Allgemeiner Überblick
Mit der Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen sich vor allem die philologischen Fächer, darüber hinaus ist sie aber auch Gegenstand der Bilderbuchforschung, Comicforschung, Medienwissenschaft, Leseforschung, Buchwissenschaft, Pädagogik, Sprachwissenschaft, Kulturwissenschaft, Literacy Studies und Entwicklungspsychologie, um nur die wichtigsten Disziplinen zu nennen. Die Kinderliteraturwissenschaft ist ein relativ junges Forschungsgebiet und hat sich international erst in der Nachkriegszeit etablieren können. Aus diesem Grund standen zunächst die historische Bestandsaufnahme und die literaturgeschichtliche Erforschung im Vordergrund, die zur Publikation einschlägiger Bibliographien, Handbücher, Kinderliteraturgeschichten und Textsammlungen führte. Darüber hinaus wurden und werden aber auch theoretische Fragestellungen entwickelt, die darauf zielen, die besonderen Merkmale und Leistungen der Kinder- und Jugendliteratur herauszustellen. Hinter diesen Bemühungen steht der Gedanke, eine eigene Poetik und/oder Theorie der Kinder- und Jugendliteratur zu etablieren. Hierzu gibt es bereits einige Vorüberlegungen und vielversprechende Ansätze, die allerdings noch nicht zu einem ausgereiften Theoriekonzept geführt haben.
Fragestellungen der Kinderliteraturwissenschaft
Der in der allgemeinen Literaturwissenschaft zu beobachtende Wandel der Methoden und theoretischen Ansätze spiegelt sich auch in der Kinderliteraturwissenschaft wider. Neben leser- bzw. rezeptionsorientierten Ansätzen (Rezeptionsforschung, literarische Sozialisationsforschung, Literacy Studies) haben gerade die kontextorientierten, oft von einer kulturwissenschaftlichen Perspektive ausgehenden Ansätze wie Gender Studies, Interkulturalitätsforschung, Kanonforschung, Sozialgeschichte der Literatur, Systemtheorie und Kindheitsforschung sowie medienorientierte Ansätze, etwa Kindermedienforschung, Intermedialitätsforschung, Filmtheorie oder Bildwissenschaft, der Kinderliteraturforschung in den letzten Jahrzehnten neue Impulse verliehen und zu fruchtbaren Ergebnissen geführt. Neben der Öffnung der einzelnen Philologien für komparatistische Fragestellungen profitiert die Kinderliteraturforschung auch von der zunehmenden Tendenz zur Interdisziplinarität. Anreiz zu entsprechenden Untersuchungen sind u.a. die folgenden Fragen: Was unterscheidet Kinder- und Jugendliteratur von der Literatur für Erwachsene? Welche Gemeinsamkeiten weisen die beiden Literaturbereiche auf? Inwiefern kann Kinder- und Jugendliteratur zum Sprach- und Literaturerwerb beitragen? Gibt es einen Wandel in der Konzeption des zugrunde liegenden Kindheitsbildes? Worin bestehen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen nationalen Kinderliteraturen, kann man eine wechselseitige Rezeption und Einflussnahme beobachten? Welchen Einfluss nehmen die modernen Medien auf die Kinder- und Jugendliteratur und welche Bedeutung hat Kinder- und Jugendliteratur für moderne Medienphänomene wie Medienverbund, Transmedialität oder Medienkonvergenz?
Im nachfolgenden werden exemplarisch einige theoretische Ansätze und Konzepte vorgestellt, die gerade für die Kinderliteraturforschung von weitreichender Bedeutung sind und bereits interessante Aspekte und Forschungsergebnisse zutage gefördert haben.
Kinderliteratur und Kognition
Eine wesentliche Eigenschaft von Kinder- und Jugendliteratur ist, dass sie auf den kognitiven, emotionalen und sprachlichen Entwicklungsstand von Kindern und Jugendlichen Rücksicht nimmt, ob das nun altmodisch als „Kind- und Jugendgemäßheit“ oder in neueren Studien als „Akkomodation“ (Ewers 2000) bezeichnet wird. Die Anpassung an soziale, ethische, gesellschaftliche und ästhetische Vorstellungen der Zeit wird dagegen oft mit dem Begriff „Akkulturation“ umschrieben. Eine wichtige Rolle spielt dabei sicher das Konzept der „Einfachheit“, dessen Bedeutung für das Verständnis von Kinder- und Jugendliteratur von Maria Lypp (1984; 2000) und Perry Nodelman (2008) herausgestellt wurden. Dieser Ansatzpunkt, so einfach er in mancher Hinsicht wirken mag, ist eine Herausforderung für alle diejenigen, die einen primär literaturgeschichtlichen Zugang zur Kinder- und Jugendliteratur wählen bzw. deren theoretischer Fokus es ist, die Kinder- und Jugendliteratur als spezifisches Handlungssystem von der Erwachsenenliteratur abzugrenzen. Wenn Kinder- und Jugendliteratur eine Literatur ist, die auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und Interessen ihrer Adressaten Rücksicht nimmt, muss man also genau erklären, wie diese Anpassung geschieht. Dass ein wesentliches Merkmal von Kinderliteratur darin besteht, sich in bestimmter Weise an die kindliche Zielgruppe anzupassen, ist bekannt. Allerdings ist bislang kaum darüber reflektiert worden, inwiefern Kinderliteratur eine Schlüsselposition hinsichtlich des Verständnisses des Phänomens „Literatur“ einnehmen kann, um auf diese Weise die enge Verzahnung von Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur zu analysieren.
Verschiedene Formen von Literacy
Diese grundlegenden Aspekte, die sowohl für die allgemeine Literaturwissenschaft als auch für die Literaturdidaktik von großem Interesse sein dürften, können nur durch einen interdisziplinären Zugang, der Ergebnisse der Kinderliteraturforschung, kognitiven Psychologie, Spracherwerbsforschung und Literacy Studies berücksichtigt, erforscht werden. Einen wichtigen Beitrag haben hierbei die Literacy Studies geleistet. Mit dem Begriff „Literacy“ werden nicht nur die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens bezeichnet (sogenannte Functional Literacy), sondern auch weitere grundlegende Kompetenzen wie Textverständnis, Vertrautheit mit Literatur und anderen Medien sowie Erfahrungen mit der Lese-, Bild- und Erzählkultur. Man unterscheidet dabei drei spezifische Formen: a) Literary Literacy, d.i. die Fähigkeit, Literatur zu verstehen und auch selbst zu produzieren; in der deutschen Forschung als „Literaturerwerb“ bezeichnet, b) Visual Literacy als die Fähigkeit, Symbole und Zeichen in Bildern zu verstehen (Bilderwerb), und c) Media Literacy als die Kompetenz, mit verschiedenen Medien (Printmedien, AV-Medien, interaktive Medien) umgehen zu können. Die damit verbundenen Fähigkeiten werden in einem offenen Erwerbsprozess erworben, der nicht nur die Kindheits- und Jugendphase, sondern auch den erwachsenen Leser einschließt.
