Kapitel 16

 

Kalt und grau präsentiert sich das morgendliche Hollerbusch. In der Stadt hat sich der Schnee auf den Straßen längst in Matsch verwandelt, den die vorbeifahrenden Autos auf dem Bürgersteig verteilen. Einem Storch nicht unähnlich, bewegt Jules sich voran, bis Pip ihn unterhakt und der Trupp sich schneller in Richtung unseres Hauses bewegt.

Wir betreten den Zeitschriftenladen und meine Mutter winkt mir von der Theke aus zu.

 

„Hallo, wie schön, dass ihr hier seid“, ruft sie, ganz so, als würden wir zu einem Besuch bei Kaffee und Kuchen vorbeischauen.

Und dann sehe ich die vier Tassen auf der Theke, Porzellantassen, nicht die Pappbecher, in denen sie Kaffee an Kunden verkauft. In einem Brotkorb daneben liegen vier Croissants.

„Greift doch zu, ihr Männer“, fordert sie uns auf und reibt die Hände zusammen. „In den amerikanischen Krimis essen die Polizisten Donuts, aber die habe ich nicht bekommen.“

„Danke, Mama“, sage ich und schiele auf den Korb. „Aber wir wollen nur schnell etwas nachprüfen. Es ist keine Polizeiarbeit“, erkläre ich.

Arik greift als Erster zu, beißt herzhaft in sein Croissant. „Es ist ein bisschen wie Polizeiarbeit“, erzählt er meiner Mutter, deren Augen zu leuchten beginnen.

„Siehst du, Felix“, sagt sie und hängt an Ariks Lippen. „Wer gehört denn zum Kreis der Verdächtigen?“

„Wir wissen nicht einmal, was die Einbrecher suchen oder warum sie hier sind“, erläutere ich und Arik hält mir sein Croissant vor die Nase.

Ohne nachzudenken, beiße ich ab und meine Mutter strahlt mich an. Ach ja, er ist ja ihre erste Wahl, falls sie einen Ersatzsohn braucht.

„Ja, was könnten sie nur bei uns im Gartenhaus gesucht haben?“, überlegt sie laut. „Vielleicht wollten sie Technik stehlen? Davon hast du doch genug.“

„Ach, Mama. Onkel Charly hat mich heute Morgen angerufen. Du sollst dich mal melden“, unterbreche ich ihre Recherchen.

Schlagartig verfinstert sich ihre Miene. „Wie sonderbar“, murmelt sie. Kurz darauf lächelt sie wieder.

Pip und Jules haben jeweils ein Croissant genommen und nippen an ihrem Kaffee. Eilig scheint es niemand zu haben. Nur in mir pocht die Ungeduld. Je früher wir diese eigenartige Suche hinter uns bringen, desto besser.

Mit vollendeter Eleganz stellt Jules seine Tasse ab, wischt Pip einen Krümel aus dem Mundwinkel und nickt meiner Mutter zu.

„Könnten wir diese Hintertür nutzen?“, fragt er förmlicher als notwendig. „Ich verspreche Ihnen, dass wir achtsam mit Ihrem Besitz umgehen werden.“

Betört von so viel Charme nickt meine Mutter und deutet auf die Tür. Jules schreitet voran, Pip folgt und Arik geht hinterher. Ich bleibe einen Moment bei meiner Mutter stehen, möchte ihr auch ein paar versichernde Worte sagen.

„Kann ich Onyx bei dir parken?“, frage ich stattdessen.

„Aber sicher“, antwortet sie und schaut gebannt zur Tür, hinter der meine Begleiter gerade verschwunden sind. „Dass wir achtsam mit Ihrem Besitz umgehen“, wiederholt sie wie gefesselt Jules’ Worte. „So etwas habe ich noch nie in einem Krimi gehört.“ Mit großen Augen schaut sie mich an. „Schreiben!“, ruft sie schließlich. „Ich sollte Krimis schreiben. Dann passiert wenigstens etwas zwischen den Zeilen.“

„Ich wusste ja nicht, wie sehr du dich langweilst“, sage ich betroffen und überlege. „Du hast doch gerade erst angefangen, Sorgenfresserpuppen zu nähen. Und was ist mit dem Strickclub, den Freunden der Pilze, dem Buchzirkel, dem Igelbund und der Gilde der Hollerbuscher Privatbrauer?“

„Mein Sohn, auch wenn deine Interessen sich auf Trolle beschränken, so darf deine Mutter doch etwas breiter aufgestellt sein“, erklärt sie und grinst erwartungsvoll.

