32. Der Kuss des Leguans

Das Faszinierende an Geschichte ist, dass es oft ganz kleine Dinge sind, die völlig unerwartet große Bedeutung erlangen.

Könnten Sie denn auf Anhieb auf einem Globus die kleine Ansammlung von Vulkan-Atollen zeigen, die sich gute tausend Kilometer vor der Küste Ecuadors ausbreitet und die den Namen Galapagos trägt? Vor 200 Jahren hätte wohl kaum jemand auch nur mit dem Namen der Inselgruppe etwas anfangen können. Und niemand hätte damals geahnt, dass ein 26-jähriger Arztsohn, der auf ebendieser abgelegenen Inselgruppe im Herbst 1835 wochenlang Singvögel und Leguane beobachtet, einmal das Weltbild der Menschheit so revolutionieren würde, dass man ihn noch heute auf die Liste der zehn wichtigsten Männer der Geschichte setzt? Die Weltgeschichte besteht aus einer einzigen Kette von Überraschungen.

Dem Engländer Charles Robert Darwin (1809–1882) war keineswegs schon an der Wiege gesungen, dass er den Fortschritt der Menschheit stärker beeinflussen würde als alle Politiker und Feldherrn des 19. Jahrhunderts zusammen. Als fünftes von sechs Kindern eines Arztes im hinterwäldlerischen Shrewsbury geboren, sollte er wie der Vater Arzt werden. Das halbherzig begonnene Studium konnte ihn aber nicht faszinieren. Außer in Chemie fiel ihm die Begeisterung für das Lernen schwer. So sattelte er um auf Theologie, empfand aber auch diese Beschäftigung insgeheim als Zeitverschwendung. Sein Großcousin ermunterte ihn, die Langeweile des Studiums in Cambridge mit gelegentlichen Exkursionen in die Umgegend zu vertreiben. Da gab es nun in der Natur vieles zu sehen und zu entdecken, was ihn an seine Jugendzeit erinnerte und sein Interesse an Fragen der Naturwissenschaft erneut weckte. Denn schon als Kind hatte er mit Begeisterung Käfer gesammelt und im »Labor« seines älteren Bruders, einem alten Schuppen, »Naturentdecker« gespielt.

Charles Darwin wurde zwar ein ungläubiger Theologe, aber dafür ein Naturforscher allererster Güte. Auf den Spuren und in der Tradition des großen weltreisenden Naturentdeckers Alexander von Humboldt (1769–1859) wandelnd, überbot er dessen Erkenntnisse mit seiner »Evolutionstheorie« in weltbewegender Weise. Von seiner fast fünfjährigen Erkundungsfahrt auf dem Segelschiff Beagle (Dezember 1831– Oktober 1836) sagte er am Ende seines Lebens, dass diese Weltreise, die ihn auch zu den für seine Forschungen so bedeutenden Galapagos-Inseln führte, »das bei Weitem bedeutendste Erlebnis in meinem Leben war«. In Wirklichkeit aber hatten die dabei gewonnenen Erkenntnisse noch viel größere Bedeutung.

Für die Menschheit war es das vielleicht folgenschwerste Ereignis des 19. Jahrhunderts. Denn Darwins Entdeckung, dass die Entwicklung aller lebendigen Wesen auf natürlichen Einflüssen beruhe und nicht auf einem einmaligen Schöpfungsakt Gottes, schlug wie eine Bombe in alle Bereiche der damaligen Gesellschaft ein. Hatte man bisher den biblischen Schöpfungsbericht weitgehend als verbindliche Dokumentation der Welt-, Tier- und Menschwerdung akzeptiert, so kamen mit Darwins wissenschaftlich-peniblen Beobachtungen die großen alten Wahrheiten ins Wanken. Dass es eine gemeinsame Abstammung und damit einen biologischen Zusammenhang zwischen allen Lebewesen gebe, war für die meisten Menschen des 19. Jahrhunderts ganz unglaublich. Und dass Gott die unterschiedlichen Lebewesen nicht mit einem einzigen himmlischen Paukenschlag geschaffen habe, sondern dass ihre Entwicklung sich durch kleinste graduelle Veränderungen vollziehe und als ein andauernder, dynamischer Prozess zu verstehen sei, stieß auf energisches Kopfschütteln. Dass die natürliche Auslese dabei der bedeutendste Mechanismus der Evolution sei – diese Vorstellung erschreckte die Gemüter und stellte den Willen Gottes in Zweifel. Und dass gar eine nahe Verwandtschaft des Menschen mit dem Affen bestehe, entsetzte oder belustigte die Öffentlichkeit.