Literarische Sozialisation
Die Literacy Studies weisen zwar einige Gemeinsamkeiten mit der literarischen Sozialisationsforschung auf, sind aber im Gegensatz zu diesem theoretischen Ansatz weitaus breiter angelegt. Die literarische Sozialisationsforschung geht der Frage nach, wie jemand zu einem Leser bzw. einer Leserin wird, wobei sie das Augenmerk ausschließlich auf literarische Texte richtet und folglich nicht-fiktionale Texte wie etwa Sachliteratur oder Zeitungen ausschließt. Im Gegensatz zur Leseforschung bezieht sie dagegen literarische Sozialisationsformen ein, die nicht auf der Lektüre beruhen, d.h. sie untersucht die frühkindliche literarische Sozialisation (z.B. Vorlesesituationen) ebenso wie den Einfluss anderer Medien auf die literarische Rezeptions- und Produktionsfähigkeit.
Early Literacy
In vielen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die basalen kognitiven, emotionalen und ästhetischen Fähigkeiten, die für das Verstehen von Literatur relevant sind, bereits im Vorschulalter erworben werden, wenn Kinder ab dem Alter von 10 bis 12 Monaten mit Kleinkindbilderbüchern – zumindest in westlichen Kulturen – in Kontakt kommen. Die Literacy-Konzepte und -kenntnisse, die Kinder in der Vorschulzeit erwerben, werden als Early Literacy oder zuweilen auch als Emergent Literacy bezeichnet. Um diesen Erwerbsprozess detaillierter zu beschreiben, sind zahlreiche empirische Studien durchgeführt worden, die sich vor allem auf die Vorlesesituation im Vorschulalter und den kindlichen Erzählerwerb fokussierten (Braun 1995; Boueke et al. 1994; Jones 1996; Wieler 1997). Im Rahmen dieses Erwerbsprozesses spielt Kinderliteratur (später kommen noch andere Kindermedien hinzu) eine wichtige Rolle. Denn die frühkindlichen Erfahrungen mit Literatur sind einerseits bestimmt durch den mündlichen Vortrag von Kinderliedern, Kinderversen und Geschichten, andererseits durch das gemeinsame Betrachten und Vorlesen von Bilderbüchern und Kinderbüchern. Kleine Kinder werden zunächst an das Konzept „Buch“ herangeführt, erfassen durch das Betrachten der Bilder visuelle Codes (Bilderwerb) und werden durch das Zeigen und Benennen der abgebildeten Gegenstände bei ihrem Wortschatzerwerb unterstützt. Diese Korrelation macht schon deutlich, dass Bilderwerb, Spracherwerb und Literaturerwerb eng miteinander verzahnt sind. Später werden Kinder mithilfe komplexerer Bilderbücher und Kinderbüchern mit einfachen Geschichten mit dem Konzept „Narration“ vertraut gemacht. Darüber hinaus werden die kindlichen Rezipienten allmählich an literarische Phänomene herangeführt. So wurde im Rahmen der Early Literacy-Forschung nachgewiesen, dass Kinder im Vorschulalter schon erste Kenntnisse bestimmter literarischer Funktionen und Formen erwerben, z.B. Genrebewusstsein, Fiktionsbewusstsein, Verstehen von Komik und indirektem Sprachgebrauch (Metapher, Ironie) sowie rudimentäres Wissen über Intertextualität und die Bedeutung der Erzählerperspektive. Diese Kenntnisse unterstützen die zunehmende Fähigkeit, über Sprache und Literatur zu reflektieren. Man bezeichnet diese Fähigkeit als metalinguistische bzw. metaliterarische Aufmerksamkeit (Gombert 1992; Kümmerling-Meibauer 2003). Diese Kenntnisse werden nicht nur passiv erworben, sondern im spielerischen Umgang von den Kindern selbst angewendet. Kinder erwerben die Fähigkeit, selbst Geschichten zu erzählen, und dies geht Hand in Hand mit dem Verstehen komplexer Strukturen in literarischen Texten.
Interaktion verschiedener Literacy-Formen
Mit dem Eintritt in die Schule beherrschen die Kinder weitgehend ihre Muttersprache, doch der Erwerb der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben (Literacy im engeren Sinne) beginnt erst. Das Kind wird nun mehr und mehr fähig, Literatur selbständig zu rezipieren und zu produzieren. Diese ganzen Erwerbsprozesse sind äußerst diffizil, zumal dann, wenn verschiedene Literacy-Formen interagieren wie etwa beim Bilderbuch, Kinderfilm oder Computerspiel. Der potenzielle Nutzer muss dann Kenntnisse über visuelle und sprachliche Symbole besitzen, um die auf der Text- und Bildebene (beim Film und Computerspiel noch ergänzt um eine auditive Ebene) vermittelten Inhalte angemessen zu verstehen. Die Interaktion verschiedener Symbolsysteme in einem Medium wird als „Multimodalität“ bezeichnet, einem Ansatz, der von Gunter Kress und Theo van Leeuwen entwickelt wurde und darauf aufmerksam macht, dass diese Symbolsysteme nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern gleichberechtigt nebeneinander stehen. Darüber hinaus besitze jedes Symbolsystem eine eigene „Grammatik“, die nicht angeboren, sondern durch einen langwierigen Prozess erworben werde (Kress 1997; Kress/van Leeuwen 1996).
Es hat schon einige fruchtbare Versuche gegeben, das Zusammenspiel von Kinderliteratur und Literacy, auch unter Berücksichtigung des kindlichen Spracherwerbs, zu analysieren, (u.a. Hall et al. 2003; Jones 1996; Klein/Meibauer 2011; Kümmerling-Meibauer 2011; Rau 2007), die Forschung steckt in diesem Bereich noch in den Kinderschuhen.
