Ambivalenz des Begriffs „Kindermärchen“
1816 erschien ein von E.T.A. Hoffmann zusammen mit Carl Wilhelm Salice Contessa und Friedrich de la Motte Fouqué initiierter Sammelband mit dem Titel Kinder-Mährchen, in dem erstmals sein Werk Nußknacker und Mausekönig abgedruckt wurde. Dieser Band gilt als erste Sammlung romantischer Kindermärchen in Deutschland. Ein Jahr später erschien ein zweiter Band, in dem u.a. Hoffmanns Kindermärchen Das fremde Kind abgedruckt wurde. Der schlichte Titel „Kindermärchen“ war zu dieser Zeit schon durch Albert Ludwig Grimms gleichnamige Märchensammlung von 1809 besetzt. Hinzu kam, dass auch die Brüder Grimm diesen Begriff bei ihrer Märchensammlung Kinder- und Hausmärchen (1812–1815) verwendeten. Mit den Grimmschen Ausgaben wurde der Begriff populär gemacht und zugleich auf eine bestimmte Erzählweise, die durch Naivität, Schlichtheit und Volkstümlichkeit gekennzeichnet war, festgelegt. Hoffmann distanzierte sich mit seiner Anthologie und vor allem mit seinem eigenen Märchen bewusst von dieser Gattungstypologie und schuf einen neuen Märchentyp, der sich einerseits durch die Ambivalenz der Darstellung hinsichtlich der phantastische Ereignisse auszeichnet und andererseits die Handlung nicht mehr in ein unbestimmtes Irgendwo verlagert, sondern Einblick in den Alltageines Kindes im städtischen großbürgerlichen Milieu zu Beginn des 19. Jahrhunderts bietet. Zugleich wird deutlich, dass Hoffmann mit dem Begriff „Kindermärchen“ eine doppelte Bedeutung intendierte. Auf der einen Seite verweist er auf die kindliche Phantasie, auf der anderen Seite fokussiert er die Darstellung der Handlung aus der Perspektive eines Kindes.
Inhalt
Das Märchen besteht aus einer Rahmenhandlung, in die ein dreiteiliges Binnenmärchen integriert ist. Die Rahmenhandlung beginnt am Weihnachtsabend und findet ausschließlich in der Wohnung der gutsituierten Familie Stahlbaum statt. Hauptfigur ist die siebenjährige Marie, die unter dem Weihnachtsbaum einen Nussknacker findet, den sie trotz seiner Hässlichkeit gleich in ihr Herz schließt und gegen die Attacken ihres Bruders Fritz in Schutz nimmt. Als um Mitternacht alle Spielsachen lebendig werden, wird Marie Augenzeugin einer Schlacht zwischen ihren Puppen, die vom Nussknacker angeführt werden, und dem siebenköpfigen Mausekönig und seiner Mäuseschar. Marie kommt dem bedrohten Nussknacker zu Hilfe, verletzt sich dabei schwer an einer Glasscheibe und erkrankt an Wundfieber. Ihr Pate Droßelmeier erzählt ihr an drei aufeinander folgenden Abenden das „Märchen von der harten Nuß“, das aus Sicht von Marie die Vorgeschichte ihres Nussknackers berichtet: Aus Rache für die Ermordung ihrer Untertanen hatte die Mausekönigin Mauserinks einst die liebliche Prinzessin Pirlipat in ein Monster verwandelt. Der Hofastronom und der Uhrmacher Droßelmeier erfahren durch ein Horoskop, dass nur der süße Kern der goldenen Nuss Krakatuk der Prinzessin ihr ursprüngliches Aussehen wiedergeben würde. Diese Nuss müsse aber von einem Jüngling, der sich noch nie rasiert und bislang keine Stiefel getragen habe, geknackt werden. Nach fünfzehnjähriger Suche gelangen beide Männer nach Nürnberg, wo sie nicht nur die goldene Nuss, sondern auch den Jüngling vorfinden, der ein Verwandter Droßelmeiers ist. Zwar wird Pirlipat erlöst, aber der Jüngling wird von der sterbenden Mauserinks in einen Nussknacker verwandelt. Er wird mit seinem Onkel des Hofes verwiesen und kann nur dann erlöst werden, wenn er den siebenköpfigen Sohn von Mauserinks tötet und ein Mädchen findet, das ihn trotz seiner Missgestalt liebt. – Marie schließt aus diesem Märchen, dass ihr Pate und der Uhrmacher identisch seien und dass ihr Nussknacker der verzauberte Neffe sein müsse. Um ihn vor den Angriffen des Mausekönigs zu schützen, gibt sie ihre Süßigkeiten und Spielsachen her. Dem Nussknacker gelingt es schließlich, mithilfe eines von Marie beschafften Schwertes den Mausekönig zu töten. Zum Dank schenkt er ihr die sieben Krönchen des Mausekönigs und führt sie durch einen Wandschrank ins Zuckerbäckerland, seine Residenz. Als Marie in ihrem Bett erwacht, werden die von ihr berichteten Erlebnisse als Traum gedeutet. Selbst die vorgewiesenen sieben Krönchen gelten nicht als Beweis, weil ihr Pate behauptet, sie ihr zum Geburtstag geschenkt zu haben. Marie verstummt und verfällt in Tagträume. Als sie dem Nussknacker ihre Zuneigung gesteht, verspürt sie einen Schlag und fällt vom Stuhl. Ihre Mutter eilt herbei und stellt ihr den aus Nürnberg kommenden Neffen Droßelmeiers vor. Dieser gibt sich als der ehemalige Nussknacker zu erkennen und hält um Maries Hand an. Nach einem Jahr findet die Hochzeit statt und beide ziehen ins Zuckerbäckerland.
Vielfalt der Themen in Nussknacker und Mausekönig
In Nußknacker und Mausekönig werden zahlreiche Themen und Aspekte angesprochen: die Beziehung eines siebenjährigen Mädchens zu seiner Familie, die Spiel- und Phantasiewelt Maries, die ambivalente Beziehung zwischen Alltagsrealität und Traum sowie die Belebung von Spielsachen. Außerdem werden mehrere Metamorphosen dargestellt, Menschen verwandeln sich in Puppen, Spielzeug nimmt menschliche Gestalt an, die Figuren im Binnenmärchen finden ihren Gegenpart in den Figuren der Rahmenhandlung, so dass sich nicht nur eine wechselseitige Spiegelung ergibt, sondern auch die Identität der Figuren in Frage gestellt wird. Durch den Wechsel zwischen Erzähler- und Figurenrede, die metafiktiven Leseranreden, die widersprüchlichen Aussagen der Erzählinstanzen und den Fokalisierungswechsel ergibt sich eine Vieldeutigkeit des Geschehens, die bis zum Schluss hin anhält und auch keine endgültige Auflösung zulässt. Das von Hoffmann gewählte Genre, das Kindermärchen, wird darüber hinaus durch den Autor in seinem Märchencharakter potenziert, indem er das Hauptmärchen mit einem Binnenmärchen kombiniert.
Idealisierung der Kindheit
Schon zum Einstieg wählt Hoffmann ein romantisches Motiv: Das Märchen beginnt am Weihnachtsabend. Im Zuge der Idealisierung von Kindheit wird das Weihnachtsfest als Fest für Kinder zu einer Möglichkeit des nostalgischen Rückbezugs in die eigene Kindheit. Weitere Aspekte des romantischen Kindheitsbildes manifestieren sich in der Hauptfigur Marie: sie hat eine verklärte Sicht auf Alltagsgegenstände, besitzt die Fähigkeit zur Einbindung der Gegenstände in die Phantasiewelt und zu einem unbefangenen Umgang mit dem Wunderbaren. Dennoch ist Marie kein naives Kind, sie kann ebenso wie ihr Bruder Fritz als „aufgeklärtes“ Kind betrachtet werden, denn beide sind sich bewusst, dass ihnen nicht der „liebe Heilige Christ“, sondern ihre Eltern und der Pate die Weihnachtsgeschenke bescheren. Ebenso wird betont, dass Marie sich nicht gleich den phantastischen Ereignissen hingibt, sondern die Diskrepanz zwischen realer und phantastischer Welt durchaus bemerkt: „Bin ich nicht ein töricht Mädchen, daß ich so leicht erschrecke, so daß ich sogar glaube, das Holzpüppchen da könne mir Gesichter schneiden!“ (33). Doch ihre Phantasie scheint sich nicht zähmen zu lassen, so dass sie von den außerordentlichen Ereignissen vollkommen eingenommen wird.
Fokussierung der Kinderperspektive
Hoffmann stellt mit Nußknacker und Mausekönig die Wahrnehmung und Perspektive des Kindes in den Mittelpunkt, ohne sie als falsch oder naiv zu deklarieren. Das verklärte Bild der Frühromantiker differenziert Hoffmann insofern, als dass er kindlichen Phantasie ernst nimmt und zugleich ihre möglichen Gefahren beleuchtet, wie sie bereits durch Johann Gottfried Herder in seiner Vorrede zum ersten Band der Palmblätter (1786) angesprochen wurden. Einen Gegenpol zu Maries überbordender Phantasie bilden die Eltern (und später auch Fritz), die vom aufklärerischen Prinzip der Vernunft geleitet sind, obwohl die Mutter einmal zugesteht, dass es Dinge geben würde, die man mit dem Verstand allein nicht erfassen könne. Der Pate Droßelmeier nimmt eine Zwischenstellung ein. Er verkörpert sowohl die frühromantische Sehnsucht nach einer Rückkehr in die eigene Kindheit als auch die spätromantische Warnung vor den Kehrseiten der Phantasie: „Aber viel hast du zu leiden, wenn du dich des armen missgestalteten Nußknackers annehmen willst!“ (88). Die Darstellung des Alltags wird nach den Gesetzen des modernen psychologischen Realismus gestaltet, der eigentlich das Wunderbare ausschließt. Dadurch wird der Zusammenprall von Realitäts- und Märchenerfahrung mehrdeutig. Die phantastischen Ereignisse können als Traum, Einbildung, Wirklichkeit oder Bewusstseinskrise gedeutet werden. Marie wird mit beiden Erfahrungsweisen konfrontiert und gerät in einen psychischen Konflikt. Von ihr werden die Ereignisse als Wirklichkeit empfunden, von den Eltern jedoch als Fieberträume. Der Pate nimmt eine Mittlerfunktion ein, weil er noch am ehesten Verständnis für Marie zeigt. Der auktoriale Erzähler stellt sich mit seinen Kommentaren scheinbar auf die Seite Maries, tatsächlich deutet er auf den ambivalenten Status der Erzählung hin, in der sich kindliche und erwachsene Perspektive widerspiegeln.
Verbindung mit der zeitgenössischen Kinderpsychologie und Pädagogik
Hoffmanns Kindermärchen weist etliche Parallelen mit Erkenntnissen der zeitgenössischen Kinderpsychologie und Pädagogik auf. Bereits Karl Philipp Moritz hatte in dem von ihm herausgegebenen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–93) der Lebensphase Kindheit einen besonderen Stellenwert eingeräumt, indem er autobiographische Berichte über Kindheitserlebnisse und Beobachtungsstudien über Kinder abdruckte. In seinen eigenen Beiträgen verwies er auf den Einfluss des Elternhauses auf die frühe kindliche Entwicklung. Dabei betonte er die Bedeutung der kindlichen Phantasietätigkeit, weil diese nicht nur die kindliche Entwicklung fördern, sondern auch der Verarbeitung von familiären Konflikten bis hin zu traumatischen Eindrücken dienen würde. Moritz’ Ideen wurden von Dieterich Tiedemann in Untersuchungen über den Menschen (1778) sowie Jean Paul aufgegriffen, der im dritten Kapitel von Levana oder Erziehlehre (1814) eine Theorie des kindlichen Spiels konzipierte. Tiedemann weist darauf hin, dass Kinder lange nicht – ein genaues Alter nennt Tiedemann nicht – zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden könnten und ihnen deshalb die Distinktion zwischen Imagination, Traum und Realität schwer falle. Verstärkt werde diese Tendenz bei besonders sensiblen, aber auch bei kranken Kindern (342), denen Tiedemann eine hohe poetische Einbildungskraft zuschreibt. Jean Paul wiederum vergleicht das kindliche Spiel mit der schöpferischen Kraft des Dichters und charakterisiert es deshalb als „erste Poesie des Menschen“ (603). Beim Spiel mit Puppen oder mit Gegenständen übernehme das Kind die Rolle eines „Theaterdichter(s) und Regisseur(s)“ (604). Des Weiteren führt Jean Paul aus, dass gerade der Umgang mit „toten Spielsachen“ deshalb so wichtig sei, weil diese in der kindlichen Vorstellung lebendig und sogar als menschliche Wesen wahrgenommen würden (605). Diese Fähigkeit der Projektion sieht Jean Paul als wichtigen Schritt in der Entwicklung des Kindes an, weil es ihm einen Zugang zur Sphäre der Phantasie und Imagination gewähre. Bereits im frühromantischen Diskurs über Kindheit wurde dem Kind eine besondere Affinität zur Phantasie zugesprochen (Alefeld 1996; Baader 1996; Ewers 1989). Jean Paul sieht diese Befähigung als einen Prozess an, der einem Wandel unterliegt. So ginge das symbolische Spielen mit dem fortschreitenden Alter des Kindes in ein Rollenspiel über, indem das Kind nicht mehr für sich allein spielt, sondern sich anderen Kindern zuwendet. Dadurch wandelt sich auch der Charakter des kindlichen Spiels, wobei die kindliche Phantasiewelt zunehmend durch die Beschäftigung mit der Alltagswirklichkeit in den Hintergrund gedrängt werde. Vergleichbare Ideen zur kindlichen Phantasietätigkeit und zur Bedeutung des kindlichen Spiels finden sich im 20. Jahrhundert bei Jean Piaget und Lawrence Kohlberg, wobei beide Psychologen den Übergang vom symbolischen Spiel zum Rollenspiel und damit einhergehend die Fähigkeit, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden, auf das 7./8. Lebensjahr festlegen (Schikorsky 1995). Dieser Prozess gehe mit einem auffallenden Verstummen der Kinder einher. Während sie vorher noch freimütig alle Erlebnisse, Phantasien und Träume berichten würden, entwickelten sie nunmehr eine Scheu gegenüber Erwachsenen und würden ihre Geheimnisse eher Gleichaltrigen anvertrauen.
Spätromantischer Kindheitsdiskurs
Wie man daraus ersieht, lässt sich eine Verbindungslinie von den theoretischen Überlegungen Karl Philipp Moritz’, Dieterich Tiedemanns und Jean Pauls sowie der auf den spätromantischen Kindheitsdiskurs rekurrierenden Erzählung Nussknacker und Mausekönig von Hoffmann bis hin zur modernen Kindheitspsychologie ziehen. Hoffmann zeigt folglich ein für seine Zeit ungewöhnliches Verständnis für psychische Phänomene und besaß die Fähigkeit, sie in eindringlicher Weise darzustellen (Steinlein 1999). Dieser Blick in die kindliche Seele war innovativ und wegweisend für spätere Kinderbuchautoren. Über eine Synthese dieser von einem entwicklungspsychologischen Ansatz ausgehenden Ideen der genannten Autoren hinaus stellt Hoffmann des Weiteren den Reifungsprozess eines Kindes in den Fokus. Dass es Hoffmann gelingt, Spiel- und Phantasiewelt eines Kindes in Einklang zu bringen, enthüllt sich auch bei der Reise von Marie und Nussknacker ins Zuckerbäckerland. Hier trifft Marie auf ihre eigenen Puppen und die Spielzeugsoldaten und -figuren von Fritz, die nunmehr die Bewohner des vom Nussknacker regierten Puppenreiches sind. Bemerkenswert ist hierbei die synästhetische Qualität des Puppenreichs, die an Herders Bemerkungen über die sinnliche Welterfahrung des Kindes erinnert. Bei ihrem Eintritt in das Königreich des Nussknackers strömen visuelle, auditive, olfaktorische und haptische Eindrücke auf Marie ein.
Deutung des ambivalenten Schlusses
Mit dem Neffen Droßelmeiers hat Marie endlich einen gleichaltrigen Spielgefährten gefunden, mit dem sie ihre Märchenwelt teilen kann. Die Schüchternheit und das Erröten Maries deuten darauf hin, dass sie ihre Anhänglichkeit zum Nussknacker auf den Jungen überträgt. An die Stelle eines leblosen Spielzeuges rückt ein menschliches Wesen. Zugleich ändert sich auch das Spielverhalten Maries: hatte sie vorher immer allein mit ihren Puppen gespielt, so entwickelt sich zwischen den beiden Kindern ein Rollenspiel, d.h. die Phantasiewelt bleibt erhalten, nur ihr Stellenwert und ihre Funktion sind verändert. Diese Veränderung ist eine Möglichkeit, den ambivalenten Schluss von Nussknacker und Mausekönig zu deuten, denn über die Bedeutung des Schlussteils, ein siebenjähriges Mädchen verlobt sich mit dem Neffen Droßelmeiers und nach einem Jahr findet die Hochzeit statt, haben sich schon manche Interpreten den Kopf zerbrochen. Eine mögliche Deutung der Ereignisse wäre dann, zwei verschiedene Sichtweisen anzunehmen: Aus der Sicht der Erwachsenen ergibt sich eine Krankheitsgeschichte, aus der Sicht des Kindes ein optimistisches Märchen. Diese Ambivalenz offenbart sich auch im Schluss. Die Hochzeit und die Reise ins Zuckerbäckerland können als heiterer Märchenausgang oder als euphemistische Umschreibung einer Wahnvorstellung gedeutet werden (Ewers 1987).
