Kapitel 22

 

„Hier! Fahr!“, ruft einer unserer Entführer vom Rücksitz.

Ich schlucke eine Antwort herunter und biege schließlich auf einen schmalen Waldweg ab, der uns von der Landstraße herunter führt. Die Räder drehen im Matsch durch, im nächsten Augenblick stecken wir fest.

Atmen. Ich muss weiteratmen. Die Luft strömt in meine Lungen und ich lege meine Hände auf die Oberschenkel. Kaum merklich drehe ich meinen Kopf. Arik sitzt mit zusammengepressten Lippen neben mir, kreidebleich und seine Augen sprühen vor Zorn.

Es müssen sich mindestens zwei Männer im Wagen befinden. Der zweite spricht Arik an, klingt drohend. Die Worte verstehe ich nicht, Arik schüttelt nur den Kopf. Stumm ballt er die Hände zu Fäusten, seine Brust hebt und senkt sich im schnellen Rhythmus.

„Gib ihnen die Schatulle“, sage ich leise und der zweite Mann haut Arik den Lauf der Pistole auf den Kopf und ruft etwas. Arik rührt sich nicht. „Gib sie ihnen!“, wiederhole ich, dieses Mal mit mehr Nachdruck.

Arik bleibt ebenso stumm wie unbeweglich. Unter einem langsamen Augenaufschlag sieht er zu mir. Wie eine riesige Raubkatze bewegt er sich plötzlich über mir, reißt die Fahrertür auf, fasst um meine Hüfte und rennt los.

 

Ich klammere mich an Arik, der über den Waldboden rennt. Matsch spritzt nach oben. Er trägt mich über der Schulter, reißt mit einer Hand junge Bäume am Weg aus und schleudert sie nach unseren Verfolgern. Keine Schüsse sind zu hören. Verwundert bewege ich mich, hebe den Kopf. Da strauchelt Arik, stolpert und fällt der Länge nach auf den Waldboden. In letzter Sekunde kann ich mein verletztes Bein vor seinem Gewicht retten. Während er in ein Gemisch aus Matsch, verfaulten Blättern und Schneeresten fällt, lande ich auf seinem Rücken.

Die beiden Forstemänner erreichen uns, ehe Arik sich aufrappeln kann. Sie verdecken nicht einmal ihre Gesichter, der große Kerl mit dem helleren Haar richtet die Pistole auf Arik, sieht mich dabei an.

„Wir wollen die Feder“, bellt er auf Deutsch.

„Warum?“, frage ich mit rasendem Puls und versuche gelassen zu wirken. Etwas hält diese Kerle davon ab, mich umbringen zu wollen. Und das muss ich ausnutzen.

Während Arik sich die Reste des Waldbodens von der Jeans wischt, straffe ich die Schultern und mache einen Schritt auf die großen Männer zu. Beide sind ein wenig kleiner als Arik, überragen mich dennoch um mehr als zehn Zentimeter. Sie tragen dicke Winterjacken, beide in Dunkelblau, und wirken tatsächlich wie Brüder. Der dritte Forste bleibt verschwunden. Die beiden treten einen Schritt zurück. Ich wiederhole das Spiel, gehe vor, wieder weichen sie zurück. Ich zwinge einen bösen Blick auf mein Gesicht. Grimmig setze ich einen Fuß vor den anderen.

Der Schuss fällt schneller, als ich denken kann. Panisch drehe ich mich um. Arik sinkt gerade in die Hocke, umklammert einen Oberarm mit einer Hand und zeigt ein schmerzverzerrtes Gesicht.

„Ihr Dreckskerle!“, rufe ich, während die Wutwelle meine Angst wegdrückt. Blitzschnell greife ich nach dem nächsten Ast, schwinge ihn in Richtung der riesigen Kerle. Im Vergleich mit deren Statur wirkt er wie ein Zweig und ihre Glieder zucken für einen Moment ängstlich. Dann hebt der Linke erneut die Pistole, zielt auf Arik.

Dunkelheit breitet sich in meinem Kopf aus. Ich kann die Männer weiter zurückdrängen, aber mit der Waffe sind sie uns überlegen. Ohne nachzudenken, drehe ich mich um, renne zu Arik und spüre nicht einmal den Schmerz in meinem Bein. Hinter mir nähern sich die Schritte der Forstemänner.