Konzepte der Kinderkulturforschung
Der Begriff „Kinderkultur“ umfasst alle Aktivitäten und Kunstformen, die von Kindern oder für Kinder produziert werden, d.h. Spiele, Mode, Spielzeug, Möbel, Feste, Kinderzeichnungen, aber eben auch Kinderliteratur und andere Kindermedien. Kinderkultur wird oft als Gegenbegriff zur „Erwachsenenkultur“ verwendet. Damit wird einerseits auf die Gleichberechtigung beider Kulturbereiche hingewiesen, andererseits die „Andersheit“ der kindlichen Welt akzeptiert. Während man lange Zeit Kinderkultur oft nur als (außerschulische) Kulturarbeit von Erwachsenen mit Kindern betrachtet hatte, wird in neueren Arbeiten zur Psychologie, Pädagogik, Medienwissenschaft und Kinderliteraturforschung darauf hingewiesen, dass Kinder selbst einen produktiven Anteil an der Kinderkultur haben, indem sie kreativ tätig sind und das Medienangebot aktiv nutzen. Hier zeigen sich Anknüpfungspunkte an die Erforschung des Medienverbundes, weil hierbei ebenfalls verschiedene mediale Formen und Konsumgüter für Kinder (Merchandising) in ihrer Interaktion untersucht werden. So werden seit den 1980er Jahren zunehmend Medienverbünde organisiert, die nicht nur Kinder- und Jugendmedien involvieren, sondern auch Spielzeug, Konsumgüter für Kinder und Jugendliche und andere Merchandisingprodukte. Ziel dieser umfassenden Verbundsysteme ist es, den gesamten Lebensbereich von Kindern und Jugendlichen einzubeziehen, wobei der Aspekt des „Edutainments“, also die Verknüpfung unterhaltender und wissensvermittelnder Elemente, ebenso eine Rolle spielt wie das Phänomen der Serialisierung. Allerdings ist der Kinderkulturbegriff weiter gefasst. Er schließt nicht nur alle artifiziellen Produkte ein, die den Lebens- und Erlebnisraum von Kindern und Jugendlichen bestimmen, sondern auch alle Institutionen, die sich um die Archivierung und Verbreitung von Kinderkultur bemühen. Dazu zählen Museen (wie etwa das Museum of Childhood in London), Kinderbibliotheken und Kindertheater, wobei sowohl eine historische als auch eine zeitbezogene aktuelle Perspektive eingenommen werden kann. In diesem Kontext spielt der Aspekt der Nostalgie eine wichtige Rolle, weil damit die Phänomene Rückbesinnung auf die eigene Kindheit und das Sammeln von kindheitsbezogenen Produkten (Kinderliteratur, Spielzeug, Kindermöbel usw.) konnotiert sind. Es liegen bereits umfassende Kataloge und Einzelstudien zur Kinderkultur vor, welchen Einfluss aber entsprechende Kinderkulturkonzepte – wie etwa die pädagogischen Ansätze von Maria Montessori und Friedrich Fröbel oder die am Bauhaus entwickelten Ideen – auf die Kinder- und Jugendliteratur ausgeübt haben, ist so gut wie unerforscht. Ebenso weiß man bislang wenig über die wechselseitige Beziehung von Spielzeug und Kinderliteratur, obwohl es diese nachweislich gibt (Kuznets 1994).
Kindheitsforschung
Die Vorstellung einer Kinderkultur ist zugleich mit bestimmten Kindheitsbildern konnotiert. Seit Philippe Ariès bahnbrechendem Werk Geschichte der Kindheit (franz. EA 1960) hat sich Kindheitsforschung als eigener Forschungszweig etabliert, der sowohl soziologische als auch pädagogische und kulturhistorische Aspekte berücksichtigt (Weber-Kellermann 1979; Mitterauer 1983; Larass 2000; Behncken/Zinnecker 2001). Kinder- und Jugendliteratur ist untrennbar mit bestimmten Vorstellungen von Kindheit und Jugend verbunden. Diese Vorstellungen können auf verschiedene Kindheitsbilder rekurrieren. Dabei kann es sich um Kindheitsbilder handeln, die auf Beobachtung von Kindern (Gegenwart), eigene Kindheitserinnerungen (Vergangenheit) oder Ideen über zukünftige kindliche Lebenswelten basieren, es können aber auch Kindheitskonzepte vorliegen, die durch den literarischen und/oder wissenschaftlichen Diskurs geprägt sind (Higonnet 1998; Nassen 1995; Neumann/Sträter 2000; Oesterle 1997; Stewen 2011). So hat gerade das Kindheitsbild der Romantik einen nachhaltigen Einfluss auf die Kinderliteratur der Romantik in Deutschland, aber auch anderer europäischer Länder ausgeübt (Alefeld 1996, Ewers 1989, Kümmerling-Meibauer 2008a, Natov 2003). Darüber hinaus ist das romantische Kindheitsbild trotz zahlreicher Modifikationen bis in die Gegenwart hinein in zahlreichen Kinder- und Jugendmedien präsent. Ein weiteres Gebiet für die Beschäftigung mit Kindheitsbildern sind Kindheitsautobiographien, die sich seit den 1950er Jahren vermehrt an die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen richten (Kümmerling-Meibauer 2004; Seibert 2005). Inwieweit Kindheitsbilder die Erinnerungskultur und das „kulturelle Gedächtnis“ prägen, wurde im Hinblick auf die Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit und den geschichtlichen Roman für Kinder und Jugendliche untersucht (Glasenapp/Wilkending 2004; Glasenapp/Ewers 2008). Diese Studien verdeutlichen darüber hinaus, dass Kindheitsforschung eng mit Fragestellungen der Komparatistik und des Crosswriting verknüpft ist.