Sigmund Freud hat ein halbes Jahrhundert später in Hinblick auf Darwins Entdeckung von einer gewaltigen »Kränkung der menschlichen Eigenliebe« gesprochen, dadurch ausgelöst, dass »die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichtemachte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Untilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies«. In der Tat: Fast kein Bereich des menschlichen Lebens blieb davon unberührt, dass Darwin das Woher unserer Existenz unter Auslassung der Religion entschlüsselte. Nicht nur das Menschenbild wurde in dieser Sternstunde der Wissenschaft völlig verändert, sondern auch unsere Sicht auf die Welt, auf das Tierreich, auf die ökologischen Zusammenhänge. Die Verantwortung für alles Leben wurde von hier aus auf eine ganz neue Grundlage gestellt und der Mensch erneut ein Stück weiter aus dem Zentrum der Welt herausgerückt.

Um es sportiv auszudrücken: Wie einen jener siegesgewissen Radfahrer, die bei den berüchtigten Bergetappen der Tour de France über lange Zeit einsam die Spitze bilden, dann aber kurz vor dem Ziel vom Hauptfeld eingefangen und wieder verschluckt werden, holte Darwin den Menschen vom Podest der Schöpfung und schickte ihn zwecks Wiedereingliederung zurück in den Zoo. Die Sonderstellung des Homo sapiens war dahin.

Während Darwin ein Erdbeben auslöste, sind viele andere Wissenschaftler dieses Jahrhunderts am starrköpfigen Beharrungsvermögen ihrer Epoche geradezu zerbrochen. Es sei hier nur exemplarisch an den Wiener Arzt Ignaz Philipp Semmelweis (1818–1865) erinnert, der mit der Erfindung der Hygiene (zur Vorbeugung gegen Infektionskrankheiten) die wohl effektivste medizinische Maßnahme aller Zeiten anstieß, aber von den Standeskollegen verlacht wurde und in geistiger Umnachtung starb. Im Gegensatz dazu wurde die Bedeutung Darwins am Ende seines Lebens von seinen Zeitgenossen weitgehend anerkannt. Man bestattete den 73-Jährigen am 26. April 1882 in der Londoner Westminster Abbey zu Füßen jenes Monuments, das dem bis dahin größten Naturwissenschaftler galt: Sir Isaac Newton.

Welche Bedeutung haben im Vergleich zu solchen Neujustierungen der Welt schon politische Taten und Verträge? Oder gar Schlachten, selbst wenn, wie im Oktober 1813 bei Leipzig, ganze »Völker« aufeinanderprallen? Haben sich territoriale Grenzziehungen jemals als so dauerhaft erwiesen wie große Gedanken und fundamentale Erkenntnisse? Wenn der Grieche Heraklit († um 460 v. Chr.) behauptet, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei, dann erweist er sich als einer der Vorläufer von Darwin und seiner Lehre vom »Kampf ums Dasein«, mit dem der große Forscher den britischen Kolonialismus rechtfertigte.