Multiperspektivität
Diese Multiperspektivität, die sich auf alle Aspekte und Figuren des Märchens erstreckt, wird auf der Narrationsebene auf mehrfache Weise erzeugt. Anfänglich scheint es sich um einen allwissenden Erzähler zu handeln, der über die Ereignisse im Hause Stahlbaum berichtet. Mit seinen Kommentaren stellt er sich scheinbar auf die Seite Maries: tatsächlich deutet er auf den ambivalenten Status der Erzählung hin, in der sich kindliche und erwachsene Perspektive hinsichtlich der Deutung der Ereignisse die Waage halten. Das Eindringen der Mäuse und das Lebendig-Werden der Spielsachen werden zunächst so beschrieben, als würden diese Ereignisse tatsächlich stattfinden: allerdings wird im Verlauf der Schilderung durch vage Vergleiche, Vermutungen, die Verwendung von Modalverben und Konjunktiv sowie den Tempuswechsel der Wirklichkeitsanspruch des Phantastisch-Wunderbaren zurückgenommen. Da die phantastischen Ereignisse zudem in der Nacht passieren, wird angedeutet, dass es sich hierbei auch um Wahrnehmungstäuschungen oder Träume handeln könnte. Dieses Wechselspiel der Deutung der nächtlichen Abenteuer zwischen Realität und Imagination wiederholt sich mehrfach und wird noch durch die verschiedenen Figurenreden und den Fokalisierungswechsel betont. Auch die Aussagen Maries und Droßelmeiers sind zum Teil widersprüchlich: mal hält Marie daran fest, dass sich alles so abgespielt hat, wie sie es erzählt, mal äußert sie aber selbst Zweifel, indem sie überlegt, ob nicht ein Lichtschein daran schuld sei, dass der Nussknacker sie auf einmal mit seinen grünen Augen anfunkele. Ebenso verhält es sich mit Droßelmeier: so bezeichnet er die Geschichten Maries als „tollen Schnack“, wenig später spricht er von den „vierzehn Augen des Mausekönigs“, bevor Marie ihm überhaupt die Begegnung mit dem Mausekönig geschildert hat. Auf der einen Seite gibt sich Droßelmeier ahnungslos und relativiert Maries Schilderungen, auf der anderen Seite weiß er mehr, als er zugeben möchte. Auf diese Weise wird der Leser angehalten, an der Wahrhaftigkeit der Aussagen der Figuren, aber auch des Erzählers zu zweifeln, so dass sich hier Anzeichen unzuverlässigen Erzählens offenbaren. Hoffmanns Erzählweise überlässt es dem Leser, selbst über diese Fragen nachzudenken. Es bleibt offen, ob die phantastischen Ereignisse in Wirklichkeit stattgefunden haben oder nur in der Vorstellung des Kindes existieren. Immer wieder werden Phänomene rational erklärt, aber man kann nie sicher sein, ob diese Erklärungen hinreichen oder ob sie nicht gar in die Irre führen; und es bleiben stets weitere Teile, die solchen Erklärungen unzugänglich sind. Dieser Schwebezustand offenbart eine multiperspektivische Sichtweise, die dazu führt, dass das Geschehen auf mehreren Ebenen lesbar ist. Aus der Perspektive des kindlichen Lesers, der sich mit Marie identifiziert, ergibt sich ein spannendes Märchen, das mit einem harmonischen Ende ausklingt. Aus der Sicht des erwachsenen Mitlesers ergibt sich jedoch eine kindheitspsychologische Studie, dessen Ende offen ist, so dass Hoffmanns Erzählduktus dem Crosswriting, d.h. dem grenzüberschreitenden Schreiben für Kinder und für Erwachsene, zugeordnet werden kann (Grenz 1990).
Metamorphosen der Figuren
Die enge Verzahnung von Kind, Spielzeug und Phantasiewelt wird darüber hinaus durch die in Nussknacker und Mausekönig stattfindenden Metamorphosen thematisiert. Drei Figuren sind davon betroffen: der Nussknacker, Droßelmeier und Marie. Der Nussknacker ist im Binnenmärchen der verzauberte Neffe des Uhrmachers Droßelmeier, er ist zugleich eine Spielzeugfigur von Marie, König im Zuckerbäckerland und zuletzt offenbar noch der tatsächliche Neffe von Maries Patenonkel. Auf die Ähnlichkeit zwischen dem Nussknacker und den jeweiligen Neffen aus Binnen- und Rahmengeschichte wird mehrfach hingewiesen: die Jungen verfügen über ein widerstandsfähiges Gebiss, mit dem sie selbst die härtesten Nüsse knacken können. Zur Unterstützung ziehen sie an dem langen Haarzopf im Rücken, der damit eine Hebelfunktion übernimmt: „Bei Tische knackte der Artige für die ganze Gesellschaft Nüsse auf, die härtesten widerstanden ihm nicht, mit der rechten Hand steckte er sie in den Mund, mit der linken zog er den Zopf an – Krak – zerfiel die Nuß in Stücke“ (143).
Rolle des Paten Droßelmeier
Droßelmeier ist die vielschichtigste Figur: Er ist der Pate Maries, taucht als Miniaturfigur in dem von ihm gebauten mechanischen Schloss auf, sitzt um Mitternacht als Spukfigur auf der Kaminuhr, hat im Binnenmärchen sein Pendant im Uhrmacher Christian Elias Droßelmeier und wird einmal mit einer Marionette verglichen: „Aber der Pate Droßelmeier schnitt sehr seltsame Gesichter, und sprach mit schnarrender, eintöniger Stimme: „Perpendikel musste schnurren – picken – wollte sich nicht schicken – Uhren – Uhren – Uhrenperpendikel müssen schnurren – leise schnurren […]“ Marie sah den Paten Droßelmeier starr mit großen Augen an, weil er ganz anders, und noch viel häßlicher aussah, als sonst, und mit dem rechten Arm hin und her schlug, als würd’ er gleich einer Drahtpuppe gezogen. Es hätte ihr ordentlich grauen können vor dem Paten, wenn die Mutter nicht zugegen gewesen wäre, und wenn nicht endlich Fritz, der sich unterdessen hineingeschlichen, ihn mit lautem Gelächter unterbrochen hätte. „Ei, Pate Droßelmeier“, rief Fritz, „du bist heute wieder auch gar zu possierlich, du gebärdest dich ja wie mein Hampelmann, den ich längst hinter den Ofen geworfen“ (94f.).
Die verschiedenen Facetten Maries
Marie wiederum trägt den gleichen Namen wie das in den Leseranreden angesprochene Mädchen, bei dem es sich offenbar um die Tochter des Verlegers Hitzig handelt, für die Hoffmann dieses Märchen als Weihnachtsgeschenk niedergeschrieben hatte. Außerdem gleicht Marie von ihrem Aussehen her der schönen Prinzessin Pirlipat. In einer Szene im Binnenmärchen wird allerdings angedeutet, dass Pirlipat selbst von Geburt an Ähnlichkeit mit einem Nussknacker hat: sie kam mit einem fertigen Gebiss auf die Welt und ernährt sich ausschließlich von Nüssen. Als sie durch den Fluch der Frau Mauserinks in einen hässlichen weiblichen Nussknacker verwandelt wird, nimmt sie der Uhrmacher Droßelmeier wie eine Maschine auseinander, um die Ursache für die Verwandlung zu ermitteln: „Er nahm Prinzeßchen Pirlipat sehr geschickt auseinander, schrob ihr Händchen und Füßchen ab, und besah sogleich die innere Struktur, aber da fand er leider, daß die Prinzessin, je größer, desto unförmiger werden würde, und wußte sich nicht zu raten und zu helfen. Er setzte die Prinzessin behutsam wieder zusammen, und versank an ihrer Wiege, die er nie verlassen durfte, in Schwermut“ (104). Marie vereinigt in sich die äußere Schönheit Pirlipats mit den inneren Eigenschaften der Treue, Güte und Liebe, die ihr es ermöglichen, den Nussknacker zu erlösen.
Der Mensch als Maschine
Allen drei Figuren, Nussknacker, Marie/Pirlipat und Droßelmeier, ist folglich gemeinsam, dass bei ihnen ein Übergang vom Organischen zum Anorganischen stattfindet, indem sie sich anscheinend in leblose Puppen verwandeln oder Menschengestalt erlangen. Seit Julien Offray de La Mettries Abhandlung L’homme machine (Der Mensch als Maschine, 1738; dt. 1875) hat der Gedanke, dass der Mensch wie eine Maschine funktioniert und dass man menschliche Wesen selbst konstruieren könnte, wenn man nur den dahinter stehenden Mechanismus durchschaut hat, Wissenschaftler, Mechaniker und Künstler fasziniert. Die Spielautomaten von Jacques de Vaucanson (ca. 1740), die Androiden von Pierre und Henri-Louis Jacquet-Droz, wie z.B. der berühmte Schreiber (1775), oder der Schachspieler (1782) von Johann Nepomuk Maelzel, waren Attraktionen, die das Publikum anzogen und die Debatte über die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Maschine erneut anfachten. In der Romantik wurde diese Thematik aufgegriffen, indem etwa Menschen wie Marionetten agieren oder von scheinbar lebendigen Automaten getäuscht werden, wie dies Hoffmann z.B. in seinen Erzählungen Der Sandmann (1816) oder Die Automate (1814) illustriert hat. Wenn Hoffmann in Nußknacker und Mausekönig auf diesen Diskurs zurückgreift, ist es möglich, die darin dargestellten Verwandlungen einerseits als Kritik an der Entfremdung des modernen Menschen zu deuten, andererseits aber auch Bezüge zu Ideen von Gotthilf Heinrich Schubert zur „Traumbildersprache“ zu erkennen. Sowohl in den Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) als auch in der Symbolik des Traumes (1814) (beide Schriften wurden nachweislich von Hoffmann gelesen) geht Schubert auf die Lebensphase Kindheit ein, indem er diese als „Vorstellung einer früheren vollkommeneren Menschheit“ charakterisiert. Gerade Kinder hätten deshalb eine besondere Befähigung, durch den Traum und die Einbildungskraft Zugang zum Unbewussten (= die Nachtseiten) zu erlangen. In der Sprache des Traumes und der Phantasie sei es besonders sensiblen Menschen, wozu neben Kindern noch Kranke und Künstler zählen, möglich, die Grenzen zwischen anorganischem und organischem Zustand zu überschreiten, leblose Gegenstände zu beleben und die „Doppelsinnigkeit“ der Welt zu erfassen.
Spielzeuggeschichte für Kinder
Mit der Darstellung des Entwicklungsprozesses eines Kindes und der Einbeziehung des Grauens überschreitet Hoffmann die Schwelle vom romantischen Kunstmärchen hin zur modernen Phantastik. Zugleich hat Hoffmann mit Nußknacker und Mausekönig dem Subgenre der Spielzeuggeschichte neue Impulse verliehen. Bis in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein dominierten Puppen- oder Spielzeuggeschichten, die ausschließlich didaktischen Zwecken dienten. Sie waren als fiktive Autobiographien konzipiert und schilderten den Umgang zwischen Spielzeug und Kind aus den Augen des Spielzeuges bzw. der Puppe. Die ältesten bekannten Texte wurden in England und Frankreich verfasst, wie z.B. The History of a Doll (1805) von Nancy Manwell oder Jeux de la poupée (anonym, 1806). In Deutschland setzte sich dieser Typ erst mit dem Buch Mémoires d’une poupée von Julie Gouraud durch, das 1839 in Paris veröffentlicht wurde und 1844 in deutscher Übersetzung mit dem Titel Memoiren einer Puppe erschien. Hierbei handelt es sich immer um Beispiel- bzw. Erziehungsgeschichten, die zum richtigen Umgang mit Spielsachen, aber auch zum einwandfreien moralischen Verhalten erziehen sollen (Kuznets 1994). Bei Hoffmann ändert sich die Darstellungsweise, indem das Geschehen nicht aus der Perspektive des Spielzeugs betrachtet und erzählt wird. Außerdem wird Spielzeug nicht mehr ausschließlich zu Lernzwecken eingesetzt, sondern seine Rolle für die psychische und kognitive Entwicklung des Kindes betont. Die Interdependenz von Kind und Spielzeug wurde erst Ende des 19. Jahrhundert wieder thematisiert und erreichte seinen Höhepunkt im 20. Jahrhundert mit den Kinderklassikern Winnie the Pooh (Pu der Bär, 1926; dt. 1928) von A.A. Milne, The Return of the Twelve (Die Zwölf vom Dachboden, 1956; dt. 1967) von Pauline Clarke oder Kleine Sofie en Lange Wapper (Die wundersame Reise der kleinen Sofie, 1984, dt. 1985) von Els Pelgrom.
Hoffmanns Reaktion auf die zeitgenössische Kritik
Hoffmanns Märchen löste wegen seiner innovativen kinderliterarischen Elemente einen Skandal aus. Schon die ersten zeitgenössischen Rezensionen sahen in dem von Hoffmann als „Kindermärchen“ bezeichneten Werk ein Indiz für die Unfähigkeit des Autors, für Kinder zu schreiben. Die Kritiker begründeten ihre Ablehnung mit dem Verweis auf die verschachtelte Erzählstruktur, die intertextuellen Anspielungen, die komplexe, mit Fremdwörtern versehene Sprache, die beunruhigende Darstellung des kindlichen Seelenlebens und den offenen Schluss (Ewers 1987). Aus Hoffmanns Korrespondenz mit seinem Verleger Georg Reimer geht jedoch hervor, dass er das Werk als geeignete Lektüre für Kinder verstand. Metatheoretische Reflexionen über den kinderliterarischen Status des Märchens legte Hoffmann seinem Alter Ego Lothar im ersten Band der Erzählsammlung Die Serapionsbrüder (1819) in den Mund. Zu diesem Zeitpunkt ist das Nußknacker-Märchen schon nicht mehr allein für Kinder vorgesehen. Als Mitglied im Bund der Serapionsbrüder erzählt Lothar das Märchen von Nußknacker und Mausekönig und verteidigt es gegen den Vorwurf der Zuhörer, dass Kinder die komplexe Erzählstruktur nicht verstehen würden: „Es ist [...] überhaupt meines Bedünkens ein großer Irrtum, wenn man glaubt, daß lebhafte fantasiereiche Kinder, von denen hier nur die Rede sein kann, sich mit inhaltsleeren Faseleien, wie sie oft unter dem Namen Märchen vorkommen, begnügen. Ei – sie verlangen wohl was Besseres und es ist zum Erstaunen, wie richtig wie lebendig sie manches im Geiste auffassen, das manchem grundgescheutem Papa gänzlich entgeht. Erfahrt und habt Respekt!“ (1999, 306). Mit dieser Aussage formuliert Lothar als Sprachrohr des Autors eine Poetik des Kindermärchens, die auf die Aufhebung der Grenze zwischen Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur zielt und damit theoretische Überlegungen des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. Auch wenn konzediert wird, dass Kindern die Bedeutung nicht in allen Einzelheiten erfassen können, wird ihnen aufgrund ihrer Phantasietätigkeit ein Zugang zum Werk eingeräumt, der möglicherweise sogar das Verständnis des erwachsenen Lesers übertreffe. Hinter diesen Ideen steckt Hoffmanns Konzept einer ideellen Kindheit, die nicht an die biologisch determinierte Lebensphase gebunden ist, sondern als unendliche Möglichkeit im Geiste bewahrt werden könne. Das sogenannte „serapiontische Prinzip“ gelte auch für Nußknacker und Mausekönig. Es besagt, dass die höhere Wirklichkeit, die von den normalen Menschen als Wahn angesehen werde, aus der visionären Kraft des Dichters entstehe. Die phantastische Welt der Einbildungskraft dürfe sich im Märchen jedoch nicht verselbständigen, sondern müsse mit der sie erzeugenden Wirklichkeit in Kontakt bleiben.
Entwicklung einer kinderliterarischen Poetik
Die kindliche Wahrnehmung und Phantasietätigkeit wird in den Mittelpunkt gestellt und nicht mehr als Fehlverhalten im Sinne der aufklärerischbürgerlichen Vernunft gedeutet. Mit dem Schluss wird darüber hinaus auf die Gefahren hingewiesen, denen „lebhafte fantasiereiche Kinder“ aufgrund des mangelnden Verständnisses ihrer Umgebung ausgesetzt sind. Mit Verweis auf das Vorbild Ludwig Tieck, dem die Verbindung von naivem Märchenton und ironisierender Darstellung gelungen sei, und der Rezeption des Märchens bei zwei kindlichen Lesern bezieht Hoffmann psychologische, rezeptionsorientierte und ästhetische Kriterien ein und betont den nur graduellen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen als Lesern. Sind Kinder aufgrund ihrer fehlenden literarischen Bildung gegenüber Erwachsenen im Nachteil, zeichnen sie sich durch kognitive Fähigkeiten aus, die dieses Defizit kompensieren. Der Autor spielt damit auf die in der Frühromantik postulierte Affinität zwischen Kindheit und Dichtertum an. Diese ermögliche es dem Kind, ein tieferes Verständnis eines Kunstwerkes zu erlangen. Hoffmann formuliert damit ein rezeptionsästhetisches Programm, das sich der Förderung der literarischen Kompetenz durch ästhetisch anspruchsvolle Kinderliteratur verschrieben hat. Zugleich weist er auf die Mehrfachadressiertheit seines Märchens hin, das von Kindern und von Erwachsenen mit Vergnügen gelesen werden könne. Auch aus diesem Grund hält Hoffmann daran fest, dass es sich bei Nußknacker und Mausekönig um ein Märchen für Kinder handele (Kümmerling-Meibauer 2003).
Rezeption in Deutschland
Trotzdem führte die vehemente Kritik an Nußknacker und Mausekönig dazu, dass Hoffmanns Kindermärchen in Deutschland bis in die 1950er Jahre hinein nicht mehr als geeignete Lektüre für Kinder angesehen und fast ausschließlich in Editionen für eine erwachsene Leserschaft abgedruckt wurde. Auch in der Hoffmann-Forschung ignorierte man jahrzehntelang den kinderliterarischen Status des Werkes und behandelte es so, als hätte Hoffmann es überhaupt nicht als Märchen für Kinder intendiert. Eine Renaissance erlebte das Werk mit Beginn der 1980er Jahre, als man in der Kinderliteraturforschung die Bedeutung des Werkes für die Entwicklung der phantastischen Kinderliteratur hervorhob. Seitdem kann man von einer Wiederentdeckung des Werks, das mittlerweile den Status eines Kinderklassikers erlangt hat, sprechen. Das zeigt sich u.a. daran, dass in Deutschland mehr als 30 verschiedene Ausgaben erschienen sind, die sich hinsichtlich des Textumfangs und der Illustration voneinander unterscheiden. Während nur wenige Ausgaben den Originaltext abdrucken, wurde er in den meisten Editionen sprachlich überarbeitet („modernisiert“) und zuweilen auch gekürzt, um das Märchen in ein Bilderbuchformat zu pressen. Selbst die letzten Passagen wurden teilweise umgeändert, um den ambivalenten Charakter des Schlusses aufzuheben.