Vielfalt komparatistischer Fragestellungen
In der Regel konzentrieren sich kinderliteraturwissenschaftliche Studien auf einzelne Philologien bzw. nationale Kinderliteraturen. Obwohl bereits Paul Hazard in seinem Werk Les livres, les enfants et les hommes (Kinder, Bücher und große Leute, 1925; dt. 1952) auf die wechselseitige Rezeption von Kinderliteratur in Europa und Nordamerika hingewiesen hat, nimmt die komparatistische Kinderliteraturforschung eher eine Randposition ein. Es gibt bislang nur wenige Studien, die die Kinderliteratur mehrerer Länder miteinander vergleichen oder die Rezeption von kinderliterarischen Werken über nationale Grenzen hinweg untersuchen, obwohl Autoren wie Joachim Heinrich Campe, E.T.A. Hoffmann, Erich Kästner oder Michael Ende mit ihren mittlerweile klassischen Kinderbüchern in fast alle Weltsprachen übersetzt worden sind und die Entstehung neuer Themen, Erzählformen und Genres im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur nachhaltig beeinflusst haben (Dolle-Weinkauff/Ewers 1996; Kümmerling-Meibauer 1999a; O’Sullivan 2000). Zum Gegenstandsbereich der kinderliterarischen Komparatistik gehören zunächst Untersuchungen zur (wechselseitigen) Rezeption von nationalen Kinder- und Jugendliteraturen. Diese Rezeption kann Motive, Stoffe, Figuren, Werke, deren Umsetzung in andere Medien, aber auch Genres, Kindheitsbilder oder narrative Erzählmuster betreffen. Der dadurch ausgelöste Vergleich von entsprechenden Phänomenen leistet einen wesentlichen Beitrag zur Mentalitäts- und Ideengeschichte. Aus diesem Grund spielt die Übersetzung und die damit verbundene Transferleistung eine wichtige Rolle, so dass bis heute Studien zur Übersetzung und Adaption von Kinder- und Jugendliteratur dominieren (O’Sullivan 2000; Jendis 2001; Surmatz 2005; Weinkauff/Seifert 2006; Lathey 2006; Kreller 2007). Komparatistisch ausgerichtete Kinderliteraturgeschichten, die die Vernetzung und die wechselseitige Rezeption von Werken und Autoren über einen langen Zeitraum hinweg darlegen, gibt es bislang noch nicht, auch wenn in den vorhandenen Geschichten zur Kinder- und Jugendliteratur gelegentlich auf Übersetzungen und einflussreiche Autoren aus anderen Ländern hingewiesen wird. Über Rezeption und Translation hinaus befasst sich die kinderliterarische Komparatistik aber noch mit anderen Aspekten. Neben der Diskussion des Begriffs „Weltliteratur (für Kinder)“ und den damit einhergehenden Implikationen gehört auch die Kanon- und Klassikerdebatte zu den Fragestellungen, die in der Komparatistik aufgegriffen werden. Weitere Perspektiven ergeben sich durch die theoretischen Konzepte Interkulturalität und Intertextualität sowie Intermedialität, hier verstanden als die Analyse der Interaktion verschiedener Künste (Literatur, Malerei, Photographie, Architektur, Skulptur) und Medien (Kümmerling-Meibauer/Surmatz 2011). Interkulturalität als Bezeichnung für den Komplex der Kommunikation und Interaktion verschiedener Kulturen spielt in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur eine größere Rolle als je zuvor, weil das Aufeinandertreffen von Kulturen, das bereits in der Kinder- und Jugendliteratur seit der Aufklärung thematisiert wird, in der modernen Welt im Zuge der Globalisierung ein virulentes Thema darstellt (Hurrelmann/Richter 1998). Der Einfluss dieser interkulturellen Begegnungen macht auch vor der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur nicht Halt. Es gibt immer mehr Autoren und Autorinnen, die einen Migrationshintergrund haben und das Wissen über ihre jeweilige Kultur und Sprache in ihren kinderliterarischen Werken einfließen lassen, bis hin dazu, dass die Sprachenvielfalt in den entsprechenden Büchern selbst reflektiert wird. Mehrsprachigkeit ist zwar kein neues Phänomen in der Kinder- und Jugendliteratur, man denke nur an Comenius’ zweisprachiges Elementarwerk Orbis sensualium pictus (1658) und die mehrsprachigen für Kinder bestimmten Enzyklopädien der Aufklärung, aber seit der Jahrtausendwende werden vermehrt bilinguale oder plurilinguale Kinder- und Jugendbücher gedruckt, die nicht nur den (Bildungs-)Spracherwerb, sondern auch das interkulturelle Verstehen fördern sollen. Mit den Stereotypen und Klischees über fremde Kulturen und Minderheitengruppierungen befasst sich insbesondere die Imagologie (O’Sullivan 2011). Auch die Intertextualitätsforschung, die sich der Erforschung bewusster und unbewusster Referenzen auf kinderliterarische Prätexte widmet, profitiert von einem komparatistischen Zugang, insofern gerade intertextuelle Anspielungen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur sich oft auf die international bekannten Kinderklassiker beziehen (Kümmerling-Meibauer 2003).
Klassiker- und Kanondebatte
Die Frage nach den Auswahlkriterien für den Klassikerstatus kinderliterarischer Werke hat ebenso heftige Diskussionen hervorgerufen wie die Überlegungen, ob ein Kanon der Kinder- und Jugendliteratur überhaupt notwendig sei. Die ideologiekritischen Vorbehalte gegenüber den etablierten Kinderklassikern führten in den 1970er Jahren dazu, dass man dem traditionellen Klassikerbegriff gegenüber skeptisch blieb (Dahrendorf 1980; Doderer 1969). Eine Neubesinnung setzte erst im Zuge der allgemeinen Klassik- und Kanondebatte in der Germanistik und anderen Philologien seit Mitte der 1980er Jahre ein. Drei Fragestellungen standen im Vordergrund: erstens Definitionsversuche des Klassikerbegriffs; zweitens Eingrenzung und Typologie des Klassikerkanons und drittens Ansätze zu einer Theorie des Klassischen. Bis heute scheiden sich die Kinderliteraturforscher im Hinblick auf eine Klassikerdefinition in zwei Lager: auf der einen Seite orientiert man sich am Postulat der Popularität und Langlebigkeit, ergänzt um eine wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Perspektive (Hurrelmann 1995, O’Sullivan 2000), auf der anderen Seite hebt man die literarische Qualität und Vorbildfunktion als wesentliche Kriterien hervor (Kümmerling-Meibauer 1999a, Nodelman 1985). Eine Verbindung dieser synchronen und diachronen Merkmale wird in Kümmerling-Meibauer 2003 vorgeschlagen. Hinsichtlich der Typologie ist die Unterscheidung zwischen klassischem Werk, klassischem Autor und klassischer Epoche bzw. Epochenabschnitt (in einigen Ländern wie Großbritannien, Norwegen oder den USA hat sich der Begriff „Goldenes Zeitalter der Kinderliteratur“ für die Bewertung einer bestimmten Zeitspanne durchgesetzt) noch nicht hinreichend erforscht und reflektiert worden. Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft die Abgrenzung von älteren und modernen Kinderklassikern, wobei die allgemein akzeptierte Zeitgrenze das Jahr 1945 darstellt. Die damit einhergehende Debatte über die Dialektik von Wahrnehmung der Historizität und Wahrnehmung der überzeitlichen Geltung hat der Klassik- und Kanonforschung großen Auftrieb gegeben.