Der 1,67 Meter kleine Zeitgenosse, der bei seiner Karriereplanung an der Wende zum 19. Jahrhundert noch auf Heraklit setzt, hat Charles Darwin auch nicht gekannt. Als er 1821 auf der Sträflingsinsel St. Helena an Magenkrebs stirbt, ist der kleine Charles erst zwölf Jahre alt. Aber zwei Dinge hat er am Ende doch mit ihm gemein: Auch er nimmt gewaltigen Einfluss auf die Entwicklung seines Jahrhunderts. Und auch er entsteigt dem relativen Dunkel der Geschichte.

Denn dieser Napoleon Bonaparte ist ein geborener Nobody, der sich zu der Zeit, da Ludwig XVI. am Hofe von Versailles noch im letzten Glanz seines Sonnenkönigtums schwelgt, mit seinen sieben Geschwistern auf der kargen Felseninsel Korsika um den spärlich gedeckten Tisch drängt. Der Vater, ein eher schlecht situierter Advokat, ist ein gemäßigter korsischer Salon-Revoluzzer, bereit, für die Unabhängigkeit seiner Heimat zu kämpfen, solange es gegen die schwachen Kaufleute aus Genua geht, die die Insel zu dieser Zeit besitzen; aber mit der schnellen Bereitschaft, sich den viel stärkeren Machthabern zu beugen, als Korsika 1769 vom starken Frankreich käuflich erworben wird. Auch sein Sohn hat ein untrügliches Gespür für die richtige Windrichtung, aus der die neue Macht weht. Schnell stellt der junge Napoleon fest, dass man »nach Paris gehen muss, um es zu etwas zu bringen«, wie er später freimütig bekennt.

Eine clevere Entscheidung. Aus dem eigenbrötlerischen Kadetten der Militärakademie, der bei der einsamen Lektüre über Alexander den Großen im Stillen von Ruhm und Ehre träumt, wird in den Wirren der Französischen Revolution ein 24-jähriger Brigadegeneral, treu ergeben den radikalen Jakobinern und ihrem vernunftmörderischen Anführer Robespierre.

Aber die Zeiten der Revolution sind gleichwohl unsicher. Mancher General, der eine Schlacht verliert, verliert danach auch seinen Kopf, wegen »Hochverrats«. Und als es eines Tages plötzlich Robespierre ist, der unter die Guillotine gelegt wird, tendieren auch die Karrierechancen seines Parteigängers schlagartig gegen null: Als Sympathisant des hingerichteten Revolutionsführers wird Napoleon ins Gefängnis geworfen.

Wie so oft in der Weltgeschichte ist es jetzt der überraschende Zufall, der zum »Vater der Geschichte« wird. Und wenn man Glück hat, kennt man eben die richtigen Leute. Als sich das neue »Direktorium«, der fünfköpfige Exekutivrat der Revolution, einer Bedrohung durch einen Aufstand junger Adliger gegenübersieht, wird Napoleon von einem Bekannten empfohlen. Als Mann fürs Grobe. Brutal lässt Napoleon den Aufstand zusammenschießen, wird dafür rehabilitiert und erneut mit dem Generalsstatus belohnt. Tapfer übernimmt er das Kommando einer eher kläglichen Freischärler-Armee, die den glorreichen Sieg der Revolution auch nach Italien tragen soll.

Eigentlich ein Himmelfahrtskommando, aber Napoleon erweist sich als begnadeter Motivator und genialer Stratege seiner Truppe. Insbesondere ist es die neue, revolutionäre Kampftechnik, die sich als überaus effektiv erweist: Sogenannte Tirailleurs, Scharfschützen, bewegen sich außerhalb der festen Kampfformationen und töten als Einzelkämpfer Offiziere und Truppführer der Gegner. Napoleons rigorose Taktik zielt darüber hinaus darauf, den Gegner nicht bloß zu schlagen, sondern ihn tatsächlich gänzlich zu vernichten.