Rezeption in Europa und den USA
Außerhalb des deutschsprachigen Raumes verlief die Rezeption jedoch gänzlich anders. Nußknacker und Mausekönig wurde in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und beeinflusste maßgeblich die Entwicklung einer kinderliterarischen Phantastik, die den Siegeszug mit Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (Alice im Wunderland, 1865; dt. 1869) antrat. Folgende, mittlerweile klassische Kinderbücher, basieren auf Ideen und Strukturmerkmalen von Hoffmanns Kindermärchen und verweisen teilweise intertextuell auf das literarische Vorbild: Hans Christian Andersen: Den lille Idas blomster (Die Blumen der kleinen Ida, 1835; dt. 1839), George Sand: Histoire du véritable Gribouille (Geschichte vom wahrhaften Gribouille, 1850; dt. 1987), John Ruskin: The King of the Golden River (Der König des Goldflusses, 1851; dt. 1869), George MacDonald: At the Back of the Northwind (Hinter dem Nordwind, 1871; dt. 1981), bis hin zu Edith Nesbits The House of Arden (Die Kinder von Arden, 1908; dt. 1959), Pamela Travers’ Mary Poppins (1934; dt. 1935) und Michael Endes Die Unendliche Geschichte (1979). In Deutschland weist Erich Kästners Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee (1931) zahlreiche inhaltliche und formale Parallelen mit Hoffmanns Märchen auf (Kümmerling-Meibauer 2008a). Alexandre Dumas übernahm Hoffmanns Märchen für seine Adaption L’histoire d’un casse-noisette (Geschichte eines Nussknackers, 1845; dt. 1978), die von vielen Forschern bis heute fälschlicherweise als getreue Übersetzung der Originalvorlage angesehen wird. Dieses Märchen geht durch die Anpassung an das großbürgerliche Milieu in Frankreich, die Abschwächung der Groteske, die Entrückung der realistischen Rahmenhandlung ins Märchenhafte und die Angleichung an die Tradition des französischen Feenmärchens sowie die geänderte Schlussfassung weit über eine bloße Übersetzung hinaus. Dumas’ Version wiederum hat durch ihre Übersetzung in andere Sprachen zeitweilig das Hoffmannsche Märchen verdrängt, wurde Vorlage für das berühmte Ballett Der Nußknacker (1892) von Peter Tschaikowski und führte aufgrund des Fehlschlusses, dass beide Märchen gleichsam identisch seien, auch zu Interpretationen, die die Modernität des Märchens von Hoffmann verkannten. Mittlerweile hat sich – vor allem im englischsprachigen Raum – ein Medienverbund etabliert, so dass der Stoff, der weiterhin Hoffmann zugeschrieben, aber größtenteils Dumas’ Version entnommen ist, in Form von Filmen (als Animationsfilm und als Realfilm), Hörspielen und Computerspielen vorliegt. Zur Kommerzialisierung haben vor allem die Disney-Version The Nutcracker (USA 1999; Regie: J. Winfield) und die als Film und Computerspiel produzierte Version Barbie and the Nutcracker (USA 2001; Regie: O. Hurley) beigetragen.
Rezeptionsgeschichte
Emmy von Rhodens Mädchenroman kann auf eine wechselvolle Rezeptionsgeschichte zurückblicken. Während das Werk bei der vorwiegend weiblichen Leserschaft auf großes Interesse stieß und infolgedessen ein Longseller wurde, der bis heute weiterhin aufgelegt wird, wurde es von Pädagogen und Literaturkritikern kontrovers diskutiert. Man warf dem Roman vor, dass er die weibliche Lesesucht fördere, an tradierten Rollenbildern festhalte und Wunschphantasien junger Mädchen und Frauen hervorrufe. Während Heinrich Wolgast dem Trotzkopf in seiner Schrift Das Elend unserer Jugendliteratur (1896) vorwirft, die Emanzipationssucht anzustacheln, stuften die Frauenrechtlerinnen Gertrud Bäumer und Helene Lange das Werk als „krankmachend“ ein (Wilkending 2003). Auch in den Literaturgeschichten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kam Rhodens Roman, der als Prototyp des Backfisch- oder Mädchenbuches angesehen wurde, nicht gut weg. Der deutschen Mädchenliteratur des 19. Jahrhunderts wird in Literaturgeschichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zwar ein großer Einfluss auf die gesellschaftlich-moralische Sozialisation von jungen Mädchen eingeräumt, auch ihr kulturhistorischer Stellenwert ist unbestritten, aber einen ästhetisch-literarischen Anspruch streitet man diesen Werken in der Regel ab. Aus ideologiekritischer Sicht stufte man den Trotzkopf als Inbegriff sentimentaler und schematischer Literatur ein und bemängelte vor allem, dass die weibliche Hauptfigur sich am Ende in ihre gesellschaftliche Rolle füge und damit das tradierte Klischee der Frau als Hausfrau, Ehefrau und Mutter bediene (Dahrendorf 1980a). Die Beschränkung auf die sozialisatorische Funktion des Werkes konnte vor allem nicht dazu beitragen, den großen Erfolg des Romans zu erklären. Erst seit Mitte der 1980er Jahre wurde Rhodens Roman von der Mädchenliteraturforschung rehabilitiert (Grenz 1981; Wilkending 1997). Seitdem gilt Der Trotzkopf neben Johanna Spyris Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880) als repräsentativer deutschsprachiger Mädchenroman des 19. Jahrhunderts.
Inhalt
Im Mittelpunkt des Romans steht die vierzehnjährige Halbwaise Ilse Macket, die eine unbeschwerte Kindheit auf dem Gutshof des Vaters verbringt und wie ein Junge aufwächst. Weil sie sich den Anordnungen der neuen Stiefmutter widersetzt, wird Ilse in ein Mädchenpensionat gegeben, um ihr dort eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen. Ilse schließt schnell Freundschaften mit den Mitschülerinnen, fällt allerdings durch ihr Ungestüm und jähzorniges Wesen auf. Als sie gegenüber der Schulleiterin mit einem Trotzanfall reagiert, wird der Schulverweis nur durch die Lehrerin Fräulein Güssow verhindert. Diese erzählt Ilse eine Warngeschichte von dem Mädchen Luzie, das durch sein trotziges Verhalten den Verlobten verschreckt habe und nun sein Dasein als Gouvernante fristen müsse. Dieses Beispiel vor Augen überwindet Ilse allmählich ihren Trotz und fügt sich in die Einübung ihrer zukünftigen weiblichen Rolle. Bei der Abschlussfeier spielt Ilse in einem Theaterstück die Rolle des „Trotzkopfes“. Auf der Rückfahrt zu den Eltern lernt sie den Gerichtsassessor Leo Gontrau kennen. Das Buch endet mit der Verlobung von drei Frauen. Ilses beste Freundin Nellie heiratet den Englischlehrer Dr. Althoff, Fräulein Güssow – die „Luzie“ aus der Warngeschichte – hat ihren früheren Verlobten, Ilses Onkel, wiedergetroffen, und Ilse verlobt sich mit Leo Gontrau.
Dreifache Bestimmung der Frau
Oberflächlich gesehen können der Plot und der Wandel Ilses von einem jungenhaft sich gebärdenden Mädchen zu einer wohlerzogenen jungen Dame als Bestätigung des Klischees von der dreifachen Bestimmung der Frau, wie sie bereits in Joachim Heinrich Campes Väterlicher Rath für meine Tochter (1789) formuliert wird, gesehen werden. Eine genaue Lektüre enthüllt jedoch die Brüchigkeit der tradierten Frauenrollen ebenso wie die innerfamiliären Spannungen und psychischen Konflikte der weiblichen Figuren. Die von der bürgerlichen Frauenbewegung aufgeworfenen Fragen nach der Bestimmung der Frau in der modernen Gesellschaft kommen virulent auch im Trotzkopf vor. Die Zukunftsungewissheit, die Entscheidung für Beruf oder Ehe und der Diskurs über die Entwicklung einer Geschlechtsidentität bestimmen in mehr oder minder deutlicher Form die Narration in Rhodens Mädchenroman.
Entwicklungsroman eines Mädchens
Die Hauptstationen, die den Werdegang der Hauptfigur Ilse Macket strukturieren, nämlich Trennung vom Vater, Aufenthalt im Pensionat, Begegnung und Verlobung mit dem Assessor Leo Gontrau, führen mit der neuartigen Verbindung von Trennungsgeschichte, Erziehungsgeschichte und Liebesgeschichte zur Bildung eines Genres, das von Wilkending (1997) als „Entwicklungsroman eines Mädchens“ bezeichnet wird. Rhoden nimmt gleichsam entwicklungspsychologische Erkenntnisse vorweg und hat mit ihrer Hauptfigur ein Muster vorgegeben, das für alle Nachfolgeromane und Mädchenbuchserien prägend war. Während Backfischromane wie Clementine Helms Backfischchen’s Leiden und Freuden (1863) sich an die Erzählstruktur der Wandlungs- und Umkehrgeschichte anlehnen, entfernt sich Rhoden von diesem Vorbild (lediglich die Warngeschichte über Luzie ist an diesem Erzählmodell orientiert) und bemüht sich um eine subtilere Psychologisierung der Hauptfigur. Der Entwicklungsprozess Ilses wird durch verschiedene narrative Strategien, wie multiperspektivisches Erzählen oder Subjektivierung der Figurenperspektive, veranschaulicht, zugleich werden widersprüchliche Zuordnungen und Aussagen nicht gänzlich aufgelöst, so dass diese zur Mehrdeutigkeit des Romans beitragen.
Darstellung der weiblichen Pubertät
Bereits mit dem Buchtitel weist von Rhoden auf ein wesentliches Merkmal der weiblichen Pubertät hin. Mit „Trotzkopf“ hat die Autorin in Analogie zur kleinkindlichen Trotzphase einen Begriff gewählt, der auf das Phänomen der Infantilisierung des Mädchens hinweist. Kennzeichnend für diese Phase sind ein freches, unangepasstes Verhalten, jungenhaftes Benehmen und eine Verweigerungshaltung. Zugleich ist dieser Begriff als Synonym für eine bestimmte weibliche Entwicklungsphase anzusehen, die entwicklungspsychologisch als weibliche Vorpubertät, zuweilen auch als „zweites Trotzalter“ bezeichnet wird. Bereits 1805 hatte sich der Spätromantiker Ernst Moritz Arndt in seiner Schrift Fragmente über Menschenbildung mit dem Wesen der weiblichen Pubertät auseinandergesetzt und als ihre Merkmale das „Kindlich-Verspielte“ des jungen Mädchens sowie seine Sprödigkeit gegenüber dem männlichen Geschlecht betont (Grenz 1981). Aber erst Rhoden ist es gelungen, die Ideen Arndts in einem Mädchenbuch umzusetzen. Sie stellt die psychische Entwicklung der weiblichen Figuren, die sich in der Phase der Pubertät befinden, in den Fokus. Infolgedessen handelt es sich weniger um eine Beispielgeschichte, wenn auch Elemente des Tugend-Laster-Schemas übernommen werden, sondern um eine psychologische Geschichte, in deren Mittelpunkt die Entwicklung eines jungen Mädchens steht (Zahn 1983; Wilkending 1997).
Charakterisierung der Hauptfigur
Der Titel des Buches weist schon unterschwellig auf das Interesse der Erwachsenen an der Überwindung dieser Phase und die Eingliederung des jungen Mädchens in die Gesellschaft hin. Auch wenn durch den Handlungsverlauf angedeutet wird, dass das Stadium der Trotzphase überwunden werden muss, gibt die Autorin durch die Charakterisierung der Hauptfigur doch deutlich ihre Sympathie für diese zu verstehen. Ilse dient als gelungenes Beispiel der praktizierten Methode. Anfänglich benimmt sie sich noch wie Junge, reitet auf dem Gut der Eltern umher, kümmert sich nicht um ihr Äußeres und verstößt gegen „weibliche“ Tugenden wie Sanftmut, Freundlichkeit und Selbstverleugnung. Als Ilses zentrale Eigenschaft wird ihr Trotz angesehen, wobei jede Form des Widerspruchs damit bezeichnet wird. Durch die Erziehung im Pensionat und das Verhalten ihrer Mitschülerinnen passt sie sich allmählich den Idealvorstellungen einer tugendhaften Frau an, die dabei ihre Natürlichkeit und Liebenswürdigkeit bewahren soll. Obwohl Ilse Macket Fehler begeht und nicht dem Idealbild eines tugendhaften Mädchens entspricht, wirkt sie mit ihrer Offenheit weitaus sympathischer auf den Leser als die Musterschülerin Rosa, die wegen der ihr fehlenden Natürlichkeit nicht mehr eine ausschließliche Vorbildfunktion besitzt. Ilse wird nicht aufgrund ihrer Tugenden, sondern aufgrund ihrer Fröhlichkeit, Kameradschaftlichkeit und ihres natürlichen Aussehens und Verhaltens geliebt. Selbst nach dem Aufenthalt im Pensionat bewahrt sie ihren rebellischen Charakter, der sich in dem Drang, Streiche zu spielen und in gelegentlichen Trotzanfällen äußert. Bei der Darstellung der psychischen Entwicklung Ilses, die anfänglich durch Distanz zur Stiefmutter und eine fast ödipale Bindung an den Vater bestimmt ist, greift Rhoden auf ein entwicklungspsychologisches Modell zurück, das erst um die Jahrhundertwende durch Sigmund Freud wissenschaftlich etabliert wurde. Die Gefühlsschwankungen Ilses, ihr Wechsel zwischen Unbekümmertheit, Trauer, Trotz, Scham und Stolz vermitteln ein anschauliches Bild der psychischen Verfassung eines jungen Mädchens, das sich in einer Umbruchsphase befindet. Dass sie gegenüber ihren Mitschülerinnen durch ihre Offenheit und Natürlichkeit gewinnt, wird in einem Vergleich Fräulein Güssows ersichtlich: „Sie verglich Ilse mit den übrigen und fand, daß sie nicht nur die hübscheste, sondern auch viel natürlicher und unbefangener war als die meisten andern. Ihr Wesen war frei von jeder Koketterie, offenherzig und fröhlich blickte sie mit großen Kinderaugen in die Welt“ (171). Dieser Beobachtung kommt deshalb eine Schlüsselrolle zu, weil Fräulein Güssow die Funktion einer positiven Identifikationsfigur für Ilse einnimmt. Zugleich spiegelt sich ihr früheres Schicksal (als Trotzkopf Luzie) im gegenwärtigen Entwicklungsstadium Ilses.
Einfluss des englischen Schülerromans
Das Besondere an Rhodens Werk ist außerdem die Darstellung einer geschlossenen Lebenswelt in einem Pensionat. In den früheren Backfischromanen für Mädchen spielte die Schule bzw. das Pensionat keine solche bedeutende Rolle wie in Rhodens Roman. Die Dreiteilung mit Beginn im Elternhaus, Aufenthalt im Internat und Rückkehr ins Elternhaus, die zugleich eine neue Lebensphase einleitet, ist ein typisches Kennzeichen des englischen Schülerromans. Ein Prototyp dieses Genres ist Thomas Hughes’ Tom Brown’s Schooldays (1857), der 1867 ins Deutsche übersetzt wurde und möglicherweise Rhoden bei ihrer Konzeption beeinflusst hat (Kümmerling-Meibauer 1999a). Auffallende Merkmale von Hughes’ Roman sind die Konzentration auf einen Weltausschnitt und das typische Figurenensemble, das nachfolgende Schülerromane prägte: so gibt es den moralisch entwicklungsfähigen Schüler, den Sportsmann, den Feigling, den Sensiblen, den verkannten Schüchternen, das versponnene Genie und den liberalen (oder autoritären) Schulleiter. Jedenfalls weist Rhodens Roman etliche Parallelen mit Tom Brown’s Schooldays auf: so etwa Dreiteilung der Handlung, Figurenensemble, Wechsel zwischen lustigen und ernsthaften Szenen, Aufführung eines Theaterstückes und Integration zahlreicher Dialoge.
Intertextuelle Anspielungen auf die deutsche Literatur
Darüber hinaus verleihen die eingefügten intertextuellen Anspielungen auf Werke der deutschen Literatur dem Roman eine größere Vielschichtigkeit. Genannt werden u.a. Goethes Werther, Ottilie Wildermuth, Jean Pauls Werke und Adelbert von Chamissos Gedichte. Während der Goethe-Roman als verbotene Lektüre bezeichnet wird, gehören die anderen Werke zum Lektürekanon für junge Mädchen. Obwohl mehrmals Vorbehalte gegen eine wissenschaftliche Ausbildung von Mädchen geäußert werden und auch die Lesesuchtdebatte angesprochen wird, wird auf die gründliche Lektüre ausgewählter Werke der deutschen Literatur durchaus Wert gelegt. Die Auswirkungen dieser Lektüre auf das Verhalten der Figuren werden ebenfalls thematisiert. Während etwa Flora Hopfstange sich vergeblich bemüht, ihren literarischen Vorbildern Jean Paul und den Dichtern der Empfindsamkeit nachzueifern, fühlt sich Ilse Macket zu Chamisso hingezogen. Den einzigen Satz, den Ilse nach der Begegnung mit Leo Gontrau in ihr Tagebuch schreibt, ist ein Chamisso-Zitat („Ich habe ihn gesehen“). Sie gibt damit einerseits ihre aufkeimenden Gefühle für Gontrau zu erkennen, bemerkt aber andererseits, dass sie sich eines Klischees bedient hat. Mit dieser Entscheidung bewahrt sich Ilse ihre Eigenständigkeit. Sie weigert sich, ihr Tagebuch als „Bekenntnisbuch“ zu verwenden (wie es in zahlreichen Mädchenratgebern empfohlen wurde) und sie lehnt es ab, auf abgegriffene Metaphern zurückzugreifen, wenn es um die Darstellung von Gefühlen geht. Diese intertextuellen Hinweise auf kanonische Werke der deutschen Literatur verdeutlichen das Bemühen der Autorin, an die bildungsbürgerliche Tradition und die zeitgenössische Debatte über den Unterricht an höheren Mädchenschulen anzuknüpfen.
Genderkonstruktionen
Obwohl als höchstes Lebensziel weiterhin die Heirat und das Dasein als Hausfrau und Mutter verkündet werden, zeigen sich in diesem Roman bereits Anzeichen einer geänderten Einstellung hinsichtlich der Ausbildung und Berufstätigkeit von Frauen. Vorherrschend bleibt zwar das Idealbild einer „höheren“ Tochter, die über einen gewissen Bildungsgrad verfügen soll, um mit ihrem Mann und den Gästen des Hauses eine geistreiche Konversation betreiben zu können, doch die Alternative, als (unverheiratete) Frau selbst den Lebensunterhalt als Lehrerin oder Gouvernante bestreiten zu müssen, wird mehrfach angedeutet. Auch wenn am Beispiel von Nellie und Fräulein Güssow die Berufstätigkeit nicht ausschließlich in ein positives Licht gestellt wird, zeigt sich deutlich, dass es neben der Eheschließung auch andere Alternativen gibt. Im Sinne des „Gender Crossing“ haben Frauen die Chance, einen Beruf zu ergreifen und damit eine vorwiegend männliche Domäne zu besetzen. Diese Situation kann allerdings auch dazu führen, „männliche“ Eigenschaften wie Autorität, nüchternes Denken oder sachlicher Umgangston zu übernehmen, wie sich an der Pensionatsleiterin Fräulein Reinmar ersehen lässt. Mit dem „Gender Crossing“ verbunden ist das Motiv des „Crossdressing“. Der Terminus beschreibt das Phänomen, dass sich Figuren sich so kleiden, wie es eigentlich nur dem anderen Geschlecht vorbehalten ist. Im Mädchenroman Trotzkopf ist dieser Aspekt bei Ilse ersichtlich, die sich anfangs wie ein Junge benimmt und zerrissene und fleckige Kleidung trägt. Ilse wird deshalb im Roman mehrmals mit einem Jungen verglichen. Das Motiv der „falschen“ Kleidung und des damit verbundenen „falschen“ Benehmens taucht als Leitmotiv mehrmals im Roman auf und wird immer wieder modifiziert. Der Höhepunkt ist die Theateraufführung, bei der Ilse die Rolle des Trotzkopfes spielt und ihre verborgenen Kleidungsstücke als Kostüm hervorholt.