Bestimmung des Klassikerbegriffs
Die Schwierigkeiten, den Kinderklassikerbegriff präziser zu erfassen und wissenschaftlich zu begründen, hängen einerseits mit der nicht reflektierten Übertragung des Klassikbegriffs der Allgemeinliteratur auf die Kinder- und Jugendliteratur, zum anderen mit dem beschränkten Kinderklassiker-Korpus (in der Regel beziehen sich entsprechende Studien auf eine Auswahl von ca. 20-30 Werken mit einer Dominanz der angloamerikanischen Kinderklassiker) zusammen. In nur wenigen Fällen wird diese Übertragung als Analogie in dem Sinne verstanden, dass klassische Kinder- und Jugendbücher für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur das leisten können, was klassische Werke für Erwachsene für den Bereich der Hochliteratur bedeuten, nämlich diese als Bestandteil des „kulturellen Gedächtnisses“ zu verstehen. Da die Auseinandersetzung mit dem Klassiker-Konzept untrennbar mit dem Aspekt der Kanonisierung und (literarischen) Bewertung verknüpft ist, ergeben sich hierbei äußerst komplexe Fragestellungen. Neben der Bedeutung eines kinderliterarischen Kanons für das „kulturelle Gedächtnis“, wurden noch der Zusammenhang mit der „literarischen Bildung“ (als einem Bestandteil literarischer Rezeptionskompetenz) sowie dem zugrundeliegenden Kindheitskonzept diskutiert. Da die berühmtesten Kinderklassiker durch Medienverbundsysteme und Merchandising über Jahrzehnte hinweg immer wieder in neuen medialen Formen präsent sind, nehmen diese weiterhin als transmediale Long- und/oder Bestseller einen bedeutenden Platz in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur ein. Welchen Einfluss die damit einhergehenden Änderungen der literarischen Originalvorlage in Form von Modernisierungen, Adaptionen und Remediationen auf die Rezeption und das Verständnis der zugrunde liegenden Geschichte und ihrer Figuren haben, ist wiederholt analysiert worden und ist ein beliebter Gegenstand medienhistorischer und medientheoretischer Studien, ebenso die Umschreibung bzw. Adaption von klassischen Werken der Erwachsenenliteratur für Kinder und Jugendliche, auch in Form von Bilderbüchern (Zöhrer 2011).
Weltliteratur für Kinder
Kinder- und Jugendliteratur war schon früh „Weltliteratur“. Daher sollten nationale Kinderliteraturen immer im Kontext der internationalen Kinderliteratur betrachtet werden. Erich Kästner oder Astrid Lindgren sind in diesem Sinne internationale Autoren, die deshalb auch in die meisten Weltsprachen übersetzt worden sind. Der literaturtheoretische Diskurs über den Kinderklassikerbegriff ist folglich verzahnt mit dem Konzept einer „Weltliteratur für Kinder“, das auf Überlegungen von Paul Hazard (1925) zurückgeht. Hazards Ideen sind wegen ihres Eurozentrismus und ihrer „naiven“ Sichtweise auf die tatsächlichen Produktions- und Vertriebsverhältnisse auf dem internationalen Buchmarkt wiederholt kritisiert worden (O’Sullivan 2000). Eine Basis für eine Neubestimmung des Begriffs bietet der theoretische Ansatz der Post-Colonial Studies, der dazu beigetragen hat, den tradierten Weltliteratur-Begriff kritisch zu reflektieren. Das Plädoyer für eine Erweiterung des Kanons um nicht-europäische, indigene Literaturen führte zu einer veränderten Perspektive auf die Peripherie. Im Rekurs auf die Idee einer „New World Literature“ bedeutet diese Forderung den kosmopolitischen Einschluss von Literaturen aus Dritte-Welt-Ländern, aber auch von Minderheiten und Migranten. Die durch diese Überlegungen ausgelöste Debatte ist eng mit der Kanonisierung bzw. De-Kanonisierung von Kinder- und Jugendliteratur verknüpft. Die Forderung nach einer Neubesinnung und kritischen Reflexion des kinderliterarischen Kanons hat auf der einen Seite dazu geführt, den Normcharakter des Kinderliteraturkanons kritisch zu überprüfen, auf der anderen Seite historische Studien zur Kanonforschung angeregt. Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war die Frage, aus welchen Gründen Kinder- und Jugendliteratur nicht als Bestandteil der Allgemeinliteratur angesehen und folglich de-kanonisiert worden ist. Dies zeigt sich u.a. daran, dass Kinder- und Jugendliteratur in der Regel nicht in nationalen Literaturgeschichten berücksichtigt oder nur marginal, oft in Verbindung mit abwertenden Einschätzungen, behandelt wird. Um diese Fragen hinreichend beantworten zu können, müssten sowohl die Wissenschaftsgeschichte der Kinderliteraturforschung als auch der historische Wandel der Bewertung von Kinder- und Jugendliteratur anhand historischer Quellen (Literaturgeschichten, Literaturkritiken, Schul- und Lesebücher, Leselisten usw.) erforscht werden. Entsprechende Studien liegen bislang nur zu Deutschland (Kümmerling-Meibauer 2003) und den USA (Clark 2003) vor.
Begriffsbestimmung
Die Kinder- und Jugendliteratur ist historisch immer auf die Erwachsenenliteratur bezogen. Sie nimmt deren Strömungen auf, agiert zum Teil aber auch als Avantgarde. Kinder- und Jugendliteratur und Erwachsenenliteratur gehören zusammen, sollten also auch in ihren wechselseitigen Beziehungen erforscht werden. Nimmt man diese Thesen ernst, so stellen sich für die (Kinder-)Literaturwissenschaft folgende Fragen: Schreiben Autoren anders, wenn sie sich an verschiedene Zielgruppen richten? Gibt es literarische Werke, die sich sowohl an Kinder und Jugendliche als auch an Erwachsene richten? Und: Warum enthalten viele Kinderbücher Informationen, die offenbar nur von einem erwachsenen Mitleser verstanden werden können? Obwohl es zu diesen Fragen schon seit den 1980er Jahren Untersuchungen gibt, so etwa der Sammelband Kinderliteratur – Literatur auch für Erwachsene? (1990) von Dagmar Grenz oder die Studie Poetics of Children’s Literature (1986) von Zohar Shavit, hatte erst ein special issue des Jahrbuches Children’s Literature (1997) mit dem ungewöhnlichen Titel „Crosswriting“ die entsprechende Fanalwirkung. Die Begriffsbildung Crosswriting ist selbst ein Kunstwort und geht offensichtlich auf die beiden Herausgeber U.C. Knoepflmacher und Mitzi Myers zurück, die den Terminus in Analogie zu dem Begriff „Crossover Literature“ des viktorianischen Satirikers Samuel Butler bildeten (Knoepflmacher/Myers 1997). Crosswriting lässt sich – auch aufgrund der Ambivalenz des Wortes „cross“ – nicht adäquat ins Deutsche übersetzen, weshalb der englische Begriff beibehalten wird.