So erobert er ganz Oberitalien – und sendet bei dieser Gelegenheit eine Reihe bedeutender italienischer Kunstwerke nach Paris. Diese Beutekunst für den Louvre ist Teil seines Kulturprogramms und zeigt die andere Seite des brutalen Eroberers: Als Schöngeist plant er innovative, volkspädagogische Maßnahmen der Geschmackserziehung, die er später auch mit Dutzenden Museumsgründungen wirklich umsetzt. Anschließend zieht er gegen Österreich und zwingt den schwachen Kaiser, alle deutschen Gebiete jenseits des Rheins abzutreten.

Jetzt noch gegen das mächtige England anzugehen erscheint selbst einem Napoleon allzu gewagt. Aber England an seiner empfindlichsten Flanke zu schwächen ist ein Plan, der gelingen könnte. Das unter englischer Herrschaft stehende Ägypten wird das neue Ziel des Unersättlichen, der sein gigantisches Ego nun auch mit religiösem Pathos unterfüttert und von »Vorsehung« spricht.

Bei unserer Reise durch die Weltgeschichte haben wir immer wieder erlebt, wie es herausragende Persönlichkeiten mit oft aberwitzigem Sendungsbewusstsein verstanden haben, die eher trägen Massen mitzureißen. So auch diesmal in besonders selbstbewusster Ausführung: »Alle menschliche Anstrengung gegen mich ist nutzlos, denn alles, was ich unternehme, ist bestimmt zu gelingen!« Solch himmelschreiende Suggestionen Napoleons verfehlen ihre öffentliche Wirkung nicht, selbst wenn die Realität ganz anders aussieht: Zwar kämpft Napoleon 1798 eine erste erfolgreiche Schlacht gegen Englands Landstreitkräfte, aber vor dem ägyptischen Abukir rammt die Seemacht England unter Admiral Nelson die französische Flotte fast vollständig in den Grund.

Für den sieggewohnten Napoleon ein Motiv, um seine wenig erfolgreiche Truppe umgehend zu verlassen und nach Paris zu gehen, wieder in die Stadt, »in der man es zu etwas bringt«. In einer Art Staatsstreich setzt er sich als »Konsul« an die Spitze der schwächelnden Regierung, denn in politisch unruhigen Zeiten haben Volksvertreter zwar die starken Worte, Generäle aber die stärkeren Waffen. Und das Volk liebt nun mal den Erfolgreichen umso mehr, je anschaulicher er sich in Szene zu setzen vermag. Sogar das neue Gesetzbuch wird jetzt mit dem Namen des bejubelten Putschisten ausgestattet: Code Napoléon. Kaum ist es jetzt noch das Revolutionsideal von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das kümmert, sondern es ist der beeindruckende militärische Erfolg, der der Grande Nation Ruhm und Ehre einfährt, zuletzt auch in der erfolgreichen Auseinandersetzung mit Österreich.

Kennen Sie jemanden in Ihrer Umgebung, der sich wie ein »kleiner Napoleon« aufführt? Es gibt diese Zeitgenossen überall, auch wenn sie heute nicht mehr so erfolgreich sind wie das Original. Es sind Menschen, die von allem alles wollen. Denen nie etwas genug ist. Die nie innehalten in ihrer aufreibenden Lebenshatz. Die wie scharfmäulige Leguane automatisch nach allem schnappen, was entfernt nach Beute aussieht. Zwar ist Napoleon jetzt bereits »Konsul auf Lebenszeit«. Aber das reicht ihm nicht. Er will Kaiser werden, macht sich 1804 selbst dazu und muss zu diesem Zwecke nicht einmal, wie es noch Karl der Große im Jahr 800 tat, nach Rom pilgern. Der zukünftige König von Italien bestellt kurzerhand den Papst zur Kaiserkrönung nach Paris ein.