Narrative Strategien
Ein weiteres innovatives Merkmal ist die Erzähltechnik. Bereits die berühmte Anfangsszene des Romans, der medias-in-res beginnt, stellt gewisse kognitive Anforderungen an den präsumtiven Leser. Die in dieser Szene auftretenden Figuren werden durch ihre Dialoge und kurze Beschreibungen des Äußeren charakterisiert. Der schon in dieser Anfangssequenz unterschwellige Konflikt zwischen Ilse und ihrer Stiefmutter wird durch die Reaktionen der anwesenden Gäste und die Mittlerrolle des Vaters angedeutet, ohne dass die Beweggründe explizit erläutert werden. Die zurückhaltenden Erzählerkommentare und das Überwiegen von Dialogen tragen nicht nur zur Anschaulichkeit der Darstellung, sondern auch zur Identifikation der Leserschaft mit der weiblichen Hauptfigur bei. Die pädagogischen Maximen sind geschickt in die Handlung und Dialoge integriert und verlieren dadurch ihren explizit belehrenden Charakter. Die pädagogischen Intentionen enthüllen sich in den eindringlichen Gesprächen und Gewissensappellen, wobei durch die Verschränkung personalen und auktorialen Erzählens die moralische Absicht nicht allzu deutlich akzentuiert wird. Durch die häufigen Dialoge, in denen sich die Mädchen sogar der zeitgenössischen Jugendsprache bedienen, wird dem Leser eine unmittelbare Teilnahme an den Schicksalen der Mädchen ermöglicht.
Jugendsprache
Die Pensionatsschülerinnen verwenden eine spezifische Ausdrucksweise, die durch feststehende Idiome und bestimmte Modewörter gekennzeichnet ist. Zu diesen Modewörtern gehören die Adjektive „furchtbar“ (19mal) – oft in Verbindung mit „öde“ oder scheußlich“ – „klassisch“ (6), „himmlisch“ (6), „famos“ (4) „primitiv“ und „entzückend“ (2). Diese Ausdrücke werden ausschließlich von den Mädchen verwendet und erhalten in ihren Dialogen auch eine neue Bedeutung, wie man beispielsweise an dem Wort „klassisch“ erkennen kann. Es kann etwas Geheimnisvolles andeuten („Wir haben es doch stets gewußt, wenn eine neue Schülerin ankam! Ich finde das, aufrichtig gesagt, klassisch!“ (122)); zur Charakterisierung eines perfekten, vollendeten Zustand dienen („Wie geschickt du bist […] Das hast du doch geradezu klassisch gemacht!“ (137)), eine besondere Eigenschaft betonen („Du bist klassisch!“ (160)) oder die Ahnungslosigkeit einer Person herausstellen („Sie sind aber klassisch!“ (248)). Es ist überliefert, dass Rhoden bei der Niederschrift ihres Romans auf Tagebuchaufzeichnungen ihrer Tochter, die Vorbild für die Hauptfigur war, über ihre Erlebnisse im Pensionat Möder bei Eisenach zurückgreifen konnte (Wilkending 2003). Folglich zeigt sich bei den Dialogen oder von den Mädchen verfassten Texten das Bemühen der Autorin, durch die verschiedenen Sprachregister ihrem Werk eine größere Authentizität zu verleihen. Diese Erzähltechnik war zur damaligen Zeit eine literarische Novität und sollte zur Identifikation mit der Hauptfigur anregen. Unterstützt wird der Eindruck des unmittelbaren Erzählens durch in den Text integrierte Tagebuchauszüge, Briefe und die literarischen Versuche Floras, die die Figurenperspektiven ergänzen. Jede Figur wird durch eine persönliche Sprech- und Schreibweise charakterisiert, die zu ihrer Individualisierung beiträgt.
Humoristische Wirkung
Der plötzliche Stilwechsel trägt neben der Darstellung lustiger Begebenheiten und der Typenkomik zur humoristischen Wirkung des Romans bei. Damit wird einerseits ein Gegengewicht zu den belehrenden Passagen geschaffen, andererseits die Ernsthaftigkeit der Probleme relativiert. Zu den lustigen Begebenheiten gehören u.a. die Streiche Ilses und Nellies, die Begegnung mit den Jungen in der Tanzstunde oder das heimliche Treffen der Schülerinnen im Garten des Pensionats. Die Typenkomik bezieht sowohl einige Erwachsene (Monsieur Michael, Miß Lead) als auch einige Schülerinnen ein. Diese verkörpern bestimmte Schülertypen, sind zum Teil aber durch die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften überzogen dargestellt (Flora Hopfstange, Rose, Melanie, Grete). Zur Komik tragen ferner die individuellen Sprech- und Schreibweisen der jungen Mädchen bei; neben Verwendung von Jugendjargon gehören hierzu die literarischen Versuche Floras, die Briefe Ilses an den Vater oder die grammatisch inkorrekte Verwendung der deutschen Sprache durch die Engländerin Nellie.
Neues Frauenbild
Darüber hinaus finden sich in Der Trotzkopf wiederholt widersprüchliche Aussagen, die dem Werk einen ambivalenten Charakter verleihen. Ein Widerspruch ist der nicht zu vereinbarende Gegensatz zwischen der Erziehung zur weiblichen Tugendhaftigkeit und dem gleichzeitigen Anspruch, die Natürlichkeit des weiblichen Wesens zu bewahren. Das Oszillieren zwischen Verweigerung und Anpassung macht den Reiz der Hauptfigur aus und ergibt sich aus der Verbindung zweier Frauenbilder und Erziehungsvorstellungen. Diese Ambivalenz wird mit der Metapher von der „frischen Waldblume“, mit der Ilses Aussehen und Verhalten beschrieben wird, umschrieben. Denn die mit dieser Metapher verbundenen Assoziationen wie natürliche Schönheit, Frische, Bescheidenheit und Jugendlichkeit werden als positive Attribute junger Mädchen angesehen. Zugleich konnotiert dieselbe Metapher den implizit angesprochenen Widerspruch zwischen Natur und Kunst, denn Ilse wird nicht mit einer Zierrose verglichen, sondern mit der in der freien Natur wachsenden Waldblume. Das Bedeutungsumfeld der Metapher erzeugt Bilder und Vorstellungen, die nur zum Teil mit dem weiblichen Tugendkatalog übereinstimmen. Sie machen stattdessen auf Eigenschaften Ilses aufmerksam, die sie in den Augen ihrer Umgebung als unverwechselbar und individuell charakterisieren. Ihre Individualität und ihr Bestreben, auch nach der Verlobung noch ihre privaten Interessen weiterzuverfolgen, entsprechen nicht dem weiblichen Ideal der Kaiserzeit. Vielmehr kündigt sich bereits ein Frauenbild an, das sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts allmählich durchsetzen konnte.
Ambivalenz der Einstellungen und offener Schluss
Die Ambivalenz zwischen Wunsch nach individueller Entfaltung und weiblichem Erziehungsideal kommt des Weiteren in der skeptischen Einstellung von Ilses Vater gegenüber seiner Tochter nach der Rückkehr aus dem Pensionat zum Vorschein. Während alle anderen Erwachsenen von der Wandlung Ilses angetan sind, vergleicht ihr Vater Ilses gegenwärtiges Auftreten mit demjenigen in der Vergangenheit und konstatiert mit leichtem Bedauern, dass ihm seine Tochter früher besser gefallen habe: „Ilse ist mir zu zahm geworden. Ich kann mir nicht helfen, aber mein unbändiges Kind, mit dem Loch im Kleid, gefiel mir besser, als die junge Dame im modischen Kleid.“ (262). Ebenso bewahrt der Schluss des Romans eine gewisse Offenheit, was das weitere Schicksal Ilses betrifft. In der Verlobungsszene wird ersichtlich, dass Ilse von widersprüchlichen Gefühlen dominiert ist. Sie lehnt den Antrag Gontraus zunächst ab, stimmt dann aber in Erinnerung an die Warngeschichte über Luzie doch zu. Dennoch verweigert sie Leo einen Kuss, während sie ihrem Vater ungestüm um den Hals fällt. Hier enthüllt sich die noch fehlende Einsicht Ilses in ihre neue Rolle (was dann auch in dem Folgeband Trotzkopfs Brautzeit thematisiert wird).
Fortsetzungen
Trotz der Kritik an der Verdrängung sozialer Fragen und der Oberflächlichkeit der Darstellung ließ sich der Erfolg dieses für seine Zeit modernen Mädchenromans nicht aufhalten. Da die Autorin noch vor dem Erscheinen der Erstausgabe verstorben war, wurden die Nachfolgebände von anderen Autorinnen verfasst. Else Wildhagen, die Tochter Emmy von Rhodens, schrieb Trotzkopfs Brautzeit (1892) und Aus Trotzkopfs Ehe (1895). Die holländische Schriftstellerin Suse la Chapelle-Roobol verfasste Trotzkopf als Großmutter (übersetzt von Anna Herbst, 1905). In Erwiderung auf diesen Band veröffentlichte Else von Wildhagen Trotzkopfs Nachkommen – ein neues Geschlecht (1930). Doris Mix verfasste Frau Ilse (1895) und von Marie von Felseneck stammen die beiden Bände Trotzkopfs Erlebnisse im Weltkrieg (1916) und Trotzkopf heiratet (1919). Keines dieser Nachfolgewerke hat die Originalität und sprachliche Qualität von Rhodens Trotzkopf erreicht.
Mädchenbuchserien
Der Trotzkopf wurde zum Vorbild für zahlreiche Mädchenbuchserien, die den Werdegang einer weiblichen Figur (von der Kindheit bis zur Eheschließung, manchmal sogar bis zum hohen Alter) schildern. Zu den beliebtesten Mädchenbüchern, die Motive und Struktur des Trotzkopfs aufgreifen, zählen die Serien über Nesthäkchen (1913ff.) von Else Ury, Pucki (1935ff.) von Magda Trott, Elke (1937ff.) von Elke Gündel, Gisel und Ursel (1952ff.) von Margarete Haller und Hummelchen (1963ff.) von Käthe Theuermeister.
Übersetzungen
In Abgrenzung zu diesen Werken schrieb die dänische Autorin Karin Michaelis ihre Bibi-Bücher (1930ff.), die auch in Deutschland einen großen Erfolg hatten. Obwohl der Trotzkopf in mehrere Sprachen, u.a. ins Englische und Niederländische übersetzt wurde, ist bisher kaum etwas darüber bekannt, inwiefern dieser Roman die Entwicklung anderer nationaler Mädchenliteraturen beeinflusst hat. Der Titel der englischen Übersetzung von Rhodens Roman Taminga Tomboy (1898) knüpft ersichtlich an die Tomboy-Tradition der amerikanischen Mädchenliteratur an (Abate 2008), zugleich kann er auch als Anspielung auf William Shakespeares Drama The Taming of the Shrew (Der Widerspenstigen Zähmung, 1594) eingestuft werden.
Entstehung
Nach einer viel zitierten Anekdote aus seiner Rede anlässlich der Verleihung der Hans Christian Andersen-Medaille im Jahr 1960 kam Kästner rein zufällig zur Kinderliteratur. Die Verlegerin Edith Jacobsohn vom Verlag Williams & Co (Berlin) hatte einige Texte Kästners, die er für die Kinderbeilage der Dresdner Zeitschrift Beyers für Alle geschrieben hatte, gelesen und forderte daraufhin den Autor auf, einen Roman für Kinder zu verfassen. Die Vorstellung, in einem renommierten Verlag veröffentlicht zu werden, bei dem schon berühmte Kinderklassiker von Hugh Lofting: The Story of Doctor Dolittle (Doktor Dolittle und seine Tiere, 1920; dt. 1928) und A.A. Milne: Winnie-the-Pooh (Pu der Bär, 1926; dt. 1928) in deutscher Übersetzung erschienen waren, war für Kästner so verlockend, dass er das Angebot annahm. Als Illustrator konnte Walter Trier gewonnen werden, der das berühmte gelbe Buchcover mit den beiden Jungen hinter der Litfasssäule gestaltete, das mittlerweile schon ikonischen Status genießt und die Buchgestaltungskunst der Weimarer Republik nachhaltig beeinflusste.
Inhalt
Der eigentlichen Geschichte wird eine zweifache Exposition vorangestellt. Im ersten Teil („Die Geschichte fängt noch gar nicht an“) reflektiert der Autor über die Entstehung seines Werkes. Der zweite Teil („Zehn Bilder kommen jetzt zur Sprache“) ist eine Bilderfolge mit Darstellungen der Figuren und Lokalitäten des Romans. Der dritte Teil („Die Geschichte fängt nun endlich an“) schildert anfänglich das Leben des Realschülers Emil Tischbein und seiner Mutter, die als Friseuse arbeitet, in Neustadt. Zum ersten Mal in seinem Leben unternimmt Emil eine Reise nach Berlin, um seine Großmutter zu besuchen und ihr 140 Mark zu überbringen. Emil schläft im Zug ein und bemerkt zu spät, dass ihm das Geld gestohlen worden ist. Er verdächtigt einen Mann namens Grundeis, der ihm im Abteil gegenüber gesessen hat. Im Bestreben, den Dieb nicht aus den Augen zu lassen, steigt Emil in Berlin am falschen Bahnhof aus und heftet sich an die Fersen des Mannes. Weil er in Neustadt ein Denkmal bemalt hat und deshalb Strafe befürchtet, traut er sich nicht, zur Polizei zu gehen. Als er Wache vor einem Cafe steht, lernt er den Jungen Gustav mit der Hupe und seine Bande kennen. Sie unterstützen als „Detektive“ Emil bei der Beschattung von Grundeis, indem sie einen Bereitschaftsdienst gründen. Als Grundeis das gestohlene Geld am nächsten Morgen bei einer Bank wechseln will, wird er von Emil und seinen Freunden gestellt. Auf der Polizeiwache stellt sich heraus, dass Grundeis ein gesuchter Bankräuber ist, für dessen Ergreifung eine Belohnung von 1.000 Mark ausgesetzt worden ist, die Emil erhält.
Innovative Aspekte des Kinderromans
Emil und die Detektive ist in vielerlei Hinsicht innovativ: der Roman hat dazu beigetragen, das neue Genre des Detektiv- bzw. Kriminalromans für Kinder zu etablieren und gilt zugleich neben Wolf Durians Kai aus der Kiste (1926) als der wichtigste Kinderroman der Neuen Sachlichkeit. Außerdem gehört Emil und die Detektive zu den ersten deutschsprachigen Kinderbüchern, die das Leben in der Großstadt fokussieren. Der Roman zeichnet sich durch ein neues Kindheitsbild aus, das die Selbstständigkeit und Überlegenheit des Kindes gegenüber Erwachsenen betont. Kästner zieht auch alle sprachlichen Register, indem er die Spannung durch humoristische und ironische Bemerkungen ausgleicht und nicht hochsprachliche Formen wie Dialekt und Jugendjargon integriert. Zur Modernität des Romans trägt wesentlich auch das Vorwort mit den zehn Bildern bei, mit dessen Hilfe der Autor eine kinderliterarische Poetik der Neuen Sachlichkeit entwickelt (Steck-Meier 1999).
Kinderliterarische Poetik der Neuen Sachlichkeit
Diese Poetik wird narratologisch im ersten Teil des Vorworts durch einen fiktiven Dialog zwischen einem Kellner namens Nietenführ und einem Ich-Erzähler, von Beruf Schriftsteller, der als „Herr Kästner“ angesprochen wird, vermittelt. Ganz im Sinne eines Streitgespräches werden hier Argumente und Gegenargumente ausgetauscht. Das Realismusprinzip, d.h. die Aufgabe, nur das darzustellen, was man kennt bzw. selbst erlebt hat, wird im weiteren Verlauf des Gesprächs durch weitere Prinzipien ergänzt, nämlich die Forderungen nach a) schriftstellerischer Kompetenz (der Beruf des Schriftstellers wird hierbei mit einem Handwerk und einer Dienstleistung verglichen), b) wissenschaftlicher Recherche, um sich Wissen über den Gegenstand anzueignen; c) aktuellem Gegenwartsbezug, d.h. Beschreibung des Lebens in einer Großstadt; und d) Beachtung des Rezeptionsprinzips, d.h. Wissen über die Interessen von Kindern. Dieses Streitgespräch wird durch die Einfügung komischer Beispiele und anschaulicher Metaphern sehr unterhaltsam vermittelt. Hierbei wird der kindliche Leser an den Diskurs der Argumentation herangeführt und kann entschlüsseln, welche Argumente den Schriftsteller letztendlich dazu gebracht haben, sich den Rat des Kellners zu Herzen zu nehmen und einen Großstadtroman für Kinder zu verfassen. Dass der ursprünglich geplante Südseeroman über das karierte Kannibalenmädchen Petersilie dann doch zwei Jahre später unter dem Titel Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee publiziert wurde, ist eine ironische Volte, die sich allerdings nur demjenigen offenbart, der diesen Roman kennt.
Metafiktion und Interaktion
Der zweite Teil des Vorwortes beschreibt detailliert, wie ein literarischer Text entsteht: von der Suche nach einer Idee über die Sammlung von Einfällen bis hin zur Skizzierung des Inhalts. Dabei wird zugleich veranschaulicht, welcher Strategien sich der fiktive Ich-Erzähler bedient, um auf eine zündende Idee zu kommen. Hierzu gehören Perspektivenwechsel (Vogelperspektive durch den Blick vom Fenster auf die Straße, dann Froschperspektive durch den Blick des auf dem Fußboden liegenden Erzählers auf die Tischbeine); Assoziationsketten (Beine des Tisches sehen wie Waden aus, erinnern an Jungenbeine, dann Einfall des Namen „Tischbein“) und der Topos der Erinnerung (Erinnerung an Zeitungsartikel über Jungen Emil Tischbein, den der Erzähler selbst verfasst hat). Das Sammeln der Einfälle wird mit einer Szene aus einem expressionistischen Stummfilm verglichen. So wie einem Mann in diesem Film die einzelnen Kleidungsstücke zufliegen, so muss ein Autor die Heterogenität der einzelnen Teile bzw. Ideen in eine kohärente Form bringen. Im zweiten Teil des Vorworts findet folglich eine Metareflexion über die Entstehung und Konzeption von Geschichten bzw. Texten statt. Das Vorwort schließt mit der Aufforderung an den Leser zur aktiven Mitarbeit ab. Er erhält nämlich die Aufgabe, sich anhand der nachfolgenden zehn Bilder – wie beim Baukastenprinzip – die Geschichte selbst zusammenzureimen. Die zehn Bilder, die an Filmstills oder Reklamefotos aus Kinos erinnern, stellen die wichtigsten Figuren und Schauplätze des nachfolgenden Haupttextes vor. Jedes Bild wird durch einen Titel und einen erklärenden Text gerahmt.