Formen des Crosswriting
Drei Formen des Crosswriting werden im Allgemeinen unterschieden. Zunächst macht Crosswriting darauf aufmerksam, dass es eine wachsende Anzahl von Autoren und Autorinnen gibt, die literarische Werke sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene schreiben, man denke nur an Autoren wie Bertolt Brecht, Hans Magnus Enzensberger, Peter Härtling, E.T.A. Hoffmann, Erich Kästner, Christian Morgenstern und Joachim Ringelnatz. Außerdem referiert Crosswriting auf das Phänomen des rezipientenübergreifenden Schreibens, d.h. ein kinderliterarisches Werk spricht sowohl Kinder als auch Erwachsene an, wobei verschiedene Bedeutungsebenen herausgeschält werden können. In der deutschsprachigen Forschung haben sich für diese Form des gleichzeitigen Ansprechens zweier Lesergruppen die Termini Mehrfachadressiertheit oder doppelsinniges Kinderbuch etabliert (Ewers 2000). Dieser Gruppe ordnet man viele Kinderklassiker, aber auch zahlreiche moderne Kinder- und Jugendbücher zu, so etwa E.T.A. Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig (1816) oder Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie (2003–2007) (vgl. Kapitel V.1 und V.6). Zuletzt verweist Crosswriting auf die Tatsache, dass ein zunächst als Erwachsenenbuch konzipiertes Werk von demselben Autor/derselben Autorin in ein Kinderbuch umgeschrieben wird oder umgekehrt. Für die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur kann stellvertretend Leonie Ossowski genannt werden. Unter dem Pseudonym Jo Tiedemann veröffentlichte sie 1956 bei einem Ostberliner Verlag ihren Erwachsenenroman Stern ohne Himmel, der 1978 in einer gekürzten und sprachlich bearbeiteten Version als Kinderbuch publiziert wurde. Hiervon zu unterscheiden sind die kinderliterarischen Adaptionen von Werken der Erwachsenenliteratur durch andere Autoren, wie dies etwa mit Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719/20; dt. 1720) oder Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (Gullivers Reisen, 1726; dt. 1727) mehrfach geschehen ist. Für eine Theorie des Crosswriting sind diese Adaptionen ebenfalls von großem Interesse. Die Konzeption des Crosswriting hat man mittlerweile auch auf andere mediale Formen, z.B. das Bilderbuch oder den Kinderfilm, übertragen (Beckett 2011; Kümmerling-Meibauer/Koebner 2010).
Crossover Literatur
Der Begriff „Crossover Literatur“ – oft auch als „All Age Literatur“ bezeichnet – ist zwar eng mit dem Konzept des Crosswriting verbunden, verweist darüber hinaus aber auf das Phänomen, dass sich die Kinder- und Jugendliteratur auf der einen Seite und die Erwachsenenliteratur auf der anderen Seite hinsichtlich der Themen, Formen und narrativen Strukturen immer mehr einander angleichen, so dass es bei manchen Werken zuweilen schwierig ist, sie einem Literaturbereich eindeutig zuzuordnen (Beckett 1999, 2009; Blümer 2009; Blume 2005; Falconer 2009). Der Terminus „Crossreading“ dagegen referiert auf das Phänomen, dass Erwachsene Kinder- und Jugendliteratur lesen, während Jugendliche ein vermehrtes Interesse an der Erwachsenenliteratur zeigen, vor allem im Bereich der Fantasyliteratur.
Zusammenhang mit anderen theoretischen Fragestellungen
Über die Erstellung einer Typologie des Crosswriting und den Vergleich von Werken desselben Autors, die sich an Erwachsene und/oder Kinder und Jugendliche richten, hinaus ist das Phänomen des Crosswriting für verschiedene literaturhistorische und theoretische Fragestellungen von großer Bedeutung, etwa für die historische Kanonforschung, das Konzept der Intertextualität, die Narrationsforschung, die Frage nach dem Remake bzw. dem Verhältnis von Original und Kopie, dem Einfluss künstlerischer Avantgarden auf die Kinder- und Jugendliteratur, die Untersuchung verschiedener Leserrollen von Erwachsenen oder die Analyse der zugrundeliegenden Kindheitsbilder. Obwohl das Phänomen, dass Autoren sowohl für Kinder als auch für Erwachsene schreiben, sich bereits seit dem 18. Jahrhundert nachweisen lässt, hat sich die allgemeine Literaturwissenschaft dieses theoretisch hochinteressanten Aspektes bisher nicht angenommen. Offenbar hat man noch gar nicht die Brisanz dieser Thematik erkannt, denn hier ergibt sich die Chance, auf die enge Verzahnung von Kinder- und Jugendliteratur mit der Erwachsenenliteratur hinzuweisen und folglich die Schnittstellen zwischen beiden Literaturbereichen genauer zu analysieren.
Bedeutung der Kindermedien
Intermedialität, Transmedialität, Hypermedialität und Medienkonvergenz sind Schlagworte, die seit Mitte der 1990er Jahre die Debatte über den Zusammenhang zwischen verschiedenen Medien bestimmen. Allen diesen Begriffen ist gemeinsam, dass sie Manifestationsformen eines umfassenden Phänomens der medialen Interferenzen und Grenzüberschreitungen darstellen. Dass sich verschiedene Medien miteinander vermischen und aufeinander Bezug nehmen, ist keineswegs eine neue Erscheinung, bestimmt jedoch die mediale Wahrnehmung und das künstlerische Schaffen immer mehr. Bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt sich in einer Vielzahl kinderliterarischer Texte eine Öffnung gegenüber anderen medialen Ausdrucksformen, die seit den 1980er Jahren stetig zugenommen hat. Mit diesem Phänomen muss sich folglich auch die Kinderliteraturforschung auseinandersetzen, wenn sie sich gegenüber den technischen und digitalen Vermittlungsformen kinderliterarische Texte nicht verschließen will. Im Bereich der Kindermedien, neben Printmedien zählen hierzu die AV-Medien und die interaktiven Medien, können verschiedene Strategien des Medientransfers unterschieden werden. Bei dem nach dem Baukastensystem funktionierenden Medienverbund wird ein Leitmedium in andere Medien umgesetzt und gleichzeitig oder mit zeitlicher Verschiebung auf den Markt gebracht. Dieser Medienverbund wird durch den Verkauf von Nebenrechten, sog. Merchandising, auf die verschiedensten Konsumgüterbereiche ausgedehnt. Ausgangsmedium kann dabei ein Buch, ein Comic, aber auch ein Film, ein Hörspiel, ja sogar ein Spielzeug sein. Bei Medienverbundsystemen wird jedoch nicht nur ein Ausgangsmedium in diverse andere Medien umgesetzt, zunehmend ist dabei die Tendenz zu beobachten, dass die jeweiligen Medien Strukturmerkmale anderer Medien aufgreifen und zitieren. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, für das sich der Begriff Intermedialität (der den ungenauen Begriff der Adaption ersetzt) durchgesetzt hat. Intermedialität umfasst alle Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren (Rajewsky 2002).