Arik krampft die Finger einer Hand um seinen Oberarm. Blut rinnt über seine Hand, tropft auf den Waldboden. Behutsam lege ich eine Hand an seine Wange, sehe ihm in die Augen und lächele tapfer. Das Geräusch der Schritte verstummt. Ich kann die Männer direkt hinter uns atmen hören. Mit einer fließenden Bewegung greife ich in Ariks geöffnete Jacke, ziehe die Schatulle unter seinem Arm hervor und reiche sie nach hinten. Dabei drehe ich mich nicht um, breche den Blickkontakt mit Arik nicht. Jemand reißt mir die Kiste aus der Hand.

„Haut ab. Oder ihr werdet diesen Wald nicht lebend verlassen“, presse ich durch meine Zähne.

Die sinnlosen Worte stammen aus einem meiner Romane, sind meine einzige Waffe gegen meine Angst um Arik und die Wut auf seine Familie. Wie können sie so weit gehen, ihn zu verletzen?

Waldboden spritzt auf, winzige Stücke landen in meinem Gesicht. Die Forste preschen an uns vorbei, tiefer ins Unterholz. Sie schlagen einen Weg parallel zur Landstraße ein, versuchen wohl, so zurück in die Stadt zu kommen. Im nächsten Augenblick verschluckt sie der Winterwald.

 

„Kannst du aufstehen?“, frage ich Arik und die Sorge um ihn quält mich mehr als mein Bein.

Er antwortet nicht, atmet nur hörbar. Dann stemmt er sich nach oben, verzieht dabei das Gesicht.

„Es ist nichts“, brummt er und räuspert sich. „Gestreift. Die Kugel hat mich nur gestreift“, erklärt er schwerfällig, richtet sich gerade auf und läuft los. Seine Hand umklammert immer noch die Schusswunde.

„Woher willst du das wissen? Sie könnte noch im Muskel stecken“, rufe ich aufgebracht und folge ihm, schiebe meinen Arm um seine Hüfte, um ihn zu stützen. „Oder bist du ein geübtes Schussopfer?“ Ich will ihn in das nächste Krankenhaus zerren, bevor er noch ein Widerwort geben kann. „Du brauchst einen Arzt!“

„Ich brauche Jules“, brummt er verhalten, wird langsamer. Schließlich bleibt er stehen, atmet schwer. „Er ist Arzt. Niemand hat mehr Erfahrung als er“, sagt er fast flüsternd. „Die Wunden von gesunden Forste heilen schnell.“ Er hustet erschöpft und ich versuche ihn zum Weitergehen zu bewegen.

„Aber du bist nicht gesund“, ergänze ich seinen Gedanken. „Warte. Ich hole den Wagen.“

Er nickt dankbar, schafft es bis zu einem kahlen Baum am Wegesrand. Unter einem müden Ausatmen lehnt er sich gegen den Stamm. Ich will ihm folgen, ihn berühren und ihm versichern, dass der Schmerz gleich vorbei sein wird. Aber so verlieren wir zu viel Zeit. Ich zwinge mich zu einem schnellen Gang in Richtung des Wagens.

Schmerz strömt aus meinem Schienbein heraus, erfasst jede Zelle meines Körpers. Doch ich spüre ihn nur wie ein Hintergrundgrollen. Alle meine Sinne fixieren sich auf Ariks Rettung.

 

Am Wagen klettere ich hastig auf die Fahrerseite, starte und gebe vorsichtig Gas, damit die Räder befreit werden. Im nächsten Augenblick rolle ich voran und halte so nah neben Arik, dass er mit einem Schritt am Wagen ist. Mit letzter Kraft hievt er sich hinein, schließt die Tür. Ich wende mit einem gewagten Manöver zwischen zwei Bäumen. Den Blick auf den Weg geheftet lenke ich den Lieferwagen zurück auf die Landstraße und nach Hollerbusch. Mein Herz klopft so laut, dass es die Motorgeräusche übertönt.

Eine Hand auf Ariks Oberschenkel, parke ich schließlich wieder neben dem alten Schuppen, der zur Villa Hel gehört. Noch im Aussteigen ziehe ich mein Handy hervor und wähle Pips Nummer.

„Wir sind vor dem Laden. Arik ist verletzt, er braucht Hilfe“, sage ich atemlos. Pip brummt etwas, legt auf. Aber wir haben den Eingang des Feuermondes noch nicht erreicht, da kommt er uns zusammen mit Jules entgegen.

Jules schiebt einen Arm unter Ariks Schultern, hilft ihm in den Laden und weiter ins Haus. Auf dem Weg in die Küche stellt er Arik eine Frage auf Norwegisch. Arik nickt nur, lässt sich auf das rote Sofa schieben.

Wortlos ziehe ich ihm die Winterstiefel aus, helfe ihm aus der Jacke. Er trägt ein dunkelgrünes Shirt, das am Oberarm zerrissen ist. Eine Wunde klafft darunter auf. Jules kniet schon mit einem Bein über Arik, betrachtet die Wunde.