Verhältnis von Reali tät und Fiktionalität
Durch die Verbindung von Vorwort und Haupttext ergeben sich darüber hinaus zwei weitere Aspekte, die zur Komplexität des Werkes beitragen. Ein Aspekt hat mit der Namensgleichheit von Autor, Erzähler im Vorwort und einer Figur im Roman selbst zu tun. Der Erzähler wird vom Kellner als „Herr Kästner“ angeredet, der Journalist, der Emil in der Straßenbahn aushilft und ihn später für die Zeitung interviewt, stellt sich ebenfalls als „Herr Kästner“ vor (Ewers 2002a). Über die Namensgleichheit ergibt sich noch ein weiterer Anknüpfungspunkt durch die Mitteilung im Vorwort, dass sich der Erzähler an den Zeitungsartikel über Emil Tischbein erinnere. Damit wird impliziert, als wären Journalist und Erzähler dieselben Personen. Zugleich wird auch angedeutet, dass die Geschichte offenbar tatsächlich passiert sei, denn sonst könne sich der Erzähler ja nicht an den Artikel erinnern. Nicht nur, dass hier das Verhältnis von Realität und Fiktionalität angesprochen wird, sondern zugleich deutet sich hier ein Zirkelschluss an: der Erzähler des Vorwortes behauptet, einen Roman zu erzählen, dessen Handlung sich tatsächlich ereignet habe und deren Verlauf ihm von Emil persönlich berichtet worden sei. In Wirklichkeit ist auch diese Behauptung Bestandteil der Fiktion.
Detektivroman für Kinder
Mit dem dritten Teil beginnt die Detektivgeschichte. Das Verbrechen wird dabei nicht direkt, sondern als Traumsequenz geschildert. Thematisiert werden im Roman vor allem die Folgen des Diebstahls für das Opfer Emil, der sich gezwungen sieht, die Detektivrolle zu übernehmen. Da der Täter von vornherein bekannt ist, bezieht sich die Spannung der Handlung vor allem auf die Verfolgung des Diebes durch Berlin.
Darstellung der Großstadt
Neben der Bedeutung des Detektivmotivs ist vor allem die Darstellung der Großstadt als Handlungsort hervorzuheben. Vorläufer waren hierbei Heinrich Scharrelmanns Berni-Geschichten (1908ff.), Hans Dominiks John Workman, der Zeitungsboy (1909), Carl Dantz’ Peter Stoll. Ein Kinderleben (1925) und Wolf Durians Kai aus der Kiste (1926). Während sich der Aktionsradius von Kindern bislang eher auf Haus, Garten, Dorf und nähere Umgebung beschränkte, führt der Weg von der idyllisch geschilderten Provinz in die anonyme Großstadt. Zwischen der Abreise aus dem gemütlichen überschaubaren Neustadt, das sogar noch über eine Pferdebahn verfügt, und der Ankunft in Berlin liegt die Bahnfahrt Emils, deren Schilderung sich über zwei Kapitel hinzieht. Diese Fahrt ist für den weiteren Handlungsverlauf insofern wichtig, als hier nicht nur der Diebstahl während eines Alptraums von Emil passiert, sondern der Dieb Grundeis dem Jungen und den anderen Passagieren im Abteil auch eine surrealistisch anmutende Schilderung Berlins zum Besten gibt:
„Na, da wirst du aber staunen! In Berlin gibt es neuerdings Häuser, die sind hundert Stockwerke hoch, und die Dächer hat man am Himmel festbinden müssen, damit sie nicht fortwehen… Und wenn es jemand besonders eilig hat, und er will in ein andres Stadtviertel, so packt man ihn auf dem Postamt rasch in eine Kiste, steckt die in eine Röhre und schießt sie, wie einen Rohrpostbrief, zu dem Postamt, das in dem Viertel liegt, wo der Betreffende hin möchte … Und wenn man kein Geld hat, geht man auf die Bank und läßt sein Gehirn als Pfand dort, und da kriegt man tausend Mark. Der Mensch kann nämlich nur zwei Tage ohne Gehirn leben; und er kriegt es von der Bank erst wieder, wenn er zwölfhundert Mark zurückzahlt“ (47f.).
Perspektivenwechsel
Diese Beschreibung Berlins durch Grundeis und der Traum, in dem mehrfach auf die Übertreibungen von Grundeis angespielt wird, sind Textpassagen, die nicht der Neuen Sachlichkeit, sondern dem Expressionismus zugeordnet werden können und Kästners literarische Vielseitigkeit unter Beweis stellen. Zugleich zeigt sich in der Reaktion Emils deutlich seine ambivalente Gefühlslage. Einerseits ist er neugierig und erwartungsvoll, andererseits unsicher und verängstigt. In dieser emotionalen Situation wird Emil nach dem Aufwachen mit dem Diebstahl des Geldes konfrontiert. Er reagiert zunächst völlig kopflos und panisch, besinnt sich dann aber und fällt in Windeseile den Entschluss, den Dieb, den er beim Blick aus dem Abteilfenster zufällig auf dem Bahnsteig des Berliner Bahnhofes „Zoologischer Garten“ entdeckt, zu verfolgen. Die erste Begegnung mit der Stadt Berlin ist folglich mit einer mehrfachen Stresssituation verbunden. Emil weiß, dass er am falschen Bahnhof ausgestiegen ist (er wird am Bahnhof Friedrichstraße von den Verwandten erwartet), dass er sich in der Stadt nicht auskennt und dass er allein die Verfolgung des Diebes auf sich nehmen muss, immer auf der Hut, nicht von diesem entdeckt zu werden. Der Wechsel zwischen Innensicht und Handlung bestimmt die nachfolgenden Kapitel. Die Gedanken Emils, seine Befürchtungen und seine visuellen Eindrücke von Berlin wechseln mit kurzen Passagen, in denen seine Aktionen beschrieben werden:
„Wo war der steife Hut? Der Junge stolperte den Leuten vor den Beinen herum, stieß wen mit dem Koffer, rannte weiter. Die Menschenmenge wurde immer dichter und undurchdringlicher. Da! Dort war der steife Hut! Himmel, da drüben war noch einer! Emil konnte den Koffer kaum schleppen. Am liebsten hätte er ihn einfach hingestellt und stehenlassen. Doch dann wäre ihm auch der noch gestohlen worden!“ (66).
Psychischer Gefühlszustand eines Kindes
Die Verbindung von Emils gehetztem Blick, seinen Gedankenfetzen, seiner durch das Menschengewühl eingeschränkte Wahrnehmung vermitteln ein anschauliches Bild von dem inneren Aufruhr des Jungen. Die Reizüberflutung, der er auf dem Weg durch die Bahnhofshalle zur Straßenbahnhaltestelle ausgesetzt wird, wird durch die Verknüpfung visueller (Leuchtreklame, Menschenmenge, Autos, hohe Gebäude), akustischer (Verkehrslärm, Geschrei) und haptischer (schwerer Koffer) Eindrücke verstärkt. Begleitet sind diese Eindrücke von Emils Gefühl der Hilflosigkeit und Angst. Einerseits traut er sich nicht, Erwachsene um Hilfe zu bitten, weil er befürchtet, dass ihm nicht geglaubt wird. Andererseits kennt er sich in Berlin überhaupt nicht aus und ist nur von dem Drang getrieben, den Dieb nicht aus den Augen zu verlieren. Die Furcht vor den Erwachsenen wird gleich an drei Stellen thematisiert: als Emil den Bahnhof verlässt und sich scheut, eine Dame anzusprechen, als er feststellt, dass er kein Geld bei sich hat, um eine Fahrkarte zu kaufen, und als er in der Straßenbahn ein Gespräch über Betrug belauscht. Selbst ein freundlicher Mann, der ihm das Geld für die Fahrkarte schenkt, wendet sich gleich wieder von ihm ab und vertieft sich in seine Zeitung. Das Gefühl der Verlassenheit kulminiert schließlich in der Aussage: „Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. Und kein Mensch wollte wissen, warum er kein Geld hatte, und warum er nicht wußte, wo er aussteigen sollte. Vier Millionen Menschen lebten in Berlin, und keiner interessierte sich für Emil Tischbein. Niemand will von den Sorgen des andern etwas wissen. […] Was würde werden? Emil schluckte schwer. Und er fühlte sich sehr, sehr allein“ (74f.). In diesem Passus wird auf die Anonymität und die Entfremdung des Menschen in der Großstadt explizit hingewiesen. Emil empfindet die ihm ungewohnte Situation als bedrohlich, weil er sich nicht in Ruhe auf die neuen Umstände einlassen kann („Emil hätte sich gern alles in größter Ruhe betrachtet. Aber er hatte keine Zeit dazu“ (70)) und weil er – im Vergleich zu seiner Heimatstadt, wo jeder jeden kennt – bemerkt, dass die Menschen sich nebeneinander her bewegen und keinerlei Interesse für seine Sorgen zeigen. Gerade dieser Romanteil, beginnend mit der Schwellenüberschreitung im Bahnhof und endend mit dem Beobachterposten hinter dem Kiosk, hebt die ambivalenten Gefühle und Gedanken Emils angesichts der auf ihn einströmenden Eindrücke in der Großstadt hervor (Kümmerling-Meibauer 2007b).
Stadt als sozialer Ort des Lernens
Das dominante Gefühl der Unsicherheit und Befremdung weicht von Emil erst, als er Gustav und seine Bande kennenlernt und diese ihn bei der Verfolgung des Diebes unterstützen. Ab diesem Moment, als er sich auf die Stadtkenntnis der anderen Jungen verlassen kann und nicht mehr allein Entscheidungen treffen muss, ist er in der Lage, Berlin mit anderen Augen zu betrachten. Die Verfolgungsjagd mit dem Taxi wird dabei nicht mehr aus der Perspektive Emils, sondern von einem extradiegetischen Erzähler geschildert. Durch die exakte Wegbeschreibung und die Nennung von Straßennamen und Plätzen ist der Leser in der Lage, den Weg Emils und der Detektive vom Bahnhof Zoologischer Garten bis zum Hotel Kreid am Nollendorfplatz nicht nur in Gedanken nachzuvollziehen, sondern er könnte ihn sogar anhand eines Berliner Stadtplanes detailliert verfolgen. Dieses „Prinzip der Verräumlichung“ (Karrenbrock 1995) ermöglicht es den Kindern erst, ohne ständige Kontrolle der Erwachsenen selbstständig zu agieren. Die Straße fungiert als sozialer Ort des Lernens, wobei die Stadt durch die filmische Erzählweise (rascher Szenenwechsel, Wechsel der Perspektiven, Dynamik der Handlung) als Handlungsspielraum erfahren wird. In der Großstadt lernt Emil Gefahren zu erkennen, rational zu denken und mit einer Gruppe Gleichaltriger zusammenzuarbeiten. Dass Emil nunmehr fasziniert, ja „verzaubert“ von Berlin ist, geht aus der nächtlichen Beschreibung der Stadt hervor: „Es war schon dunkel geworden. Überall flammten Lichtreklamen auf. Die Hochbahn donnerte vorüber. Die Untergrundbahn dröhnte. Straßenbahnen und Autobusse, Autos und Fahrräder vollführten ein tolles Konzert. Im Café Woerz wurde Tanzmusik gespielt. […] Der Junge war bezaubert und gerührt. Und er vergaß beinahe, wozu er hier stand und daß ihm hundertvierzig Mark fehlten“ (111f.). Berlin verliert seine bedrohliche und einschüchternde Wirkung und nach der Verhaftung des Diebes findet Emil sogar, dass die Stadt und der Nollendorfplatz „viel harmloser und gemütlicher“ (153) aussehen, als er sie anfänglich wahrgenommen hatte. Diese letzte Beschreibung Berlins aus der Innenperspektive Emils macht nochmals explizit den Wandel in der Sichtweise des Jungen deutlich. Mit den Adjektiven „harmlos“ und „gemütlich“ nimmt er der Großstadt nicht nur den Schrecken, sondern stellt indirekt auch einen Bezug zu seinem Heimatort Neustadt her. Dennoch relativiert Emil in einem Gespräch mit dem Professor seine Begeisterung für Berlin. Er vergleicht Neustadt mit Berlin und stellt fest, dass ihm die Überschaubarkeit der Kleinstadt mehr behagt als die Unübersichtlichkeit der Großstadt, in der er sich letztendlich doch nicht heimisch fühlen und sich ständig verlaufen würde (Weinkauff 1999).
Filmische Erzählweise
Neben der einfühlsamen Darstellung des psychischen Gefühlszustandes eines Kindes zeichnet sich der Roman außerdem durch eine filmische Erzählweise aus. Bereits die Bildersequenz am Anfang, die an Standphotos für Kinoreklame erinnert, greift das Filmmotiv auf, auf narrativer Ebene zeigt sich der Einfluss des Films durch die Einfügung rascher Szenenwechsel und den Wechsel der Perspektiven, die wesentlich zur Dynamik der Handlung beitragen. Die Verbindung von Großstadt mit Abenteuer und neuen, faszinierenden Eindrücken wird zusätzlich durch die mehrfach in den Text eingefügten Kinovergleiche betont. Wenn Gustav nach der Schilderung des Diebstahls ausruft: „Na Mensch, das ist ja großartig! […] das ist ja wie im Kino!“ (84), verkennt er einerseits die Brisanz der Lage, denn der Diebstahl ist in den Augen Emils keineswegs „großartig“, andererseits hebt er den durch Kinofilme beeinflussten Blick auf die Ereignisse hervor. Die Kinder möchten gern ein Abenteuer wie im Kino erleben und schließen sich deshalb zur Detektivbande zusammen, um gemeinsam – ohne die Hilfe von Erwachsenen, die ihnen dieses Abenteuer verwehren würden – den Fall zu lösen. Während Petzold aufgrund seiner Kenntnis von „zweiundzwanzig Kriminalfilmen“ (93) wenig hilfreiche Vorschläge macht, sind die anderen Bandenmitglieder vernünftig genug, nicht alles, was sie im Kino gesehen haben, auch in die Tat umzusetzen. Dennoch kommt die Kinometaphorik nochmals in zwei Textpassagen vor. Emils Kusine Pony Hütchen sagt zur Begrüßung Emils gleich: „Also, Emil, du Rabe, […] kommt nach Berlin und dreht gleich ’nen Film!“ (107). Auch Emil erliegt kurzfristig dem Rausch der Großstadt und gesteht: „Berlin ist natürlich großartig! Man denkt, man sitzt im Kino“ (112), konzediert danach aber sofort, dass er doch lieber nicht in Berlin leben möchte. Diese Vergleiche betonen nicht nur die Vertrautheit der Kinder mit dem neuen Medium Kino, sondern auch die distanzierte Wahrnehmung der Ereignisse. Sie erleben die Aktionen so, als würde vor ihren Augen ein Film ablaufen und sie wären zufälligerweise die Akteure darin. Damit betont der Autor den Unterschied zwischen dem Detektivabenteuer der Kinder und ihrem gewöhnlichen Alltagsleben (Tost 2005).
Kindheitsbild
Kästner kritisiert zugleich das Ideal des gehorsamen Kindes, wie es noch in der Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts tradiert wurde, und schafft einen neuen Kindertypus, der sich durch Klugheit, Kooperationsbereitschaft und Selbstständigkeit auszeichnet. Die Selbsterziehung der Kinder wird dabei über die Kommunikation miteinander und die Aufstellung eines „Kinderparlaments“ („wir wollen wie im Reichstag abstimmen“ (116)) verdeutlicht. Die Diskussion zwischen dem Professor und den anderen Bandenmitgliedern über Recht und Unrecht versinnbildlicht, dass moralische Werte über Argumente vermittelt werden sollen. Mit der Integration öffentlicher Institutionen (Polizei, Presse), die Emil bei der Wahrheitsfindung behilflich sind, verdeutlicht Kästner – angesichts der Krisensituation in der Weimarer Republik – sinnfällig seine demokratische Auffassung (Schikorsky 1995).
Utopische Aspekte
Bei allem Realismus der Darstellung trägt der Roman auch utopische Züge, wozu die Idealisierung des kleinbürgerlichen Milieus (mit den Forderungen nach Anstand, Zuverlässigkeit und Sparsamkeit), die Darstellung Emils als Musterknaben und das doppelte Glück am Ende zu rechnen sind. Gerade die ersten beiden Aspekte offenbaren die autobiographischen Bezüge zu Kästners eigener Kindheit. Seine Mutter war ebenfalls Friseuse und musste die Familie ernähren, als der Vater seine Sattlerei aufgeben musste. Die Verehrung Kästners für seine Mutter und der Wunsch, ihr zuliebe gute Schulleistungen zu erbringen, werden in der Beziehung zwischen Emil und seiner Mutter gespiegelt. Zudem glaubte Kästner mehr an die moralische Integrität von Kindern als von Erwachsenen und sieht in ihnen die Hoffnungsträger für eine humanere Gesellschaft. Der Lebensoptimismus der Figuren soll den kindlichen Lesern Mut machen und sie anregen, sich für sozial Schwache und deren Rechte einzusetzen.
Sprachliche Merkmale
Neusachlich sind in Emil und die Detektive aber nicht nur die Motive (Großstadt, Verkehr, Tempo, Kino, Anonymität des Einzelnen in der Masse), die filmische Erzählweise, die Umsetzung des Realismus-Prinzips, der Zeitbezug und die Konzeption eines neuen Kindheitsbildes, sondern auch die sprachlichen Mittel. Neben den Leseranreden („Könnt ihr begreifen und werdet ihr nicht lachen, wenn ich euch jetzt erzähle, daß Emil ein Musterknabe war?“ (37)) gehören hierzu die Dialektausdrücke und der von den Kindern verwendete Jugendjargon. Auch hierdurch grenzt sich Kästner von den Forderungen vieler Kritiker ab, in Kinderbüchern ausschließlich Hochsprache zu verwenden. Formulierungen wie „jemanden für dußlig halten“, „quatsch dir keine Fransen“, „jemanden hopp nehmen“ oder „in die Klappe trollen“ und Ausdrücke wie „kolossal“ oder „dämlich“ sind dem zeitgenössischen Jugendjargon entnommen, während die Jungen aus der Detektivbande und Emils Großmutter typische Berliner Dialektausdrücke verwenden („Du kriegst die Motten!“, „Quatsch nicht Krause!“). Damit kommt Kästner dem Streben nach möglichst großer Authentizität hinsichtlich der Charakterisierung der Figuren nach, indem er sich bemüht, den Kindern und Erwachsenen auch durch ihren Sprachgebrauch Individualität zu verleihen. Die lustigen Formulierungen und die Diskrepanz zwischen sachlicher Darstellung und Jargonausdrücken tragen wesentlich zum Humor des Kinderromans bei. Ein wichtiger Bestandteil des Kästnerschen Humors sind darüber hinaus die ironischen Bemerkungen und schlagfertigen Dialoge, die teilweise schon Situationskomik aufweisen, so etwa beim Gespräch zwischen Emil und Kriminalwachtmeister Lurje, der Emils Nachnamen nacheinander als Stuhlbein, Fischbein und Überbein angibt und auf die Einwendungen Emils, dass er doch „Tischbein“ heiße, mit frechen Sprüchen „Jacke wie Hose“ oder „Auch’n ganz hübscher Name“ kontert (142f.).