Tapfer lächele ich sie an, froh, dass sie diesen Einbruch in ihre Welt auf die leichte Schulter nimmt. „Solange Mord und Totschlag in Hollerbusch in einem Buch stattfinden, freue ich mich darauf“, versichere ich ihr und will den anderen folgen.

Da hebt sie die Hand, streicht mir übers Haar. „Mein Junge“, flüstert sie mit einem Mal betroffen. „Ich würde mein eigenes Bein geben, wenn ich ungeschehen machen könnte, was dir in Berlin passiert ist.“ Mit einem traurigen Lächeln sieht sie mir in die Augen. „Wenn dein Vater noch leben würde, dann … er hätte …“ Sie spricht nicht weiter.

Ich schlucke hart. „Er hätte nichts tun können. Niemand konnte das.“

Plötzlich verdrängt der Wunsch, diese Angelegenheit endlich aufzuklären, meine Abwehr gegen die Durchsuchung. „Ich muss zu den anderen“, erkläre ich, streife die Hand meiner Mutter mit meiner und betrete das Haus durch die Hintertür.

 

Da der Zeitschriftenladen in unserer ehemaligen Garage entstanden ist, besteht eine direkte Verbindung zum Haus. Ich betrete einen kurzen Gang und nehme drei Treppen hinauf zur Küche.

Im Gegensatz zu Jules’ und Pips nordisch anmutender Wohnküche hat meine Mutter aus ihrem Kochreich eine Art Museum für die Staubfänger dieser Welt geschaffen.

Weder die drolligen Porzellanseehunde von der Küste noch die gruselige Schwarzwaldpuppe oder die schuhplattelnden Lederhosenmänner aus Holz stellen irgendeinen Wert da. In den letzten Jahren hat meine Mutter Spaß am Kreuzfahren entdeckt. Was zu einer schier unüberblickbaren Anzahl an Souvenirs aus den verschiedenen Häfen geführt hat. Und als stolzes Zeichen ihrer Reisen bewohnen die Sächelchen und Figürchen nun die Küchenablagen, Ecken, Regale und einige davon dürfen sogar auf dem Esstisch residieren.

Mit langsamen Schritten schreitet Jules die Küche ab, verengt hier und da die Augen und betrachtet die Erinnerungsgegenstände genau. Pip lässt die Hand über einigen schweben, tippt andere mit einem Finger an. Arik steht mitten im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt, die Gesichtsmuskeln konzentriert angespannt.

„Die hier ist bestimmt mit schwarzer Magie aufgeladen“, behaupte ich und zeige auf die Schwarzwaldpuppe mit den roten Bommeln auf dem Hut und der glänzend roten Schürze. „Schaut euch mal das verschlagene Grinsen an“, sage ich und kann meinen Blick nicht von der Puppe nehmen, die neben dem gläsernen Mehlbehälter thront.

„Meinst du?“, fragt Arik unsicher und kommt näher. Er hält sein Ohr nah an die Puppe. „Jules, kannst du mal schauen. Ich spüre nichts.“

Jules lehnt sich neben mich an die Arbeitsplatte, schaut kurz zu dem gruseligen Schwarzwaldmädel und schüttelt den Kopf. „Es ist alles in Ordnung“, sagt er wohlwollend. „Sei unbesorgt, Felix.“ Er deutet mit dem Kinn auf die Puppe. „Sie taugt wohl dazu, Gäste zu erschrecken. Aber nicht zu mehr. Magie enthält sie jedenfalls nicht.“ Ich nicke, beschämt, alle mit meiner Abneigung gegen die Bommelliese aufgehalten zu haben.