Wer so viel atemberaubende Stärke demonstriert, muss sich nicht wundern, wenn der Rest der Welt dagegen aufbegehrt. Im Bündnis gegen Napoleon vereinen sich die, die sich sonst spinnefeind sind: Preußen, Österreich, Russland, Schweden, natürlich auch England. Andererseits sympathisieren viele kleine Fürstentümer mit dem revolutionären Befreier; denn gerne geht der Schwache mit dem Starken ein Bündnis ein, und es gilt das Sprichwort: »Wenn du einen Feind nicht besiegen kannst, dann mach ihn zum Freund!« Große Teile des aufgeklärten deutschsprachigen Bürgertums sehen in Napoleon immer noch den revolutionären Wirbelwind, mit dem Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch in deutsche Lande hereinwehen sollen. Ein modernes Genie wie Beethoven (1770–1827) widmet dem französischen »Prometheus« gar seine Dritte Symphonie, die »Eroica«, macht diese Widmung aber wütend rückgängig, als Napoleon sich zum Kaiser krönt. Früher als viele andere erkennt Beethoven: »So ist der auch nicht anders als ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen.« Damit hatte der hellsichtige Beethoven den Nagel durchaus auf den Kopf getroffen.

Mit dem Sieg bei Austerlitz 1805 gegen die Alliierten wird ein Jahrzehnt der gigantischen Schlachten eingeläutet. Es ist zugleich die schier unglaubliche Erfolgsstory einer einfachen korsischen Familie. Denn Napoleon verteilt die eroberten Herzogtümer, Grafschaften und Königreiche unter seine Verwandten: Sein Schwager erhält einen Teil von Deutschland, sein Stiefsohn Italien, ein Bruder Neapel, ein anderer Holland, die Schwester ein Herzogtum in Italien, sein Bruder Joseph wird König von Spanien, ein weiterer König von Westfalen.

Hätten sich diese Familienmitglieder zwanzig Jahre zuvor je ausmalen können, dass sie einstmals zu Beherrschern Europas aufsteigen würden? Zu Fürsten, Königen und Kaisern, damals, als sie wie Hungerleider am Rande der zivilisierten Welt in der schroffen Bergwelt Korsikas hausten, jener Insel vor der italienischen Küste, die eher zufällig in den Besitz Frankreichs geriet?

Jetzt ist es dieser kleine Korse, der auch noch das tausendjährige Heilige Römische Reich Deutscher Nation endgültig zu Fall bringt. 1806 sieht Kaiser Franz II. den politischen Realitäten ins Auge und legt den uralten Kaisertitel unter dem Druck Napoleons ab. Damit bricht der geschichtlich gewachsene Brückenschlag zwischen Antike und Neuzeit unwiderruflich ab. Bereits 1803 war unter dem massiven Drängen des antiklerikalen Frankreich im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss, der letzten großen gesetzlichen Beschlussfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die Auflösung aller geistlichen Fürstentümer vereinbart worden, also die Auflösung all jener Territorien, in denen seit der Zeit Karls des Großen die Bischöfe wie landesherrliche Fürsten regierten.

Der »Reichsdeputationshauptschluss« – eines der schönsten Wortungetüme deutscher Sprache – beendet 1803 die weltliche Herrschaft der Kirche, den Staat im Staate. Dennoch bleiben »Thron und Altar« im Zeitalter der Heiligen Allianz verbündet, und noch Bismarck muss Zivilehe und staatliche Schulaufsicht gegen die katholische Kirche durchsetzen.

Gleichzeitig schrumpfte mit der Enteignung des Kirchenbesitzes die Zahl der vielen hundert Klein- und Kleinstfürstentümer in Deutschland, weil die kirchlichen Territorien als Entschädigung für den Verlust der linksrheinischen Gebiete den weltlichen Fürsten übereignet wurden. Für Kaiser Franz II. (1768–1835) bedeutete diese Entwicklung freilich eine weitere Schwächung seiner Stellung im Reich. Denn mit dem Verschwinden der zahlreichen geistlichen Fürstentümer schrumpfte die Zahl der reichsunmittelbaren Herrschaftsgebiete von einigen hundert auf nur mehr 34.