Vergleich mit Kästners Roman Fabian
Emil und die Detektive weist zahlreiche inhaltliche und strukturelle Gemeinsamkeiten mit Kästners Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) auf. Auf den ersten Blick scheinen beide Romane gegensätzliche Weltanschauungen zu vertreten. Fabian wird von einem Gefühl der Ohnmacht und moralischen Verzweiflung dominiert, während in Emil und die Detektive eine optimistische Weltsicht vorherrscht. Aber dieser offensichtliche Gegensatz relativiert sich bei eingehender Betrachtung. In beiden Romanen trifft man auf das bedeutende Motiv des Kindes als Symbol der Hoffnung, eine weitere Gemeinsamkeit sind die ironisch gemeinten moralischen Schlussfolgerungen, die in den letzten Romankapiteln verkündet werden. Darüber hinaus sind beide Werke noch durch weitere thematische und narrative Aspekte verzahnt: topographische Darstellung (Kleinstadt, Großstadt Berlin), die wichtige Funktion eines Traumes, der dem Leser Aufschluss über die Gefühle der Hauptfigur gibt, sowie die Anfangs- und Schlussgestaltung (Kümmerling-Meibauer 1999b).
Die Anonymität der Großstadt, der Lärm und der Verkehr in Berlin werden in beiden Werken thematisiert. Die Hilflosigkeit der jeweiligen Hauptfiguren, die sich in der Menge verloren fühlen, wird durch eine filmische Erzählweise, die sich in schnellen Szenenwechseln und häufigem Wechsel der Perspektiven manifestiert, hervorgehoben. Die gegensätzliche Entwicklung der Hauptfiguren wird vor allem durch den von ihnen unternommenen Ortswechsel evident. Emil verlässt die Kleinstadt und wird in Berlin mit neuen Erfahrungen konfrontiert. Fabian dagegen kehrt nach mehreren Jahren in Berlin in seinen Heimatort zurück, findet aber auch dort keinen Halt angesichts seiner zunehmenden Desillusionierung. Ein Vergleich beider Romane enthüllt folglich zwei unterschiedliche Einstellungen gegenüber der Gesellschaft und dem Leben: in Fabian werden die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Weimarer Republik schonungslos aufgedeckt, in Emil und die Detektive dominiert eine utopische Weltsicht, indem ein Modell einer Kinderrepublik konstruiert wird, in der die politischen Ideen der Weimarer Republikverwirklichtwerden.
Bedeutung der Träume
Ein anderer Anknüpfungspunkt ist die zentrale Rolle der Träume. In seinem Traum im Zug verarbeitet Emil die Ereignisse der letzten Tage: seine Angst vor der Polizei, seine Neugier über Berlin, seine Sorge um das Geld und die Sehnsucht nach der Mutter. In einer krisenhaften Situation verarbeitet auch Fabian seine Sorgen und Ängste in einem langen Traum, der von der Suche nach Freundschaft und Liebe sowie dem Sinn des Lebens bestimmt ist. Beide Träume, die mit ihren surrealistischen Passagen an den Expressionismus und den deutschen Stummfilm erinnern und durch die Ergebnisse der Psychoanalyse geprägt sind, können als psychologische Porträts der Hauptfiguren gedeutet werden.
Anfangs- und Schlussgestaltung
Moderne Erzähltechniken bestimmen auch die Anfangs- und Schlussgestaltung der Werke. Zu Beginn wird jeweils ein Dialog zwischen dem Erzähler (Emil und die Detektive) bzw. der Hauptfigur (Fabian) mit einem Kellner namens Nietenführ geführt, der um Rat gebeten wird. Während Fabian sich nicht an den Rat des Kellners hält und eine Vergnügungsstätte von zweifelhaftem Ruf aufsucht, entschließt sich der Ich-Erzähler in Emil und die Detektive, den Rat Nietenführs zu befolgen und statt eines phantastischen Südseeromans einen Großstadtroman für Kinder zu verfassen. Die Schlusskapitel sind durch ein doppeldeutiges Ende gekennzeichnet. Mit der Kapitelüberschrift „Läßt sich daraus etwas lernen?“ spielt Kästner in Emil und die Detektive auf die Erwartung an, dass ein Kinderbuch mit einer moralischen Botschaft enden sollte. So machen Emil und seine Mutter auch zwei verschiedene Vorschläge, als ihnen diese Frage gestellt wird. Die Großmutter lehnt beide ab und schlägt als Regel vor: „Geld soll man per Postanweisung schicken!“ (173). Diese pragmatische Lösung widerspricht der Erwartung einer allgemeinen moralischen Regel. Zugleich deutet sich hier ein Zirkelschluss an. Wenn Emils Mutter das Geld per Postanweisung geschickt hätte, hätte Emil nicht das Abenteuer in Berlin erlebt und demzufolge auch nicht die Belohnung erhalten. Auch in Fabian wird die ambivalente Bedeutung des Endes bereits in der Kapitelüberschrift angezeigt: „Lernt schwimmen!“. Dieser Titel hat eine zweifache Bedeutung: einerseits kann er auf den Tatbestand hindeuten, dass man selber schwimmen können muss, bevor man einen Ertrinkenden rettet, andererseits referiert er auf die idiomatische Wendung „mit/gegen den Strom schwimmen“. In beiderlei Hinsicht scheitert Fabian, denn er kann weder schwimmen noch fügt er sich in die Gesellschaft ein. Dem traurigen Ende Fabians, der bei beim Versuch, ein in den Fluss gefallenes Kind zu retten, ertrinkt, steht jedoch ein glückliches Ende gegenüber: das Kind überlebt. Die Ironie von Fabians unnötigem Tod ergibt sich aus der Tatsache, dass das Kind eigentlich nicht gerettet zu werden braucht, denn es kann – im Gegensatz zu Fabian – schwimmen.
Kind als Symbol der Hoffnung
Wenn man diese Beobachtungen weiterführt, so erkennt man, dass beide Romane von einer utopischen Idee bestimmt sind, nämlich dem Kind als Symbol der Hoffnung. Dies wird direkt in Emil und die Detektive und indirekt in Fabian ausgedrückt. Kästner, der sich der Aufklärung verpflichtet fühlte, hielt Werte wie moralische Integrität, Gerechtigkeit, demokratisches Verhalten und Solidarität hoch. Er glaubte, dass diese Werte eher bei Kindern als bei Erwachsenen anzutreffen seien. Aus diesem Grund betonte er die Souveränität und den Mut von Kindern. Indem er die moralische Integrität des Kindes hervorhob, verfolgte Kästner ein utopisches Ziel, das in die Zukunft weist. Diese Ideen kommen auch in Fabian vor. Viermal trifft die Hauptfigur auf Kinder. Jede Szene unterstreicht die Unschuld der Kinder und bildet somit einen Kontrast zur Weltsicht der Erwachsenen.
Kästner als Crosswriter
Durch den Vergleich eines Kinderromans mit einem Erwachsenenroman ergeben sich folglich neue Aspekte. Beide Werke ergänzen sich, obwohl sie voneinander unabhängig sind. Man muss nicht das Kinderbuch lesen, um Fabian zu verstehen, und umgekehrt. Dennoch zeigt sich, dass die Kenntnis beider Werke dazu beiträgt, ihre tiefere Bedeutung zu erfassen. Das Netz intertextueller Anspielungen zwischen beiden Romanen erzeugt den Effekt, dass jeder Roman in sich abgeschlossen zu sein scheint, aber zugleich auch eine Bedeutung erlangt, die über das Einzelwerk hinausgeht. Durch diese komplexe Verbindung erweist sich Kästner als Crosswriter, der nicht nur für Erwachsene und für Kinder geschrieben hat, sondern der die kindliche und die erwachsene Perspektive in seinen Werken miteinander verknüpft und ihnen dadurch eine Doppelsinnigkeit verleiht.
Internationale Rezeption
Mit seinem ersten Kinderroman war Kästner ein internationaler Erfolg beschieden. In der englischsprachigen Forschung wird er sogar als „Dean of German Writers for Children“ (Encyclopedia of Britannica, 1973) tituliert, sein Emil-Roman hat es zudem – neben den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm – als einziges deutschsprachiges Kinderbuch in entsprechende internationale Kinderklassikerreihen geschafft. Viele deutschsprachige, aber auch internationale Autoren begannen, nach Kästners Vorbild Detektivgeschichten für Kinder zu verfassen, so dass der Literaturkritiker Rudolf Frank 1932 sogar von einem „Emilismus-Trend“ sprach. Die deutschsprachigen Kriminalromane für Kinder, wie Alex Weddings Ede und Unku (1931), Wilhelm Matthießens Das rote U (1932) und Max Zimmerings Die Jagd nach dem Stiefel (entstanden 1932, 1953 auf Deutsch erschienen), sowie die tschechischen Romane Kluci, huá za nim! (Haltet den Dieb!, 1933; dt. 1964) von Vaclav Řezač und Bileho Klice (Der weiße Schlüssel, 1934; dt. 1958) von Frantisek Langer sind ohne das Vorbild Kästners nicht denkbar. Auch nach 1945 lässt sich der Einfluss von Kästner auf Kinderkriminalromane nachweisen, etwa Paul Berna: Le cheval sans tête (Das Pferd ohne Kopf, 1955; dt. 1956), Enid Blyton: The Famous Five-Serie (1942–1963; dt. 1953ff.), Astrid Lindgren: Mästerdetektiven Kalle Blomkvist (Meisterdetektiv Kalle Blomquist, 1948; dt. 1954) und Alfred Weidenmann: Gepäckschein 666 (1959). Emil und die Detektive wurde in fast alle Weltsprachen übersetzt, wobei man bei vielen Ausgaben das Vorwort und die zehn Bilder weggelassen hat. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten gehörte Kästner zu den verfemten Autoren, dessen Werke öffentlich verbrannt wurden. Seine Romane wurden auf die „Schwarze Liste“ gesetzt, wobei allerdings Emil und die Detektive mit dem Vermerk „Alles außer Emil“ ausgenommen wurde. Dennoch durfte dieses Werk nicht mehr in öffentlichen Bibliotheken ausgeliehen werden.
Mediatisierungen
Kästner verfasste bereits ein Jahr nach dem Erscheinen des Kinderromans ein Theaterstück, das 1930 in Berlin uraufgeführt wurde. Er war auch an der Ausarbeitung des von Billy Wilder verfassten Drehbuches, das von den UFA Studios in Auftrag gegeben wurde, beteiligt und setzte sich mit seiner Forderung durch, dass die Kinder in dem Film nicht von Erwachsenen, sondern von Kinderschauspielern gespielt werden. Der berühmte Film von Gerhard Lamprecht, der dann 1931 in die Kinos kam und als erster abendfüllender Spielfilm für Kinder angesehen wird, durfte noch bis 1937 in deutschen Kinos vorgeführt werden. Dass der Roman bis heute nicht an Attraktivität verloren hat, sieht man daran, dass mehr als zehn weitere Filmadaptionen (u.a. in England, den USA, Ungarn, Japan, Brasilien und der DDR) gedreht wurden. Mit der Neuverfilmung durch die Regisseurin Franziska Buch im Jahr 2001 wurde in Deutschland zugleich eine neue Welle des modernen Kinderfilms eingeleitet.
Kinderlyrik und der deutsche Buchmarkt
Gedichte für Kinder bilden – im Vergleich zu den fast 7.000 Neuerscheinungen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, die jährlich auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erscheinen – ein kleines und überschaubares Textkorpus. Neben Reprints erfolgreicher Gedichtanthologien, etwa So viele Tage wie das Jahr hat (1959, herausgegeben von James Krüss) oder Das große Lalula (1971, herausgegeben von Elisabeth Borchers), und Bilderbüchern mit Versen, seien es Heinrich Hoffmanns Der Struwwelpeter (1845), Erich Kästners Das verhexte Telefon (1931) oder die zahlreichen Bilderbücher mit Gedichten von James Krüss, wie Henriette Bimmelbahn (1958) oder Der blaue Autobus (1958), findet man in diesem Sektor vor allem Bände mit Kinderliedern oder Gedichten für Kleinkinder. Neu konzipierte und verfasste Gedichtbücher für ältere Kinder oder Jugendliche sind dagegen eher selten; durchschnittlich erscheinen in Deutschland pro Jahr ca. 10–20 neue Gedichtbände für Kinder, darunter auch Anthologien mit bereits veröffentlichten Gedichten. Darüber hinaus werden weiterhin Bilderbücher mit Texten in Versform verlegt, die sich aber eher an die Zielgruppe der Vorschulkinderrichten.
Bedeutung von Reimen und Kindergedichten für den Literaturerwerb
Obwohl Kinder in der Regel schon sehr früh mit einfachen Gedichten in Form von Kinderliedern, Kniereiterliedern, Fingerspielen und Abzählversen in Berührung kommen, sich folglich hierbei ein erster Kontakt zu literarischen Formen abzeichnet, nimmt die Kinderlyrik in der deutschsprachigen, aber auch in der internationalen Kinderliteraturforschung nur eine Randstellung ein. Am ehesten befasst man sich noch in der Sprach- und Literaturdidaktik mit Kinderliedern und Kindergedichten, denen man eine zentrale Rolle beim frühen Sprach- und Literatur-Erwerb einräumt. Durch die Strukturierung von Sprache durch Metrik, Reime und Strophen werde einerseits die Freude am sprachlichen Klang und die Einprägsamkeit der literarischen Formen unterstützt, andererseits haben linguistische Untersuchungen bewiesen, dass etwa mithilfe des Binnen- und Endreims, aber auch der Alliteration das phonologische Bewusstsein, d.h. die Fähigkeit, Wörter in Silben und einzelne Phoneme zu segmentieren, von Kindern im Vorschulalter gefördert wird. Dem phonologischen Bewusstsein räumt man einen hohen Stellenwert beim frühen Lese- und Schreiberwerb ein, so dass Kindergedichte und Sprachspiele mittlerweile zum unverzichtbaren Bestand der vorschulischen und schulischen Sprachförderung, auch im Hinblick auf den integrativen Deutschunterricht, geworden sind. Literaturhistorische, poetische und ästhetische Fragestellungen, die mit der Analyse von Kindergedichten konnotiert sind, werden hierbei allerdings kaum beachtet.
Kinderlyrik seit der Aufklärung: ein Überblick
In der deutschen Kinderliteraturgeschichtsschreibung wird zwar auf die Bedeutung kinderlyrischer Werke, angefangen von den Kindergedichten Christian Adolf Overbecks, der Kinderliedsammlung im Anhang zu Des Knaben Wunderhorn (1808), herausgegeben von Achim von Arnim und Clemens Brentano, über die Fabelsammlung von Wilhelm Hey, den Kindergedichten von Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Friedrich Rückert, Richard und Paula Dehmel, Erich Kästner, Bertolt Brecht, Mascha Kaléko, Christian Morgenstern und Joachim Ringelnatz bis hin zu den kinderlyrischen Werken von Christine Busta, Josef Guggenmos, Peter Hacks, James Krüss, Hans Manz und Jürgen Spohn hingewiesen, eine eingehende theoretische Analyse dieser Werke steht in der Regel noch aus. Dies verwundert umso mehr, wenn man bedenkt, dass sich unter den deutschsprachigen Kinderlyrikern viele Autoren und Autorinnen von Rang und Namen befinden, die darüber hinaus auch als Crosswriter bekannt geworden sind, also Werke sowohl für Kinder als auch für Erwachsene verfasst haben. Ein weiteres, bislang kaum untersuchtes Phänomen ist die Integration von Gedichten in Kinderromane. Herausragend sind die zyklisch angeordneten Helgoland-Romane von James Krüss (Der Leuchtturm auf den Hummerklippen, 1956; Mein Urgroßvater und ich, 1959), Das Windloch (1956) von Peter Hacks, oder die sechs Sams-Bände von Paul Maar (1973–2011). Die eingefügten Kindergedichte dienen in diesen Romanen verschiedenen Zwecken. Sie unterstützen die humorvolle Wirkung der Handlung, regen die kindliche Phantasie und Kreativität an und reflektieren die poetische Funktion von Literatur.
Entwicklung der Kinderlyrik nach 1945
Obwohl sich in der deutschsprachigen Kinderlyrik nach 1945 keine großen Zäsuren abzeichnen, so dass man eher von einem Nebeneinander verschiedener Traditionen und innovativer Ansätze sprechen kann (Kliewer 1999), können doch unterschiedliche Einflussbereiche und Themen ausfindig gemacht werden. Mit Lustige Verse für kleine Leute (1956), Was denkt die Maus am Donnerstag? (1967), Gorilla, ärgere dich nicht (1971), Oh Verzeihung, sagte die Ameise (1990) und Groß ist die Welt (2006) publizierte Guggenmos Gedichtbände, die sich durch eine Vielfalt der Themen und Formen auszeichnen. Waren die 1950er Jahre noch von einer eher elegischsentimentalen Rückbesinnung geprägt, wobei Christine Busta, Peter Hacks und James Krüss mit ihren Gedichtbänden und Anthologien wichtige Akzente setzten, zeichnete sich mit den 1960er Jahren ein durchgreifender Wandel ab. Auf der einen Seite entdeckte man die Vorkriegslyrik für Kinder wieder, allen voran die bahnbrechenden Werke von Bertolt Brecht (Die drei Soldaten, 1932; Svendborger Gedichte, 1939), Christian Morgenstern (Osterbuch, 1908; Klein-Irmchen, 1921) und Joachim Ringelnatz (Geheimes Kinder-Spiel-Buch, 1924; Kinder-Verwirr-Buch, 1931). Dem Einfluss von Morgenstern und Ringelnatz, aber auch dem wachsenden Interesse an der angelsächsischen Kinderliteratur ist es ferner zu verdanken, dass der Nonsens seinen angestammten Platz in der Kinderlyrik fand. Während die 1960er Jahre von Autoren wie Bruno Horst Bull, Michael Ende, Hans Adolf Halbey, Max Kruse und Wolfdietrich Schnurre geprägt wurden, trugen die Gedichte von Susanne Kilian, Hans Manz, Christine Nöstlinger und Jürgen Spohn in den 1970er Jahren wesentlich zur Erweiterung des kinderlyrischen Spektrums bei. Beeinflusst durch die antiautoritäre Bewegung und das damit einhergehende geänderte Kindheitsbild wurden vermehrt sozialkritische Gedichte veröffentlicht, die die aktive Teilnahme des Kindes an gesellschaftlich-politischen Prozessen forderten. Darüber hinaus wurden Dialekt und Kindermundart wieder hoffähig, wobei an entsprechende kinderlyrische Experimente der Jahrhundertwende (Richard Dehmel, Berthold Otto, Frida Schanz) angeknüpft wurde. Eine Hinwendung zur Erwachsenenlyrik, die sich bereits in der Anthologie Das große Lalula (1971) anbahnte, ist ein wesentliches Merkmal der Kinderlyrik seit Beginn der 1980er Jahre. Autoren, die sich als Verfasser von Lyrik für Erwachsene einen Namen gemacht hatten, verfassten nun Gedichte für Kinder, darunter Erich Fried, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Dies führte dazu, dass nicht nur bis dahin tabuierte Themen aufgegriffen wurden, sondern dass auch immer mehr mit den Konventionen des Kindergedichtes gebrochen wurde, indem auf den Reim als strukturierendes Element verzichtet wurde und freie metrische Formen verwendet wurden.