„124 und 54“, ruft er Pip zu. „Und einen Kräuterverband. Einen frischen!“

Pip rennt aus der Küche und kommt gleich darauf mit zwei Flacons und einem breiten Leinentuch zurück, das wie ein leicht gefülltes Kissen wirkt.

„Ist es wirklich nur ein Streifschuss?“, frage ich und die Sorge drängt in meinen Magen, brodelt dort. Ich stehe neben Arik, streiche ihm eine braune Strähne aus der Stirn. Er hat die Augen geschlossen, bewegt seinen Kopf aber in Richtung meiner Hand.

„Ja“, bestätigt Jules knapp und beginnt die Wunde zu versorgen, verschließt sie am Ende mit dem Kräuterumschlag. Mit einem schmalen Lächeln sieht er Arik an, stellt ihm eine weitere Frage auf Norwegisch.

„Felix weiß es“, antwortet Arik auf Deutsch, schließt die Lider und wehrt sich nicht, als ich eine der Decken, die am Ende des Sofas lagern, über ihm ausbreite.

Da packt Jules mich unsanft am Arm, zieht mich bis zur Kücheninsel. Während Onyx gerade aufwacht, aufsteht und mit einem Fiepen in Ariks Richtung aufbricht, ernte ich einen eisigen Blick von Jules.

 

„Was war das Ziel dieser Unternehmung?“, fragt er und Eiszapfen wachsen aus seinen Worten. Pip lehnt sich neben ihn an die Arbeitsplatte, sieht mich fragend an.

„Die Feder zu dir zu bringen“, sage ich abwehrend und verschränke die Arme vor der Brust. Dann senke ich schuldbewusst den Kopf. „Sie befand sich doch in der Ferienwohnung meines Onkels“, berichte ich zögernd. „Ich … Wir dachten beide nicht, dass es ein großes Problem wird.“

„Weil diese Feder bisher nie Probleme verursacht hat?“, fragt Jules und verengt seine Augen zu Schlitzen.

„Sie lag in einem Umzugskarton, der im Wandschrank stand. Sicher hat meine Mutter nicht daran gedacht. Und wir haben den Wagen direkt vorm Haus geparkt. Außerdem …“

„Ja?“ Jules starrt mich immer noch auffordernd an.

„Du sagst doch selbst, dass du nichts gegen Forste ausrichten kannst“, erkläre ich. „Arik wollte auf euch warten. Nur ich war davon überzeugt, dass es kein Problem sein wird. Das Haus befindet sich in der Innenstadt, es gibt keinen Ort, an dem man sich gut verstecken kann. Der Wagen war verschlossen.“

„Kein Problem also. Außer man hat es mit gelernten Dieben zu tun“, gibt Jules zu bedenken. Dann umfasst er links und rechts meine Oberarme. „Felix, die Forste sind nicht als brutal bekannt. Aber du hast selbst erlebt, dass sie in diesem Fall vor nichts zurückschrecken. Wir wissen viel zu wenig, um ihr Verhalten einschätzen zu können.“ Er holt tief Luft, bevor er weiterspricht. „Sie haben ihren Bruder angeschossen, nur um an die verfluchte Feder zu kommen! Nimm das ernst.“

Pip nickt. „Ein falscher Tritt und die Kugel hätte in Ariks Arm landen können. Oder schlimmer“, bestätigt er. „Es ist wohl wahr, dass Jules hier nicht so handeln kann, wie er will. Aber die Forste sind zu dritt. Wir zu viert. Und wenn ich in der Nähe bin, kann ich ihre Bewegungen vorausahnen.“

„Nicht mein Bruder“, murmelt Arik auf dem Sofa. Onyx kuschelt sich gerade dicht an ihn. „Meine Cousins. Einar und Hildor haben uns angegriffen. Bent war nicht dabei.“

Jules’ eindringliche Worte erreichen ihr Ziel in meinem Inneren. Angespannt nicke ich. „Das hätte nicht passieren dürfen“, stimme ich ihm leise zu. „Keine Schreibfeder der Welt ist ein Leben wert.“ Ich atme aus, laufe zurück zu Arik und setze mich zu ihm, lege meine Hand auf seine. „Überlassen wir ihnen einfach die Feder“, sage ich mit mehr Entschlossenheit, als ich fühle. Langsam hebe ich eine Schulter. „Dann ist es endlich vorbei.“