Transmedialität und Hypermedialität
Das Konzept der Transmedialität verweist auf das Vorkommen eines bestimmten Stoffes oder Motivs bzw. die Umsetzung eines Genres in verschiedenen Medien, ohne dass die Annahme eines Ursprungsmediums relevant ist. So können einzelne Medien auf Stoffe aus der Bibel oder der antiken Mythologie zurückgreifen, die im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind. Mit der Entwicklung der interaktiven Medien, die sich durch eine besondere Struktur der Hyperlinks auszeichnen, hat sich eine weitere Form medialer Repräsentation etabliert: Hypermedialität. Darunter versteht man die nichtlineare Anordnung von Informationen (Text, Bild, Film, Spiel), die durch mehrere Ebenen miteinander vernetzt bzw. verlinkt sind. Ein markantes Beispiel hierfür sind die Fenster von Websites und Desktop Interfaces im Internet, die durch Anklicken geöffnet werden können und zu einer Verschachtelung der verschiedenen Ebenen beitragen.
Kindermedienforschung
Zum Gegenstand der Kindermedienforschung gehören u.a. a) Medienkombination, auch Multimedialität genannt. Hierbei handelt es sich um eine Verbindung mehrerer Medien wie z.B. beim Bilderbuch (Verbindung aus Text und Bild), dem Comicroman, dem Computerspiel oder dem Kinderfilm. Anhand dieser Auflistung wird schon ersichtlich, dass eine Kombination unterschiedlicher Medien häufig zur Entstehung und Entwicklung neuer eigenständiger Kunstformen führen kann; b) das Phänomen des Medienwechsels (auch: Medientransformation), d.h. Literaturverfilmungen und andere Formen der Umsetzung von einem Medium in ein anderes Medium wie Transformation eines Filmes in einen literarischen Text (Novelization), Vertonungen, Umsetzung in ein Computerspiel usw.; c) Intermedialität, d.h. der Bezug eines Mediums auf ein anderes Medium und dessen Ausdrucksformen. Hierzu gehören Erscheinungen wie die „filmische Erzählweise“ oder die Einfügung narrativer Elemente in den Film, z.B. durch aus dem Off gesprochene Texte, oder die Integration von Filmsequenzen in Computerspiele; d) Remediation, d.h. die Umgestaltung „älterer“ Medien in neuen (digitalen) Medien (Bolter/Grusin 2001). Das damit zusammenhängende Phänomen der Medienkonvergenz spielt im Zeitalter des Internets eine immer größere Rolle, weil sich durch den Umgang mit diesem Medium neue Partizipationsmöglichkeiten der Rezipienten ergeben, etwa durch Fan Fiction oder Blogs (Carr 2010). Durch die Verbreitung eines Mediums auf verschiedenen Plattformen und die Strategie, einen Inhalt über mehrere Medien hinweg zu erzählen, ist eine neue Erzählform entstanden, die man als „transmediales Erzählen“ bezeichnet (Jenkins 2006). Ferner zeichnen sich viele Kindermedienverbünde durch das Prinzip der Serialisierung aus. Das Serienprinzip, ob in der Kinder- und Jugendliteratur oder in den AV-Medien und interaktiven Medien, wird in der Forschung wenig diskutiert und eher negativ eingestuft. Erfolgreiche Medienprodukte – ob Kinderbücher, Filme, Hörspiele, Computerspiele oder Spielzeug – bauen auf dem Serienprinzip auf, indem im regelmäßigen Turnus Fortsetzungen oder um weitere Geschichten ergänzte Versionen erscheinen.
Medienkompetenz und Media Literacy
Obwohl das Printmedium Buch weiterhin eine bedeutende Rolle im Alltag des Kindes einnimmt und das Bilderbuch offensichtlich immer noch das erste Medium ist, mit dem Kleinkinder in Berührung kommen, ist die moderne Kinderkultur in eine multimediale Welt integriert: außer den Printmedien Buch, Zeitschrift und Comics nehmen andere Medienformen immer größeren Einfluss auf die kindliche Medienrezeption (Hurrelmann/Becker 2003). Die Erweiterung des traditionellen Lese-Konzeptes auf das Verstehen von Bildern, Symbolen und Programmiersprachen mündete in ein Plädoyer für eine multimediale Erziehung des Kindes (Groeben/Hurrelmann 2002b). Durch das Erlernen der medialen Codes und die Anleitung zum kritischen Umgang und Vergleich soll die Bedeutung der Kindermedienkultur für die kognitive, sprachliche und emotionale Entwicklung des Kindes herausgestellt werden. Das von der Kindermedienforschung in die Diskussion eingebrachte Konzept der Media Literacy oder Medienkompetenz macht auf die besonderen kognitiven Fähigkeiten, die der Umgang mit Printmedien, AV-Medien und interaktiven Medien aktiviert, aufmerksam (z.B. Wahrnehmung von Sprache-Bild-Relationen, Deutung von Szenenwechseln und multimodaler Kombination bei Spielen und Websites). Je nach ausgewähltem Medium wird noch weiter spezifiziert, indem zwischen Computer Literacy, Electronic Literacy (Dresang 1999) und New Visual Literacy (Kress/van Leeuwen 1996) unterschieden wird.
Hybridisierung und Transliteracy
Neben der Untersuchung dieser Medienvielfalt und ihrem Einfluss auf die Medienkompetenz der Zielgruppe haben sich in den letzten Jahren, auch bedingt durch die rasante Entwicklung des Internets, weitere Tendenzen herausgestellt, die für die Kinderliteraturforschung von Relevanz sind (Ewers 2002c). Eine Tendenz besteht in der zunehmenden Hybridisierung, d.h. der Verschachtelung und Kombination verschiedener medialer Inhalte und Strukturen. Besonders deutlich wird dieses Phänomen im modernen Kinderfilm, der durch die Kombination populärer Filmgenres mit avantgardistischen Filmtechniken eine bestimmte Form des Crossover hervorgerufen hat (Wojcik-Andrews 2000). Vergleichbare Tendenzen lassen sich im Printmedium Buch beobachten, wenn Elemente des Comics, Films und des Computerspiels eindringen und dadurch neue Erzählformen generieren. Das gleichzeitig stattfindende multimediale Franchise eines Werkes in Buchform, als Verfilmung, Comicversion, Hörbuch, Anime, Online- und Computerspiel bis hin zu Websites und Blogs, die zur aktiven Mitarbeit der Rezipienten auffordern, ist maßgeblich an der Entstehung eines transmedialen Netzwerkes beteiligt. Die jeweiligen Medien enthalten dabei Leerstellen, die erst dann ergänzt werden können, wenn man die anderen medialen Varianten heranzieht. Diese Struktur verlangt von dem interessierten Rezipienten, dass er sich mehrerer Medien bedient, um eine Geschichte in all ihren Details erfassen zu können. Außerdem erfordert diese neue Strategie eine Kompetenz, die man in der Forschung als „Transliteracy“ bezeichnet. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass man zwischen verschiedenen Medien, die nicht mehr ausschließlich textbasiert sind, wechseln kann und dabei in der Lage ist, die verschiedenen Symbolsysteme zu verstehen und miteinander in Verbindung zu setzen. Für die Kinderliteraturforschung stellt diese Entwicklung insofern eine Herausforderung dar, als sie einen nachhaltigen Einfluss auf Form, Format und Erzählstrategien kinderliterarischer Texte ausübt und mit dazu beiträgt, dass das Printmedium Buch an einem transmedialen Formen- und Bedeutungswandel partizipiert und damit einhergehend neue Buch- und Erzählformen generiert werden. Die Kinderliteraturforschung muss sich jedoch nicht nur diesen aktuellen Herausforderungen stellen, bislang liegen auch keine umfassenden und vergleichenden Studien zur Geschichte der Kindermedien und des Kindermedienverbundes von ihren Anfängen am Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart vor.