Kanonisierung von Guggenmos als Kinderlyriker
In mehrfacher Hinsicht stellt Josef Guggenmos’ Gedichtsammlung Was denkt die Maus am Donnerstag? (1967) einen Meilenstein in der Geschichte der deutschsprachigen Kinderlyrik des 20. Jahrhunderts dar. Für dieses Werk erhielt der Autor 1968 die Prämie zum Deutschen Jugendbuchpreis. Damit wurde zum ersten Mal im Rahmen dieses Preises ein Werk mit Kindergedichten ausgezeichnet, eine Ehre, die nach ihm nur noch Jürgen Spohn für Drunter und drüber (1981) zuteilwurde. Für Guggenmos bedeutete diese Auszeichnung der Durchbruch. Seitdem werden seine Gedichte in Anthologien, Lesebüchern und Schulbüchern abgedruckt und haben wesentlich zu seiner Kanonisierung als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Kinderlyriker der Nachkriegszeit beigetragen. Mit der Verleihung des Sonderpreises für ein kinderlyrisches Gesamtwerk im Jahr 1993 (im Rahmen des Deutschen Jugendliteraturpreises) hat man diesem Umstand Rechnung getragen. Bis in die Gegenwart hinein kommt in fast allen (auch aktuellen) Schullesebüchern und Anthologien mindestens eines seiner populären Gedichte vor, seien es „Was denkt die Maus am Donnerstag?“, „Wieviel wiegt ein Fink?“, „Ich weiß einen Stern“, „Ein Elefant marschiert durchs Land“, „So geht es in Grönland“ oder „Auf dieser Erde“.
Inhalt
Was denkt die Maus am Donnerstag?, illustriert mit 56 Holzschnitten von Günther Stiller, enthält 123 Kindergedichte. Neben Tier- und Naturgedichten finden sich ABC-Gedichte, Nonsens-Gedichte, Dialog-Gedichte, Rätselgedichte, Spielgedichte und Gedichte, die den Alltag und die Erlebniswelt des Kindes beschreiben. Die Mehrzahl der abgedruckten Gedichte ist relativ kurz, die kürzesten umfassen vier Zeilen, andere wiederum haben 2–4 Strophen mit 3–6 Zeilen. Zu den längsten Gedichten gehören „Die Giraffe“, „Geschichte vom Wind“ und „Briefwechsel zwischen Erna … und der Maus“, die jeweils eine ganze Buchseite ausfüllen.
Struktur des Gedichtbandes
Die Gedichte in diesem Band sind weder durch Rahmengedichte noch Kapitelunterteilungen strukturell angeordnet. Dennoch ist die Reihenfolge der Gedichte nicht willkürlich, sondern folgt gewissen thematischen und formalen Prinzipien. Das erste Gedicht „Mein Haus“ kann als Kontrapunkt zum letzten Gedicht „Große Fahrt“ eingestuft werden. Während im erstgenannten Gedicht das Innere des Hauses und die darin ausgeübten Tätigkeiten im Verlauf einer Woche beschrieben werden, schildert das abschließende Gedicht die Fahrt eines Kindes auf seinem Dreirad, weg vom Haus auf einer langen Straße bis zum Ende der Welt. Mit dem letzten Wort „Ade“ schließt nicht nur dieses Gedicht, sondern zugleich auch der gesamte Band. In der Mitte des Werkes finden sich 15 Vierzeiler, in denen jeweils ein Tier beschrieben wird. Eine weitere thematische Gruppe stellen die sechs Stimmungsgedichte „Wäre die Wolke ein Kissen …“, „Das Windrad“, „Im Bett“, „Die Kuckucksuhr“, „Wer war’s?“ und „Der Schatten“ dar, die die in den Titeln genannten Dinge aus der Perspektive eines Kindes schildern, wobei eine elegische Stimmung zutage tritt. Andere Gedichte wiederum sind durch Themen, Figuren oder Gedichtstruktur miteinander verzahnt. Die sich auf einer Doppelseite gegenüberstehenden Gedichte „Eine Gans aus Buntpapier“ und „Der Scherenschnitt“ thematisieren den Aspekt, was man aus Papier herstellen kann. „Nadel und Schere“ und „Der Faden“ sind Dinggedichte, die mithilfe von Dialog bzw. Inneren Monolog charakteristische Eigenschaften der Nähwerkzeuge hervorheben. An „Was denkt die Maus am Donnerstag?“ schließt das zwei Seiten umfassende Gedicht „Briefwechsel zwischen Erna … und der Maus“ an. Neben dem Prinzip des Parallelismus ist noch dasjenige des Kontrastes erkennbar, wenn ein lustiges Nonsensgedicht mit einem eher ernsthaften Naturgedicht kombiniert wird. Die zyklische Struktur des Bandes wird darüber hinaus durch Motivketten betont. Durch die Anordnung nach dem Parallelismus- und Kontrastprinzip entsteht beim Lesen eine Netzstruktur, die Beziehungen zwischen den einzelnen Gedichten herstellt und damit beim Leser den Eindruck hinterlässt, dass jedes Gedicht für sich gelesen werden kann, aber zugleich in enger Verbindung zu den anderen Gedichten des Bandes steht.
Stilistische Merkmale
Neben der sprachlichen Prägnanz fallen die differenzierte Reimgestaltung und der prosanahe Zeilenbau auf (Kliewer 1999). Obwohl bei den meisten Gedichten der Endreim vorzufinden ist (eine Ausnahme ist etwa das Gedicht „Amsel“, das keinerlei Reimformen aufweist), wird zwischen verschiedenen Reimanordnungen (Kreuzreim, Paarreim, Blockreim, Kettenreim, Schweifreim), mitunter auch in demselben Gedicht, gewechselt (vgl. „Drei Grafen“). Neben der Wahl ungewöhnlicher Reime (tat/Inserat; Brüssel/Rüssel; vor/Humor; bröselfein/querfeldein) fällt die Tendenz zur Bildung unreiner Reime auf (Riese/Gemüse; los/Geschoss; Mann/stramm; Berlin/grün). Weitere stilistische Eigenheiten, die Guggenmos verwendet, sind die parametrischen Elemente Enjambement und Alliteration („Sieben kecke Schnirkelschnecken“), außerdem Bending, d.h. die Anpassung sprachlicher Formen an literarische Formen (z.B. sag/Tag; Wurstebrot) sowie die Silbenwiederholung (Kro-kro-Krokodil; nähtetetete), und die Silbenvariation (Hi-hu-ha-heulen). Auffällig ist ferner die Nähe zu kommunikativen Diskursformen. So fangen allein acht Gedichte mit einer Frage an, um die Neugier des Lesers zu wecken. Wiederum andere Gedichte sind in Form eines Dialogs („Die Traufe und das Kind“, „Gespräch mit der Raupe“, „Gespräch im Wald“, „Nadel und Schere“) oder Briefwechsels gehalten („Briefwechsel zwischen Erna … und der Maus“). Beim Versmaß ist eine Vorliebe für die metrischen Formen Trochäus und Jambus erkennbar, etliche Kindergedichte weisen jedoch freie Rhythmen auf („Im Bett“; „Geschichte vom Wind“, „Am Morgen“). Während einige Gedichte eine didaktische Tendenz erkennen lassen („ABC“, „Mein Haus“), regen die Rätselgedichte („Es war einmal ein lustiger Mann“, „Das W…“, „Ein Baum wächst am Hügel“) zum Erraten der beschriebenen Gegenstände an. Die eingefügten Nonsens-Gedichte („Wick“, „Ein Elefant marschiert durchs Land“, „Hans Hense mit der Sense“, „Halb so schlemm“) und das Buchstabengedicht „O unberachenbere Schreibmischane“ weisen zahlreiche Neologismen, Okkasionalismen und Sprachspiele auf, die die metasprachliche Aufmerksamkeit des kindlichen Zuhörers bzw. Lesers herausfordern. Zugleich tragen die Nonsensgedichte ebenso wie die Dialoggedichte und einige Tiergedichte zur humoristischen Wirkung bei. Trotz des zuweilen aufscheinenden Humors schneidet Guggenmos aber durchaus ernsthafte Themen an, insbesondere in seinen Naturgedichten, wenn er die Not der Tiere im Winter erwähnt („Im Herbst“) oder die Veränderungen in der Natur beschreibt („Die Tulpe“, „Regen“). Im Gedicht „Ein Riese warf einen Stein“ wird die Kritik am unbedachten Verhalten von Menschen gegenüber Tieren metaphorisch umschrieben. Aus der Sichtweise von Ameisen erscheint ein Junge, der mutwillig durch einen Steinwurf ihre Burg beschädigt, riesengroß. Während die ersten beiden Strophen die Aktion des „Riesen“ und die dadurch ausgelösten Folgen (Einsturz von Zimmern und Gängen, zahlreiche Tote und Verletzte) in allgemeiner Weise schildern, wird mit der dritten Strophe der Sachverhalt aufgelöst, wobei der kontextauflösende Begriff „Ameisenhaufen“ erst in der letzten Verszeile genannt wird.
Tier- und Naturgedichte
Die Tiergedichte weisen eine Tendenz zur Anthropomorphisierung auf: die Tiere haben Eigennamen, verhalten sich wie neugierige Kinder, kommunizieren untereinander oder gehen sogar eine Unterhaltung mit Menschen ein („Gespräch mit der Raupe“, Wieviel wiegt ein Fink?“), während die Naturgedichte sich mehr auf die poetische Beschreibung von Naturphänomenen (Wind, Regen, Jahreszeitenwandel, Pflanzenwachstum) konzentrieren. Das titelgebende Gedicht „Was denkt die Maus am Donnerstag?“, das nicht am Anfang des Bandes, sondern im letzten Drittel abgedruckt ist, gehört zwar ebenfalls zur Kategorie der Tiergedichte, widerläuft aber durch konzeptuelle Verschiebungen und ironische Wendungen die Lesererwartungen.
Was denkt die Maus am Donnnerstag?
Was denkt die Maus am Donnerstag,
am Donnerstag,
am Donnerstag?
Dasselbe wie an jedem Tag,
an jedem Tag,
an jedem Tag.
Was denkt die Maus an jedem Tag,
am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag
und jeden Tag,
und jeden Tag?
O hätte ich ein Wurstebrot
mit ganz viel Wurst
und wenig Brot!
O fände ich, zu meinem Glück,
ein riesengroßes Schinkenstück!
Das gäbe Saft,
das gäbe Kraft!
Da wär ich bald nicht mehr mäuschenklein,
da würd ich bald groß wie ein Ochse sein.
Doch wäre ich erst so groß wie ein Stier,
dann würde ein tapferer Held aus mir.
Das wäre herrlich,
das wäre recht –
und der Katze,
der Katze
ginge es schlecht!
(Josef Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag? Recklinghausen 1967. S. 87)
Interpretation des titelgebenden Gedichtes
Bereits im Titel werden drei verschiedene konzeptuelle Domänen miteinander verbunden: Tier (Maus), Wochentag (Donnerstag) und die intellektuelle Fähigkeit des Nachdenkens. Die Kombination dieser drei Domänen betont die Ungewöhnlichkeit der Frage, denn man erwartet weder, dass eine Maus denken kann, noch dass für diese Wochentage relevant sind. Die Titel-Frage ist zugleich die erste Verszeile der ersten Strophe, wobei die Präpositionalphrase „am Donnerstag“ drei Mal wiederholt wird. Die Antwort in der zweiten Strophe greift das Strophenschema der ersten Strophe auf, indem wiederum eine Präpositionalphrase („an jedem Tag“) drei Mal wiederholt wird. Die Antwort selbst ist redundant, indem nicht verraten wird, was die Maus denkt, sondern nur, dass sie an jedem Tag dasselbe denkt. Infolgedessen wird die Frage in variierter Form in der dritten Strophe nochmals wiederholt, wobei „am Donnerstag“ durch „an jedem Tag“ ersetzt wird, mit einer eingefügten Verszeile, in der drei Wochentage (Dienstag, Mittwoch, Donnerstag) aufgezählt werden. Während die ersten drei Strophen aus drei bzw. vier Zeilen bestehen, die alle mit dem Wort „Tag“ enden, ändert sich das Reimschema in der letzten Strophe, die 16 Verszeilen enthält. Hier werden Paarreim und Kreuzreim verwendet, wobei zwei Verszeilen keinen Reim bilden. In der vierten Strophe findet ein Sprecher- und Perspektivenwechsel statt. Während die Fragen und Antworten der ersten drei Strophen einem personalen, namenlosen Erzähler zugeordnet werden können, kommt in der vierten Strophe die Maus zu Worte, indem ihre Gedanken wiedergegeben werden. Durch die ausschließliche Verwendung des Konjunktivs II wird indiziert, dass hier eine Traumwelt evoziert wird. Die Maus wünscht sich ein Wurstbrot mit viel Wurst und ein riesengroßes Schinkenstück. Diese Nahrung soll dabei nicht nur den Hunger stillen, sondern der Maus so viel Kraft verleihen, dass sie über sich selbst hinauswächst und es sogar mit der Katze aufnehmen kann. Das Wunschdenken der Maus wird durch einen Größenvergleich symbolisiert. Sie würde sich von einer winzigen Maus zu einem Tier wandeln, das so groß wie ein Ochse sei. Diese Veränderung der Statur, nochmals betont durch den nachfolgenden Vergleich mit einem Stier, würde zugleich bedingen, dass die Maus ihre hilflose Opferrolle aufgäbe und sich als „tapferer Held“ aufführen könnte, der sich den Attacken der Katze widersetzen könnte. Die mit diesem Wunschdenken einhergehende Emphase wird durch die zweimal eingefügte Interjektion „O“ und die Interpunktion (mehrmalige Verwendung des Ausrufezeichens) betont. Ein Spannungsbogen wird in diesem Gedicht dadurch aufgebaut, dass das Ziel dieses Wunschtraumes, nämlich sich gegen die Katze wehren zu können, erst in den letzten drei Zeilen genannt wird: „und der Katze, der Katze, ginge es schlecht!“. Mit dieser Aussage, die gleichsam den Kulminationspunkt des Wunschtraumes darstellt, endet das Gedicht. Die Deutung dieses Wunsches, insbesondere seine Irrealität, bleibt dem Leser überlassen. Durch den zunächst profan klingenden Wunsch nach Wurstbrot und Schinkenstück und die damit konnotierten Wunschvorstellungen von riesiger Größe, Kraft und Heldentum entsteht eine komische Wirkung, die durch die Wiederholungen einzelner Wörter und Satzpassagen betont wird. Die Poetizität des Gedichtes enthüllt sich dabei vor allem in den Endreimen, den Wiederholungen, Kontrasten („riesengroß“ versus „mäuschenklein“), der Verwendung des Konjunktivs II, und dem „Bending“ („Wurstebrot“ statt „Wurstbrot“, „wär“ statt „wäre“, usw.).
Das Stimmungsgedicht „Der Schatten“
In dem Gedicht „Der Schatten“ tritt ein lyrisches Ich zutage. Die drei Strophen mit Blockreim beschreiben aus der Sicht eines Kindes, wie es den Schatten wahrnimmt, wobei nur durch den Titel indiziert wird, dass das Gedicht das Phänomen des Schattens umschreibt. Wenn man den Titel nicht wüsste, hätte das Gedicht eine Rätselstruktur, weil man als Leser anhand der Angaben ermitteln müsste, wovon die drei Strophen eigentlich handeln. Der Schatten selbst, als „er“ bezeichnet, wird anthropomorphisiert, indem ihm Handlungen zugeschrieben werden, die sich im Verhalten des Kindes spiegeln (gehen, stehen, herumtollen). Zugleich wird festgehalten, dass er weder sprechen noch Gefühle äußern kann. Als auffallendstes Merkmal wird jedoch die Größenrelation genannt: der Schatten könne sowohl winzig klein als auch riesengroß sein, wobei der Grund für diese Veränderung nicht genannt wird. Die in diesem Gedicht anklingenden Topoi und Ideen weisen gewisse Ähnlichkeiten mit dem Gedicht „My shadow“ aus Robert Louis Stevensons klassischer Gedichtsammlung The Child’s Garden of Verses (Im Versgarten, 1885; dt. 1960) auf. Dieses Werk hatte Guggenmos 1969 unter dem Titel Mein Königreich übersetzt, so dass es naheliegt, dass Guggenmos durch die intensive Auseinandersetzung mit Stevensons Kinderlyrik zu seinen Stimmungsgedichten angeregt wurde. Der Topos der kindlichen Stimme, die sich in Stevensons, aber auch vielen Gedichten von Guggenmos manifestiert und der Leserschaft auf der narratologischen und sprachlichen Ebene den Eindruck vermittelt, dass ein kindlicher Erzähler unmittelbar über seine Erlebnisse und Eindrücke berichtet, gehört jedenfalls zu den innovativen Leistungen, die Guggenmos’ Gedichtsammlung auszeichnen.