So brachte Napoleons Vordringen nach Deutschland in der Bilanz drei Tendenzen hervor, die die Zukunft Deutschlands entscheidend geprägt haben: die Schwächung des alten europäischen Kaisertums, die Verminderung der zahllosen Kleinterritorien und die Vergrößerung der souveränen Großfürstentümer.

Im selben Jahr, da sich Kaiser Franz II. zwangsweise zu Kaiser Franz I. von Österreich herabstufen muss, geht Napoleon erfolgreich gegen den letzten starken Widerständler Preußen vor und versucht von hier aus eine Blockadepolitik gegen England. Er hofft, die Insel aushungern zu können, wenn er schon gegen die starke Seestreitkraft nicht ankommt. Bei Napoleons triumphalem Einzug in Berlin wird zwar offiziell ein Bündnis mit Preußen verkündet, aber unterschwellig mit dieser Zwangsvermählung zugleich schon der Keim gelegt zur französisch-preußischen »Erbfeindschaft«, die in den kommenden 150 Jahren noch viel schreckliches Blutvergießen verursachen wird.

1809, nach der Schlacht bei Wagram, reitet Napoleon endlich auch in Wien ein, in das einstige Herz des europäischen Kaisertums. Er ist am Ziel. Vorläufig. Franz muss gute Miene zum bösen Spiel machen und gibt dem neuen starken Mann seine Tochter zur Frau. Gezwungenermaßen. Denn wie wird sich der abgedankte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches dabei wohl gefühlt haben? Zu seiner politischen Ohnmacht gesellt sich jetzt noch die bittere Gewissheit, dass sich mit dieser Heirat 500 Jahre Habsburger Herrlichkeit mit dem Blut eines ehemaligen korsischen Habenichts vermischen müssen.

Aber wer fragt noch nach Blut, wenn es um einen politischen Supermann geht, der inzwischen ein Reich beherrscht, das größer ist als dasjenige Karls des Großen? Oder wie es der Zeitgenosse Goethe als politischer Beobachter einmal nüchtern – an den deutschen Adel adressiert – konstatiert hat: »Schüttelt nur an euren Ketten. Der Mann ist euch zu groß!«

Andererseits ist die Weltgeschichte voller Paradoxien. Ein »großer Befreier« kann sich schnell als »großer Diktator« entpuppen. Politische Stimmungen können über Nacht kippen. Ein Sieg mobilisiert oft Gegenkräfte, die sich auf lange Sicht als wirkungsvoller erweisen als der größte Triumph. Und plötzlich denken dann alle wie Beethoven.

Der erste hartnäckige Widerstand durch den Freiheitskämpfer und Viehhändler Andreas Hofer (1767–1810) in Tirol setzt trotz, oder gerade wegen, seiner Erfolglosigkeit nationale Kräfte frei. Napoleons mitreißende Revolutionsverheißung weicht zunehmend einer Ernüchterung über den rücksichtslosen Herrscher, der ein paar Jahre später einmal dem österreichischen Kanzler Fürst von Metternich gestehen wird: »Ich bin im Felde aufgewachsen, und ein Mann wie ich schert sich wenig um das Leben von einer Million Menschen!«

An Napoleons Konsequenz schärft sich zunehmend die nationale deutsche Idee. Letztlich ist er es, dessen Taten bei vielen Deutschen die Sehnsucht nach eigener Identität und nationaler Zusammengehörigkeit wecken und dessen imperiales Vorpreschen den lange vorherrschenden französischen Kultureinfluss mehr und mehr überschattet. Die deutschen Dichter und Denker der Romantik beginnen den Schatz der deutschen Sprache zu heben und entdecken bisher vernachlässigte Traditionen und Geschichten, wie sie jetzt aus dem Dunkel der mündlichen Überlieferung auftauchen, etwa mit der Märchenforschung der Brüder Grimm oder der Volksliedsammlung »Des Knaben Wunderhorn« von Clemens Brentano und Achim von Arnim. Deutschland beginnt sich im Lichte der napoleonischen Kriege als eigene Nation zu entdecken und seine Vergangenheit wertzuschätzen.