Bedeutung von Bildern in Kindermedien
Nicht nur das Bilderbuch, sondern auch der Comic und Manga für Kinder sowie illustrierte Kinder- und Jugendbücher zeichnen sich durch einen hohen Bildanteil aus. Die Interaktion von Text und Bild sowie Ton spielt darüber hinaus im Film, im Computerspiel und im Internet eine tragende Rolle. Seit den 1980er Jahren hat sich eine eigenständige Bilderbuch- und Comicforschung entwickelt, die innerhalb der Kinderliteraturwissenschaft nur einen marginalen Status einnimmt. Ebenso gibt es bislang kaum wissenschaftliche Studien, die sich mit der Bedeutung des Bildes im Kinder- und Jugendfilm und internetbasierten medialen Formen auseinandersetzen. Durch die Übernahme filmischer Erzählweisen ergeben sich darüber hinaus Verbindungslinien zum Film (Kinofilm, Fernsehen, animierte Sequenzen im Computerspiel).
Bilderbuch- und Comicforschung
Am umfänglichsten sind bisher Forschungen zur Geschichte des Bilderbuches und der Illustration im Kinderbuch (Doderer/Müller 1975; Ries 1988; Franz/Lange 2006; Heller 2008) und des Comics (Dolle-Weinkauff 1990, 2008), die auf die Entwicklung der Drucktechniken, die Stilgeschichte, den inhaltlichen und formalen Wandel sowie die Rezeption eingehen. Bahnbrechende theoretische Studien zum Bilderbuch und Comic wurden vorwiegend von englischsprachigen Forschern verfasst. In den Studien von Lewis (2001), Nikolajeva/Scott (2001) und Thiele (2000) rückte der Begriff des Bildes als eigene ästhetische Kategorie ebenso ins Blickfeld wie die Bedeutung der symbolischen Formen von Bild und Text und deren Interaktion. Neue Impulse hat die Bilderbuch- und Comicforschung, die ihr Tätigkeitsfeld inzwischen auf die Untersuchung von Manga und Graphic Novels ausgedehnt hat, durch die Narrationsforschung und filmtheoretische Studien erhalten (Packard 2006; Thiele 2007; Schüwer 2008; Colomer/Kümmerling-Meibauer/Silva-Díaz 2010).
Medien- und Kunstwissenschaft
Die Medienwissenschaft hat das Bilderbuch und den Comic bislang eher stiefmütterlich behandelt. Erst in letzter Zeit widmen sich einzelne Forscher der filmischen Umsetzung von Bilderbüchern und Comics in Real- oder Animationsfilme, um daraus neue Perspektiven für einen medienkompetenzorientierten Zugang zum Bilderbuch bzw. Comic zu eröffnen. Von Seiten der Kunstwissenschaft liegen bislang keine umfangreichen Studien zur Geschichte oder Theorie des Bilderbuches vor, obwohl es mittlerweile zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Entwicklung des illustrierten Buches (für Erwachsene) und des Künstlerbuches gibt.
Weiterführende Fragestellungen
Angeregt durch die Visual Literacy-Forschung und Ergebnisse der Bildwissenschaft und kognitiven Psychologie verlagerte sich der Fokus seit den 1990er Jahren zunehmend auf die kindliche Rezeption von Bilderbüchern und deren Einfluss auf die kognitiv-emotionale Entwicklung des Kindes. Entsprechende Untersuchungen für die Rezeption von Comics und Kinderfilmen durch Kinder und Jugendliche stehen bislang aus. Dennoch sind viele bedeutende Aspekte, die mit dem Bild konnotiert sind, in den Fokus der Forschung gerückt. Dazu gehören u.a. die Interdependenz von Text und Bild, der Einfluss der Paratexte, die narrative Herausforderung textloser Bildsequenzen, das Phänomen der Interpiktorialität, Remediationen (z.B. Bilderbuch- und Comicverfilmungen), die Bedeutung des Remake (mehrfache Umsetzung desselben Stoffes in einem Medium), Darstellung von Raum und Zeit sowie der Einfluss narratologischer Parameter (Metafiktion, Intertextualität, Multiperspektivität) auf die Gestaltung und Wahrnehmung von Bildern.
Fazit und Ausblick
Je länger man sich mit Kinder- und Jugendliteratur und deren Erforschung befasst, desto mehr neue Perspektiven eröffnen sich. Die in diesem Kapitel genannten theoretischen Ansätze und Aspekte stellen nur eine Auswahl dar und können durch weitere Fragestellungen fortgeführt und ergänzt werden. Sie sollten vor Augen führen, dass die Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur nicht nur für die Literaturdidaktik, sondern auch für die allgemeine Literaturwissenschaft von großem Interesse ist, sei es hinsichtlich der Frage nach dem Literaturerwerb, nach den Schnittstellen zwischen Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur oder dem Aspekt der Kanonisierung von Werken und Autoren, die sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene schreiben. In den letzten Jahren haben sich neue kulturwissenschaftliche und literaturtheoretische Ansätze in der allgemeinen Literaturwissenschaft etabliert, so etwa Animal Studies, Ecocriticism, Materiality oder Cognitive Poetics. Zwar beziehen sich vereinzelt Kinderliteraturwissenschaftler schon auf diese Ansätze, inwiefern sie für die Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur zu fruchtbaren Ergebnissen führen werden, wird sich allerdings erst in der Zukunft erweisen.