„Und du kannst Magie hören ?“, frage ich Arik überrascht.

„Nicht so, wie ich dich hören kann“, erklärt er. „Es ist ein leichtes Surren, das durch den Körper strömt. Ich empfange es am besten im Ohr. Anderen Forste juckt die Nase oder die Zähne fühlen sich komisch an.“ Er sieht sich noch einmal um, tauscht Blicke mit Pip und Jules. Schließlich nicken sich alle zu.

„Die Küche ist sauber“, bemerkt Jules und ist schon auf dem Weg in den nächsten Raum.

„Ich bekomme ein paar Bilder von den Reisen, die deine Mutter unternommen hat. Sonst nichts“, bestätigt Pip, blinzelt mir zu und eilt hinter seinem Freund aus dem Zimmer.

„Es ist ein bisschen gruselig hier drin“, sagt Arik leise und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. „Aber die Dinge geben keine Magie ab.“

„Schade eigentlich“, bemerke ich und wir bewegen uns zusammen über den Flur in den Wohn-/Essbereich. „Würden wir diesen geheimnisvollen Gegenstand finden, müsste man ihn sicher vernichten?“, frage ich, betrübt, dass die Puppe doch nicht magisch aufgeladen war.

„Aber nicht doch“, erklärt Jules, während er die Fotografien an der Wand betrachtet. „Was auch immer es ist, ich werde es sichern und untersuchen. Jemand muss ganz versessen darauf sein. Sonst hätte er oder sie nicht gleich die besten magischen Diebe aus Norwegen einfliegen lassen. Das stellt eine große Gefahr dar. Und dem Rat ist es ja auch nicht verborgen geblieben.“ Er streckt die Hand aus, lässt sie über einem Bild schweben. Es zeigt meinen Vater und mich beim Angeln. Er lächelt freundlich in die Kamera, während ich vielleicht sechs Jahre alt bin und einen dieser albernen Anglerhüte trage.

„Dein Vater?“, fragt Jules gedankenversunken.

„Wenn er hier war, sind wir oft zum Angeln gegangen. Sein Vater hat ihm ein großes Waldstück rund um Hollerbusch samt drei Fischweihern vermacht“, erzähle ich und will das Foto nicht anschauen. Denn eines ist sicher, würde mein Vater noch leben, wären Angelausflüge etwas, das wir bis heute zusammen genießen könnten.

„Weber“, murmelt Jules und lässt den Blick über unsere Familienfotos schweifen. „Alfred Weber, ja? Das war dein Großvater?“

„Er besaß die Villa in der Stadtmitte“, überlegt Jules, als könne er sich wirklich an meinen Großvater erinnern. Dabei ist der vor meiner Geburt gestorben. „Ein reicher Mann“, fügt er an.

„Er war Vertreter für Kosmetikprodukte und hat mit ein bisschen Geld an der Börse spekuliert. Damit hat er viel verdient. Mehr Glück als Können, schätze ich“, erzähle ich das, was mir mein Vater berichtet hat.

„Ja“, murmelt Jules, schreitet vor den Fotos auf und ab. „Die Weberfamilie hatte immer viel Glück und viel Pech zur gleichen Zeit.“ Er atmet tief durch, wirkt, als würde er sich an etwas erinnern. „Es ist selten für eine Hollerbuscher Familie, zu Geld zu kommen, ohne zu den Rabenherzen zu gehören. Aber ungefährlich scheint es nicht zu sein. Dein Großvater ist auch früh verstorben, nicht wahr?“

Skeptisch komme ich näher, betrachte alte Fotografien, die meinen Großvater in der Nachkriegszeit zeigen. Jung, in einem der typischen weit geschnittenen Anzüge der Zeit steht er vor einem neuen Auto. Er war ein zierlicher Mann, ich sehe ihm ähnlicher als meinem Vater.