Jules blinzelt in Zeitlupe, schüttelt ebenso bedächtig den Kopf. „Unmöglich“, sagt er bestimmt. „Der nächste Flug nach Oslo verlässt Frankfurt morgen früh um elf Uhr. Wenn die drei Forste ihn erreichen, bricht hier die Hölle los.“ Er sieht zu Pip, der ihm mit betroffener Miene zunickt. „Wo wir von der wunderbaren Verwandtschaft sprechen. Meine Cousine wird uns die verdammten Bluthunde des Rates auf den Hals schicken und die drehen jeden Stein in Hollerbusch um, bis sie das Geheimnis der Feder herausgefunden haben. Außerdem wird sie dafür sorgen, dass Arik so schnell wie möglich das Land verlassen muss. Ich konnte die Steinpest bisher nur verlangsamen. Sie breitet sich weiter aus. Wenn ich ihn nicht weiter behandeln kann, wird sie in wenigen Wochen das Herz erreichen.“

Arik lacht bitter, drückt meine Hand fest. „Es ist okay“, flüstert er mir zu. „Du musst zur Ruhe kommen. Ich hätte daran denken müssen.“

„Nein!“, rufe ich aufgebracht. Meine Scham lacht mich aus und mein Egoismus grinst mich mit verzerrter Fratze an. Für einen flatterhaften Moment ist mir die Hexe und ihre Drohung entfallen. Viel zu sehr habe ich mich an Ariks Anwesenheit gewöhnt. So als würde er jeden Tag meine Erbstücke retten und mit mir durch den Wald rennen. Aber das ist nicht der Grund, warum er sich in Hollerbusch aufhält. Was er wirklich braucht, ist Zeit, damit Jules die Steinpest für ihn heilen kann. „Ich habe mich geirrt. Wir müssen die Feder zurückholen“, sage ich entschlossener als je zuvor. „Bevor die Bande den nächsten Flug nach Oslo erreichen kann.“

„Und dieses Mal arbeiten wir zusammen“, bemerkt Pip und kommt ebenfalls zum Sofa. Er bleibt stehen, betrachtet uns mit ernster Miene. „Wenn ihr mir versprecht, dass ihr keine Alleingänge mehr unternehmt, sage ich euch, wo die Forste sich aufhalten.“

Ich hebe eine Hand und nicke. „Versprochen“, sage ich ohne Zögern. Für keinen Preis der Welt bringe ich Arik noch einmal in Gefahr. Der nickt zustimmend.

„Sie wohnen im Posthotel am Stadtrand“, gibt Pip bekannt.

Ich seufze und zucke mit den Schultern. „Der Besitzer ist der zweite Rabe. Er leitet viele Zeremonien der Rabenherzen“, erzähle ich geschlagen. „Wie hast du es herausgefunden?“

„Ein guter Freund des Hauses ist ein zuverlässiger Informant“, wirft Jules ein, der immer noch an der Arbeitsplatte lehnt. „Er hat im Laufe der Woche mehrmals drei große Männer gesehen, die das Hotel durch die Hintertür betreten haben.“ Jules verzieht den Mund nachdenklich. „Sonderbar, dass sie sich heute getrennt haben. Ich hoffe, dass Ariks Bruder nicht das Fluchtauto vorbereitet hat. Aber unser Freund hat keines entdeckt.“

„Kein Auto“, wirft Arik ein und klingt schon etwas besser. „Zu viele Spuren und Hinweise“, erklärt er weiter. „Forste-Banden reisen mit Bus oder der Bahn an und bewegen sich möglichst zu Fuß. So können sie sich besser verstecken, niemand notiert ein Nummernschild.“

„Sie könnten schon im Taxi sitzen“, gebe ich zu bedenken.

„Seit dem Angriff beobachten wir das Hotel. Eine Abreise fand noch nicht statt“, wirft Jules ein und ich frage mich, woher er diese Informationen erhält.

Arik schiebt die Decke fort und setzt sich auf, schwingt seine Beine vom Sofa. Onyx grunzt ungehalten über die Störung und sucht sich eine neue Position an Ariks Oberschenkel.

„Sie werden wohl erst einmal mit ihrem Auftraggeber sprechen. Immerhin gibt es einen Erfolg zu feiern“, überlege ich laut und ein Gedanke formt sich in mir.

Er beginnt winzig wie ein Samenkorn, dann wächst er, verzweigt sich und ergibt schließlich Sinn. Jeder in diesem Raum ist in Gefahr. Nicht die Forste sind der Grund dafür. Sondern meine Familie, insbesondere mein Vater und ich.

Die Feder war ein Geschenk an mich. Und die Bande ängstigt sich nur vor mir. Vielleicht könnte Jules sie beeindrucken, Pip etwas herausfinden und Arik seine Muskeln einsetzen. Aber es ist mein Erbe und mein Auftrag.

