf die Insel nehmen. Die spanische Armada scheint zur unbezwingbaren Bedrohung für England zu werden – aber es kommt nicht einmal zur Landung am englischen Gestade. Die geschickte Strategie der Angelsachsen, die noch vor dem Angriff auf hoher See mit kleinen schnellen Booten die Linien der schwerfälligen spanischen Galeonen durchstoßen, führt im Verein mit einem schweren Sturm und der verderblichen Wirkung von Holzparasiten, sogenannten Holzbohrwürmern, dazu, dass mehr als die Hälfte der stolzen Kriegsschiffe ihren spanischen Hafen nie mehr wiedersieht. Zwanzig Jahre später wird ein Überraschungsangriff der Niederländer im Hafen von Cadiz der einst so herrlichen Armada den endgültigen Todesstoß versetzen.

Mit diesen Misserfolgen und dem Verlust der Seehoheit beginnt der Niedergang Spaniens, auch und vor allem was den Einfluss auf die überseeischen Länder angeht, die weltpolitisch allmählich nun immer wichtiger werden.

Aber das eigentliche Drama im Religionsstreit, das alle anderen Schrecklichkeiten der Zeit weit in den Schatten stellt, spielt sich auf deutschem Boden ab, in den Jahren zwischen 1618 und 1648. Es beginnt damit, dass drei feine Herren, Abgesandte des katholischen Kaisers, im protestantischen Prag aus dem Fenster gestoßen werden und auf einem Misthaufen landen. Der weiche Misthaufen rettet ihnen zwar das Leben, aber umso schlimmer ist ihre Ehre beschmutzt. So wird der Fenstersturz zu Prag zum Auftakt eines dreißig Jahre währenden Krieges, in dem offiziell Katholizismus und Protestantismus um die Vorherrschaft in deutschen Landen ringen. Im Gemetzel wilder Soldatenheere aus aller Herren Länder gerät der religiöse Ausgangspunkt schnell in Vergessenheit. Zuletzt kämpft sogar das katholische Frankreich gegen das noch katholischere Spanien und den katholischen römisch-deutschen Kaiser in Österreich, einfach weil die Gelegenheit so günstig ist, im allgemeinen Trubel die beiden großen Konkurrenten in die Knie zu zwingen.

Eigentlicher Sieger dieser Auseinandersetzung, die ansonsten fast nur Verlierer kennt, ist denn auch Frankreich unter seinem gerissenen Minister Kardinal Richelieu.

Einige Städte und Festungen entlang des Rheins wechseln in den Besitz Frankreichs. Ansonsten lässt der mühsam ausgehandelte Westfälische Friede von Münster und Osnabrück aus dem Jahr 1648 ein völlig verheertes Deutschland zurück, dessen Einwohnerschaft fast halbiert ist.

Nur ganz selten, lieber Leser, ist es berechtigt, weil viel zu spekulativ, in der Weltgeschichte eine stichhaltige Antwort auf die Frage zu geben, was denn gewesen wäre, wenn die Zeitgenossen in die Zukunft hätten blicken können. Im Fall Luther darf aber eines als ganz sicher gelten: Wenn der große Reformator auch nur in Umrissen geahnt hätte, dass seine akademische Kritik am Ablasswesen des Papstes zu einem der schlimmsten Kriege der Menschheitsgeschichte ausarten würde, dann hätte er sich die Sache mit den Thesen noch einmal überlegt. Und vielleicht hätte er dann sogar die Tinte, mit der alles begann, nicht gegen den Teufel geworfen, sondern sie zu ihm gewünscht.