Und wie löst sich am Ende der Knoten? Im Grunde ganz einfach. In gewisser Weise besiegt Napoleon sich selbst. Denn brennender Ehrgeiz kann zur schärfsten Selbstmörder-Waffe werden, die sich denken lässt.

1812 ist das Jahr, in dem das Blatt sich wendet. Napoleon zieht mit 700 000 Mann die bis dahin größte Armee aller Zeiten zusammen, um noch Russland in die Knie zu zwingen. Der vorgegebene Anlass für den gewaltigen Überfall ist eher nichtig: Angeblich treibt Russland Handel mit England und sabotiert damit die Blockadepolitik. Der geplante militärische Triumphzug nach Moskau aber gerät zum militärischen Fiasko. Die Strategie der Russen ist immer dieselbe. Schon Peter der Große hat so die Schweden im Nordischen Krieg besiegt, und 140 Jahre später wird sich auch Hitler die Zähne daran ausbeißen: Die Russen lassen ihr unendlich weites Land für sie kämpfen.

Was sind schon 700 000 Mann in einem Reich, das vierzigmal größer ist als Frankreich und gut ein Sechstel des Festlandes der Erde ausmacht? Die russische Taktik der verbrannten Erde verhindert, dass sich die heranrückende Armee aus den Beständen der eroberten Landstriche ernähren kann. Erst als Napoleon endlich vor den Toren Moskaus steht, kommt es zur großen Schlacht von Borodino, die für Napoleon zwar sieg-, aber zugleich mit 80 000 Toten äußerst verlustreich ausgeht. Als seine Truppen Moskau besetzen, ist die Stadt leer und steht bald schon in Flammen. Und was ist zu tun, wenn der Zar, der nun eigentlich ehrerbietig die Waffen strecken sollte, sich nicht einmal zeigt?

Der Rückmarsch durch den russischen Winter und die ausgeplünderten Landstriche besiegelt das Schicksal der Grande Armée endgültig, spätestens als bei der Überquerung des vereisten Flusses Beresina Kosaken über die geschwächte Truppe herfallen. An der Memel, beim Eintritt in das preußische Reichsgebiet, wird klar, dass kaum fünf Prozent der Soldaten diesen Feldzug des Schreckens überlebt haben. Napoleon selbst hat sich bereits verkleidet in einem Bauernschlitten nach Paris abgesetzt und bastelt an dem Plan, wiederum Abertausende neuer Soldaten zu rekrutieren, um den Verlust an Menschenmaterial schnell wieder wettzumachen.

Doch sein Stern ist gesunken. In der Welt, aber auch in Paris. Was ist ein Sieger, der nicht mehr siegt? Einer, der über Hunderttausende von Leichen geht? Die Gegner wittern Morgenluft. Zuerst ist es Preußen, das plötzlich mit Russland gegen Napoleon paktiert. Nach kurzer Atempause schließt sich Österreich an, Schweden und England sind auch dabei. Mit der dreitägigen Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813 findet die Herrschaft Napoleons in Deutschland ihr Ende. Ein halbes Jahr später ziehen der russische Zar und der preußische König in Paris ein. Nach einem vergeblichen Selbstmordversuch dankt Napoleon am 6. April 1814 ab.