Für einen schrecklichen Augenblick flackert ein Bild in meinem Kopf auf. Arik, mit einer blutenden Wunde im Wald, nahe seiner Brust schützt er mein Erbstück. Alles an diesem Bild ist falsch. Ich bin kein echter Trolljäger, kein Held. Aber für ihn kann ich es sein. Die Gewissheit strafft meine Schultern, bringt Ruhe in meinen Körper. Ich nehme meine Jacke, schiebe die Tür zur Terrasse auf.

„Bin gleich zurück“, rufe ich in den Raum, vermeide den Blickkontakt mit Arik. „Ich habe mein Handy im Lieferwagen liegen lassen.“

Ariks übermächtiger Beschützerinstinkt würde nie erlauben, dass ich allein zum Hotel fahre. Meiner lässt keinen anderen Weg zu.

 

Ich hinke inzwischen schneller, als viele laufen und so erreiche ich den Wagen bald.

Eine eigenartige Ruhe breitet sich in mir aus. Dies ist etwas, das ich allein tun muss. Ich nehme den Schlüssel und öffne den Lieferwagen mit einem Klick.

„Schlechte Wahl“, sagt eine dunkle Stimme plötzlich hinter mir.

Ruhig drehe ich mich um, starre in ein Gesicht, das Ariks ähnelt, und doch ist er es nicht. Dieser Mann ist etwas älter, kleine Falten umranden seine Augen. Insgesamt wirkt er rauer als Arik. Doch die Ähnlichkeit ist nicht zu leugnen.

„Bent, nehme ich an?“, frage ich.

Er lehnt an der Außenwand der Villa, in dem schmalen Gang zwischen Schuppen und Haus. Er nickt nur, zieht die Hände aus den Jackentaschen und nun greift die kalte Hand der Angst doch nach mir. Im nächsten Moment hält er seine Hände hoch, spreizt die Finger ab. Leer. Keine Waffe, die er auf mich richten könnte.

„Die Jungs haben nicht, was du suchst“, sagt er langsam und mit einem starken Akzent. „Ich habe es.“

Die Worte liegen wie Felsen auf meiner Brust. Gedanken rasen durch meinen Kopf. Ich trete zwei Schritte auf Bent zu, will sehen, ob er zurückweicht.

Er bleibt stehen, schiebt seine Arme weiter vor. Abwehrend nimmt er den Kopf zurück.

„Ihr könnt es haben“, spricht er weiter. „Wenn ich mit meinem Bruder sprechen kann.“

„Bist du allein? Wo sind die anderen?“, frage ich verstört.

„Ich bin allein. Und ich will mit Arik sprechen“, wiederholt Bent und hält die Hände immer noch schützend vor den Körper.

„Er wird dir wehtun. Das weißt du?“ Ich schaue ihn an, aufmerksam auf jede seiner Bewegungen.

„Nicht, wenn ich dir die Feder gebe“, erwidert Bent und etwas in seinen Worten dringt zu mir durch. Klingt er etwa besorgt um seinen Bruder?

Ich gehe einen weiteren Schritt auf ihn zu, jetzt sind seine Arme lange ausgestreckt. Noch einen halben Schritt und er berührt mich. „Dann gib sie mir. Ich sage ihm, dass du hier bist“, verlange ich und strecke meine Hand aus.

Bent schüttelt den Kopf. „Ich will zuerst mit ihm reden“, sagt er bestimmt und sieht mir in die Augen.

Ich starre zurück, unsicher, ob ich diesen Mann in Ariks Nähe lassen will. Er ist ein Teil der Diebesbande, die ihn fast getötet hätte.

„Ich will die Schatulle sehen“, fordere ich ihn auf.

Bent nickt, öffnet seine Jacke. In einer großen Innentasche steckt die alte Holzkiste mit den charakteristischen Kerben. Mein Puls nimmt Fahrt auf. Jetzt bloß ruhig bleiben. Wenn wir die Feder in die Hände bekommen, halten wir Kendra Hel auf. Dann kann Arik in Hollerbusch bleiben, Jules wird ihn heilen. Aber kann man einem Mann trauen, der sein Einkommen mit Diebstählen verdient und nicht verhindert, dass sein Bruder angeschossen wird?

Schließlich deute ich ein Nicken an, sehe aus den Augenwinkeln Bewegungen. Ariks blaue Winterjacke sehe ich zuerst, neben ihm steht Jules in seinem Mantel. Meine Lippen zucken unruhig.

„Arik, dein Bruder möchte mit dir sprechen“, sage ich tonlos. „Und er hat ein Geschenk mitgebracht.“