„Er ist bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen“, sage ich. „Da war er achtunddreißig, glaube ich. Mein Vater war damals sechszehn, Onkel Charly erst zehn.“ Ich schlucke bei der nächsten Erkenntnis. „Mein Vater war neununddreißig, als er starb. Beide sind nicht einmal vierzig Jahre alt geworden“, erzähle ich den Bildern an der Wand.

Arik steht plötzlich neben mir, legt eine Hand beruhigend auf meinen Rücken und lauscht.

„Nichts“, sagt er in Jules’ Richtung.

Der nickt, dreht sich um und läuft das Sideboard und die beiden Vitrinen ab. Pip setzt sich auf die Couch und starrt in den Raum.

„Ich bekomme hier kaum Erinnerungen“, brummt er unzufrieden. „Nutzt ihr diese Räume überhaupt?“

Ich wiege den Kopf hin und her. „Selten. Meine Mutter arbeitet oder ist mit einem ihrer Vereine unterwegs. Morgens und abends sitzt sie in der Küche. Fern sieht sie in ihrem Zimmer.“ Welche Informationen könnte er noch gebrauchen? „Es gibt hier kaum ältere Möbel im Haus. Meine Mutter hat nach und nach neu möbliert.“

Arik sinkt in die Hocke, lauscht an Schubladen und Schranktüren, schüttelt schließlich den Kopf.

Pip steht auf, verlässt den Wohnzimmerbereich. Ich folge ihm unwillkürlich, obwohl er bisher kaum einen Finger an die Einrichtung gelegt hat. Vor der Tür zum Arbeitszimmer bleibt er stehen, greift plötzlich an seinen Kopf und zieht die Schultern nach oben.

„Jules, Arik“, ruft er und Jules hastet zu ihm, Arik gleich dahinter. „Dürfen wir dort hinein?“, fragt Pip und massiert mit zwei Fingern über seine Schläfen. „Da drin wohnen ältere Erinnerungen“, sagt er mit rauer Stimme.

Meine Finger streben nach innen, verkrampfen sich zu einer Faust. Natürlich wohnen im Arbeitszimmer ältere Erinnerungen.

„Es ist der einzige Raum im Haus, den wir nach dem Tod meines Vaters nahezu unberührt gelassen haben“, erwidere ich leise. „Er blieb lange verschlossen. Inzwischen nutzt ihn meine Mutter als Nähstube.“

„Bitte“, fragt Pip und sieht mich an. „Aus dieser Entfernung kann ich nicht klar sehen.“

Arik schmiegt sein Ohr gegen die Holztür, lauscht einen Moment. Dann strafft er sich.

„Ganz schwach. Wenn ich besser trainiert wäre …“, beginnt er, aber Jules hat schon eine Hand gehoben, lässt sie über die Tür schweben, ohne sie zu berühren.

„Ja. Etwas ist da“, bestätigt er. „Kaum merklich.“ Mit festem Blick sieht er mich an. „Felix“, fordert er mich zu einer Handlung auf, die mir in den Magen beißt.

Sie würden mich nicht zwingen, diesen Raum zu öffnen, da bin ich mir sicher. Selbst ich betrete ihn nie, zu sehr erinnert mich alles darin an meinen Vater. Doch es sind nicht die Erinnerungen, die mich jetzt zurückhalten.

Mit einem Mal enthält ein Märchen meines Vaters Fetzen von Wahrheit. Der frühe Tod der Webermänner, Besitz und Geld, ohne zum einflussreichen Orden zu gehören. Will ich wirklich mehr erfahren? Und was fange ich mit diesem Wissen an, jetzt, wo mein Vater tot ist? Aber was wird, wenn ich den Raum nicht öffne? Werden die Forste einen Weg ins Haus finden, selbst wenn Jules es gesichert hat? Damit bringe ich meine Mutter in Gefahr. Nein, das kann ich nicht zulassen. Eine Weile toben die beiden Kräfte in mir, zerren mich in ihre Richtungen. Über die innere Diskussion hinweg strecke ich die Hand aus und umfasse die Klinke.

„Seid vorsichtig“, mahne ich unnötigerweise. Längst haben meine Begleiter das Arbeitszimmer meines Vaters betreten.