Unter dem österreichischen Kanzler Clemens Wenceslaus Lothar Fürst von Metternich (1773–1859) beginnt die Rückabwicklung, die Einebnung von zwanzig Jahren europäischer Geschichte. Ziel auf dem Wiener Kongress (1814/15) ist die Wiederherstellung der vorrevolutionären Verhältnisse. Die Siegermächte gehen dabei durchaus klug und behutsam vor. Denn Europas Machtgefüge ist so sensibel wie eine Apothekerwaage. Um Frankreich nicht vollends zu destabilisieren und damit Russland allzu viel Gewicht zu überlassen, werden die alten Grenzen von 1792 zugestanden. Napoleon darf seinen Kaisertitel behalten und mit 800 Getreuen auf der winzigen Mittelmeerinsel Elba »residieren«. Der Bruder des hingerichteten Bourbonen-Königs Ludwig XVI. besteigt jetzt als Ludwig XVIII. den französischen Thron.

Alles auf Anfang. Das Gleichgewicht der europäischen Mächte ist wieder sorgfältig austariert. Und noch einmal startet der Adel mit der vom russischen Zaren angeregten »Heiligen Allianz« den letzten Versuch, das Gottesgnadentum aller Monarchen gegen den revolutionären, agnostischen Trend der Neuzeit abzuschotten: Jesus Christus sei der wahre Souverän aller europäischen Völker; die Monarchen seien die gottgewollten Familienväter ihrer gehorsamen Untertanen; und das Christentum sei Grundlage aller Politik.

Es könnte so schön sein. Aber dieser Bund von Thron und Altar fällt bereits hoffnungslos gegen die Realitäten der aufgeklärten Zeit zurück, beschert Europa gleichwohl jene lange und etwas langweilige Friedenszeit, die als Epoche des Biedermeier in die Geschichtsbücher eingegangen ist.

Nur noch einmal wird Napoleon mit militärischem Geschick ein Comeback versuchen und Europa aus seinem beginnenden biedermeierlichen Schlaf kurzzeitig aufschrecken. Über hundert Tage hinweg kann er, als er im März 1815 überraschend in Südfrankreich landet, erneut das europäische Gleichgewicht bedrohen. Denn unter den Franzosen findet er rasch viele Anhänger, die den glorreichen Zeiten glänzender Siege nachträumen. Doch in der Schlacht bei Waterloo unterliegt Napoleon den Engländern unter Wellington im Verbund mit den preußischen Truppen der Generäle Blücher und Gneisenau. Um nicht in die Hände der Preußen zu fallen, die nach dieser neuerlichen Attacke mit dem unbequemen Korsen wohl kurzen Prozess machen würden, flüchtet Napoleon zu den Engländern. Die finden mit der abgelegenen Atlantikinsel St. Helena einen sicheren und endgültigen Verbannungsort. Hier wird er sechs Jahre später auf einem alten Feldbett sterben.

Wenn Sie heute im Pariser Invalidendom vor dem gigantischen Quarzit-Sarkophag stehen, in dem Napoleon erst vierzig Jahre nach seinem Tod zur Ruhe kam, dann werden Sie vielleicht einen starken Widerspruch empfinden: den Widerspruch zwischen dem riesigen, unbeweglichen Super-Size-Sarg in Mammutgröße und dem unruhigen Leben des doch so kleinen, quirligen Selfmade-Mannes, der ganz Europa aufmischte und doch niemals Erfüllung fand. Und bedenken Sie dann bitte, was übermäßige Selbstliebe in Verbindung mit Minderwertigkeitsgefühlen alles anrichten kann. Und wägen Sie in Ihrem Geiste jenes Urteil Napoleons über sich selbst, das er nach der Völkerschlacht zu Leipzig in tiefer Resignation gegenüber Metternich bekannte. Es war sein lebenslanges, furchtbares Mantra: »Eure Herrscher, geboren auf dem Throne, können sich zwanzigmal schlagen lassen und doch immer wieder in ihre Residenzen zurückkehren. Das kann ich nicht, ich, der Sohn des Glücks! Meine Herrschaft überdauert den Tag nicht, an dem ich aufgehört habe, stark und gefürchtet zu sein.«