Das Nachwort von Guggenmos
Guggenmos, der mehrere Lyrikausgaben für Erwachsene verfasst (u.a. Gugummer geht über den See, 1957) und sich in seinen letzten Lebensjahren dem japanischen Haiku zugewandt hatte, hat im Nachwort mit dem Titel „Das Schreiben von Kindergedichten als schöne Kunst betrachtet“ über die Affinität von Kinderlyrik und Lyrik für Erwachsene reflektiert. Guggenmos beginnt seinen Essay mit einem Gedankenspiel: wie würde ein Kindergedicht des antiken Dichters Vergil aussehen? Weder habe Vergil ein Kindergedicht verfasst noch seien Kindergedichte aus der Antike überliefert, aber Guggenmos sieht eine Analogie zum Kindergedicht in Vergils Hinwendung zu den einfachen Dingen und alltäglichen menschlichen Handlungen in seinen Eklogen und Hirtengedichten. Die drei Eigenschaften Anschaulichkeit der Sprache, Konzentration auf das Wesentliche und Darstellung alltäglicher Dinge und Handlungen schreibt Guggenmos somit einem gelungenen Kindergedicht zu. Um seine Ansichten zu untermauern, zitiert Guggenmos ein wenig bekanntes Gedicht aus Achim von Arnims und Clemens Brentanos Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1805–1808). Anhand dieses kurzen Kinderreimes stellt Guggenmos zwei weitere Merkmale gelungener Poesie für Kinder heraus: die Mehrdeutigkeit, die dazu verleitet, das Gedicht immer wieder zu lesen oder aufzusagen, und die stilistischen Abweichungen, die verhindern, dass man das Gedicht herunterleiern könne. Daran schließt Guggenmos die Beobachtung an, dass Kinder zwar künstlerisch überaus produktiv seien und sich durch ein hohes kreatives Potential auszeichneten, allerdings in der Regel nicht in der Lage seien, selbst ein Gedicht oder Reime zu produzieren, die nicht von inhaltlichen und sprachlichen Klischees dominiert wären. Guggenmos führt diese Tendenz darauf zurück, dass Kindern zu viele schlechte Kindergedichte vorgetragen oder vorgelesen würden, so dass ihre Spontaneität und Kreativität dadurch behindert werde. In einem letzten Schritt behauptet Guggenmos einerseits, dass ein Autor von Kindergedichten diese zunächst für sich selbst, gleichsam für das Kind im erwachsenen Menschen, geschrieben habe. Neben diesem nostalgischen Rückbezug fordert Guggenmos andererseits, dass auch ein Kinderlyriker die höchsten literarischen Ansprüche an sein Werk stellen müsse. Kinderlyrik, die all diesen genannten Ansprüchen genüge, würde denselben kanonischen Status erlangen wie die berühmtesten Gedichte für eine erwachsene Leserschaft. Guggenmos greift folglich in seinem Nachwort Aspekte auf, die in der Crosswriting-Forschung thematisiert werden. Vergleichbare Anstrengungen, eine Poetik des Kindergedichts zu entwickeln, zeigen sich bei Peter Hacks und James Krüss, die in Nachworten zu ihren Gedichtbänden oder Anthologien über die literarische Bedeutung von Kinderlyrik reflektierten und sich ebenfalls darum bemühten, Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit der Lyrik für Erwachsene herauszustellen.
Guggenmos als Übersetzer
Auch wenn Guggenmos mittlerweile als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Kinderlyriker angesehen wird und seine bekanntesten Kindergedichte in Anthologien und Lesebücher weiterhin verbreitet werden, hat man seine Übersetzertätigkeit bisher kaum gewürdigt. Denn er hat nicht nur die Kinderlyrik von Robert Louis Stevenson und die Limericks Edward Lears, sondern auch mehrere Bilderbücher, u.a. von John Burningham und Charles Keeping, sowie einige Kinderklassiker ins Deutsche übertragen. Inwiefern diese Übersetzertätigkeit sein kinderliterarisches Schaffen beeinflusst hat, darüber ist bislang noch nichts bekannt.
Deutschsprachige Jugendliteratur seit den 1980er Jahren
Die Kritik an der problemorientierten und sozialrealistischen Jugendliteratur der 1970er Jahre leitete seit Ende der 1980er Jahre eine neue jugendliterarische Phase ein. Seitdem vollzog sich in der Jugendliteratur zunehmend die Einführung von Themen und Formmerkmalen der Erwachsenenliteratur. Die Kommentarhaltung wich einer Position moralischer Neutralität, die auch die Neigung zum offenen und ambivalenten Schluss förderte. Wegen der Konzentration auf existentielle Fragen und der detaillierten Beschreibung seelischer Prozesse kann man von einem psychologischen Realismus in der Jugendliteratur seit Ende der 1980er Jahre sprechen. Die moderne Jugendliteratur verbindet dabei die Beschreibung psychischer Prozesse und Stimmungsbilder mit einem Gegenwartsbezug der fiktionalen Handlung und eine subjektive Ich-Erzählweise.
Tabuthemen und ambivalenter Schluss
Dieser Wandel führte dazu, dass vermehrt Tabuthemen, etwa jugendliche Gewalt und Sexualität, angesprochen wurden. Damit gingen zugleich eine Radikalität der Figurendarstellung und eine geänderte Schlussgestaltung einher. Die Radikalität der Figurendarstellung manifestierte sich u.a. in der Wahl einer zunächst unsympathisch wirkenden Hauptfigur, die wegen ihrer Widersprüchlichkeit und ihres befremdenden Verhaltens nicht den landläufigen Vorstellungen einer Identifikationsfigur entspricht. Durch das Fehlen eines kommentierenden auktorialen Erzählers wird der Leser zudem unvermittelt mit der Lebenskrise der Hauptfigur(en) konfrontiert. Darüber hinaus ist die Tendenz zu einem offenen oder ambivalenten Schluss zu beobachten, so dass ein happy ending in der Regel verweigert wird.
Komplexität der Erzählstruktur
Weitaus auffälliger ist jedoch die Komplexität der Erzählstruktur und der sprachlichen Gestaltung. Diese sind verbunden mit den Bemühungen der Autoren und Autorinnen, der in der Jugendliteratur verbreiteten Erzählweise der homodiegetischen Erzählung neue erzähltechnische Möglichkeiten und Bedeutungen abzugewinnen, z.B. mittels der Unterbrechung der realistischen Schilderung des Alltags durch Tagträume, der Integration von Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen des Ich-Erzählers, Vor- und Rückblenden und Verwendung des Bewusstseinsstroms (Stream of Consciousness). Das Experimentieren mit verschiedenen literarischen Formen wird noch durch die zunehmende Integration medialer Erzählweisen – vorzugsweise des Films und des Videoclips – und typographische Gestaltungsmittel ergänzt. So ist der in vielen Jugendromanen zu beobachtende, zuweilen oft unvermittelte Wechsel zwischen Szenen, Tagträumen und Beobachtungen durch den Videoclip inspiriert. Diese narratologische Struktur stellt den Versuch dar, das Lebensgefühl von Jugendlichen einzufangen. Die typographische Gestaltung dagegen kann einerseits auf die Fragmentarisierung der Wirklichkeitserfahrung, die auf diese Weise dem Leser visuell vermittelt wird, hinweisen. Andererseits dient sie dazu, das Textverständnis zu erleichtern, indem auf einen Genre- oder Perspektivenwechsel aufmerksam gemacht wird. Diese Tendenzen lassen sich im angloamerikanischen und skandinavischen Sprachraum seit den 1970er Jahren beobachten und haben die Entwicklung der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit Ende der 1980er Jahren nachhaltig beeinflusst, wofür die Jugendromane von Dagmar Chidolue, Christine Nöstlinger, Mirjam Pressler, Jutta Richter und Andreas Steinhöfel stehen. Kirsten Boies Werke spielen hierbei eine wichtige Rolle. Ihre Jugendromane, darunter Ich ganz cool (1992), Erwachsene reden, Marco hat etwas getan (1995) und Nicht Chicago, nicht hier (1999), haben wegen der bewussten Thematisierung von Tabuthemen in der zeitgenössischen Literaturkritik kontroverse Debatten ausgelöst, zählen aber heute zu den bahnbrechenden Werken der modernen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur der 1990er Jahre.
Entstehung
Ich ganz cool nimmt aufgrund seiner eigenwilligen und ungewöhnlichen Sprachgestaltung und der Fokussierung auf eine Hauptfigur aus einem bildungsfernen Milieu bis heute eine singuläre Stellung ein. Kirsten Boie hatte bis zur Arbeit an diesem Werk ausschließlich Kinderromane aus der Sichtweise von Kindern verfasst, die aus Mittelschicht-Familien stammten. Nach dem Wechsel vom Gymnasium auf eine sogenannte Brennpunktschule, wo sie als Lehrerin unterrichtete, kam Boie mit Jugendlichen in Kontakt, die in sozial prekären Verhältnissen aufwuchsen. Als ihr bewusst wurde, dass es über diese Jugendlichen keine Erzählungen und Romane für Kinder und Jugendliche gab, die deren Sichtweise und Probleme wiedergaben, entschloss sie sich, darüber ihr nächstes Kinderbuch zu schreiben. In ihrem Nachwort zur Neuausgabe (2009) betont sie explizit, dass sie das Leben von Jugendlichen, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen, „sichtbar“ machen wollte.
Inhalt
Hauptfigur des Romans Ich ganz cool ist der dreizehnjähriger Ich-Erzähler Steffen, der mit seiner alleinerziehenden Mutter, deren Freund Kudde, und zwei Halbgeschwistern, dem 15-jährigen Kai und einer vierjährigen Schwester, genannt „Süße“, zusammenlebt. Die Familie ist auf Sozialhilfe angewiesen, hinzu kommen die Alimente für Steffen und das von der Mutter schwarz verdiente Geld als Putzfrau. In der Hoffnung auf das große Los meldet die Mutter ihre Tochter, die intellektuell wenig gefördert wurde und deshalb den Sprachstand einer Zweijährigen hat, bei einem Filmcasting an. Trotz des Misserfolgs versucht sie es anschließend bei Modelagenturen. Steffens Alltag ist durch familiäre Konflikte, Perspektivlosigkeit und Mangel an tiefergehenden Freundschaften geprägt. Seine heimlichen Wünsche und Hoffnungen, die von den tagtäglich konsumierten Fernsehsendungen und Videofilmen bestimmt sind, gibt Steffen in seinen Tagträumen preis, die als typographisch abgesetzte Texte am Ende jedes Kapitels abgedruckt sind. Diese sind einerseits Ausdruck seiner Allmachtphantasien, die durch eine einfache Handlung und ein eindeutiges moralisches Schema gekennzeichnet sind, andererseits Abbild seiner Suche nach einer Vaterfigur und später einem Freund. Zu Beginn stehen noch seine Kumpel Holger und Recep, mit denen er nach der Schule „Mutjoggen“ spielt (d.h. das Überqueren einer Straße kurz vor einem schnell heranfahrenden Auto), und sein von ihm bewunderter Bruder Kai, der sich seinen Kick beim S-Bahn-Surfen holt, im Vordergrund. Als er seinen Vater, der Filialleiter bei einem Supermarkt ist und auf den er seine ganzen Hoffnungen gelegt hat, endlich persönlich kennenlernt, ist er von der Begegnung mit dem aus seiner Sicht spießigen und verklemmten Mann enttäuscht. Eine Wende tritt ein, als er mit dem in der Schulklasse ausgegrenzten Mitschüler Sebastian, von allen „Schnulli“ gerufen, und dessen Vater angeln geht. Hier erfährt er zum ersten Mal Verständnis und Geborgenheit. Obwohl der Roman einen offenen Schluss aufweist, deutet sich doch eine beginnende Freundschaft mit Schnulli an.
Funktion der Tagträume
Eine besondere Rolle kommt den Tagträumen zu, weil sie die psychische Situation des Ich-Erzählers deutlich spiegeln. Diese Tagträume bestehen aus medial vermittelten Versatzstücken, vermischt mit Alltagseindrücken von Steffen und seinen unterschwellig existierenden Wunschträumen. Steffen erträumt sich darin die Rolle eines einsamen Helden, bekleidet mit schwarzen Ledersachen und ausgestattet mit einer Harley Davidson, der unerschrocken allen Gefahren trotzt und seine ihn verfolgenden Gegner abschüttelt. Vor der ersten Begegnung mit dem Vater taucht dieser in den Tagträumen als weiß gekleideter Motorradfahrer auf, der Steffen aus Lebensgefahr rettet und ihn in die Künste des Ninjakampfes einweist. Nach dem Angelausflug mit Schnulli und dessen Vater findet ein Wandel statt. Anstelle von Actionszenen dominieren jetzt Bilder und Vorstellungen, die von Harmonie und einer engen Bindung an die Natur und Geborgenheit geprägt sind. Während in diesen neuen Tagträumen die Lagerfeuerromantik noch von einer vertraulichen Vater-Sohn-Beziehung dominiert ist, drückt sich die Enttäuschung Steffens über seinen Vater im nachfolgenden Tagtraum aus, bei dem der Vater tödlich verunglückt. Am Ende des letzten Kapitels wird das Thema der Naturverbundenheit nochmal aufgegriffen, aber die Stelle des Vaters übernimmt nun Schnulli. Die Allmachtphantasien spielen hierbei keine Rolle mehr, vielmehr fokussiert das letzte Bild die Friedlichkeit der Szenerie und das gemeinsame Einschlafen am Lagerfeuer.
Prekäre Familiensituation
Die familiäre Situation ist durch Gleichgültigkeit, Vernachlässigung und fehlende Kommunikation gekennzeichnet. Die Familienmitglieder sprechen in der Regel nicht miteinander, sie fluchen oder schreien sich an. Angesichts dessen ersinnt sich Steffen ein unrealistisches Traumbild von seinem Vater. Seine mentalen Bilder stehen jedoch in großem Gegensatz zum Verhalten und Aussehen seines Vaters, so dass ihre erste Begegnung in einer tiefen Enttäuschung endet. Steffen zieht sich daraufhin noch mehr in sein Schneckenhaus zurück und bemerkt nicht das Interesse seines Schulkameraden Schnulli an ihm. Der Wendepunkt tritt ein, als Steffen mit der Trauer seines großen Bruders über den Unfalltod seines Freundes konfrontiert wird. Er wendet sich Schnulli, den er vorher wegen seiner Ängstlichkeit abgelehnt hatte, zu und akzeptiert endlich auch dessen Vorschlag, mit ihm zusammen angeln zu gehen.
Sprachliche Gestaltung
Zur Originalität des Romans hat die sprachliche Gestaltung erheblich beigetragen. Die soziale, emotionale und kognitive Benachteiligung von Steffen spiegelt sich in seiner Figurenrede und Inneren Monologen wieder, in der Boie kunstvoll verschiedene Sprachregister miteinander verbindet, wie bereits der Romananfang eindrucksvoll dokumentiert:
„Schule, also logisch, das bockt nicht so, aber was sollst du machen, ich geh trotzdem meistens hin. Und zurück denn immer, also zurück ist logisch besser, geh ich meistens mit Holger und Recep, und denn machen wir noch Mutjoggen auf dem Weg.
Also Mutjoggen, nä, darfst du erst losrennen, wenn das Auto voll auf der Kreuzung ist; der Kühler muß hinter der Fensterscheibe von Edeka, sonst gilt das nicht. Gibt es auch keine Ausnahme, Recep sagt, egal, ob einer kleiner ist oder was und kürzere Beine hat, ganz egal. Wer mitmachen will, gleiche Spielregeln.
Der Trick ist, du mußt an der Stelle rennen, wo die Baustelle ist, da können die Autos nicht ausweichen. Bremsen können sie da auch nicht mehr, haben wir alle abgecheckt. Entweder, du bist schnell genug rüber, oder bommmppp!, ist es gewesen. Alles nur noch Matsche. Ja Pech.“ (S. 5).
Merkmale der zeitgenössischen Jugendsprache
Steffens Ausführungen sind durch einen sprachlichen Code gekennzeichnet, der auf die zeitgenössische Jugendsprache, durchmischt mit dem Hamburger Regionaldialekt, zurückgeht. Charakteristische Kennzeichen sind auf der syntaktischen Ebene Aneinanderreihung von Ellipsen („Ich da aber sauber, nä.“), Wortwiederholungen („grins, grins, kicher, kicher“), Interjektionen, Füllwörtern („und so“) und der mündlichen Sprache entnommenen grammatischen Strukturen (Umstellung von Nomen, Verb und Partikeln, fehlende Satzglieder, Verwendung des Infinitivs statt des finiten Verbs). Weitere auffallende stilistische Merkmale sind Oralität bzw. fingierte Mündlichkeit. Kennzeichnend für Steffens emotional-expressive Erzählweise sind zudem die Übertreibung und die Intensivierung der Darstellung durch Verbindung von Gefühlsausdrücken, Wiederholungen und Interjektionen. Die Gesprächewerden mit nachgestellten inquit-Formeln („ich sag“, „sagt Kai“) wiedergegeben. Zugleich manifestieren sich hierbei die Einflüsse verschiedener Medien. Anglizismen wie „cool“, „okay“ oder „feeling“, aus Gewalt- und Horrorvideos übernommene Sprüche und Sprachklischees („Alles nur noch Matsch, ja Pech“), Fäkalsprache und der Comicsprache entliehene Onomatopoesien („Gröl-gröl“, „bommppp“) prägen den Sprachduktus von Steffen. Dieses Sprachkonglomerat mag beim ersten Lesen auf manche Leser irritierend, wenn nicht sogar verstörend wirken (wie man einigen Rezensionen und Buchbesprechungen entnehmen kann), stellt aber den ernstzunehmenden Versuch der Autorin dar, ein möglichst authentisches Bild von der Gefühls-, Sprach- und Vorstellungswelt der Hauptfigur zu vermitteln. Um dies zu bewerkstelligen, hat sich Boie auf der einen Seite dafür entschieden, die Geschichte nicht durch einen personalen Erzähler, sondern in Form einer Ich-Erzählung wiederzugeben. Auf der anderen Seite hat sie Gespräche von Jugendlichen in der Hamburger S-Bahn belauscht, um die von ihnen verwendete Sprache kennenzulernen und in ihr Buch zu übertragen (Boie 1995). Allerdings handelt es sich nicht um eine exakte Übertragung derzeitgenössischen Jugendsprache, wie sie unter Jugendlichen aus sozial benachteiligten Schichten gesprochen wird. Die Autorin hat vielmehr aus diesen Versatzstücken eine Kunstsprache geschaffen, um auf diese Weise ein literarisch angemessenes Selbstporträt eines Jugendlichen zu kreieren, der nicht über die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen aus Mittelschicht- und Bildungsbürgerkreisen verfügt.
Vielfalt der sprachlichen Codes
Auch wenn eine oberflächliche Lektüre zunächst den Eindruck einer gewissen Monotonie und Restriktion hinsichtlich der sprachlichen Codes erweckt, enthüllt eine eingehende Analyse, dass der Roman auf der Sprach- und Textebene eine überraschende Vielfalt aufweist. Steffen bedient sich zwar bei seinem Bericht eines eigenen, von der Jugendsprache dominierten Sprachcodes, ist aber durchaus in der Lage, die verschiedenen Sprachstile der Gesprächspartner wiederzugeben, so etwa die Aussagen der Lehrer in der Hauptschule, die aus seiner Sicht pedantischen Fragen und Sprüche des Vaters („Von nichts kommt nichts, mein Junge, das will alles erst erarbeitet werden“), die Fragen der Sozialarbeiterin oder die phonetisch falsche, kindliche Sprechweise der kleinen Schwester („hübß aus, Deffen, Süße hübß aus?“). Trotz der oft unfreundlichen Atmosphäre in der Schule und zu Hause sieht Steffen auch die komische Seite mancher Episoden, die von ihm ironisch kommentiert werden:
„Also wenn die von der Stütze mal kommen, nä, also passiert ja nicht so einfach, aber kann man sich ja vorstellen, und Kuddi sitzt da so in seinem Sessel beim Video, und die: „Leben Sie dauerhaft mit in diesem Haushalt?“, und Kuddi: „Nee, nee, ich bin hier nur zu Besuch!“, nä, und denn Süße: „Papa, Papa!“
Kriegt die von der Stütze ganz große Augen, sagt „Ja, entschuldigen Sie bitte, aber das sieht mir doch mehr nach – wie heißt das noch mal? – eheähnlicher Gemeinschaft aus!“, und Kuddi: „Nee, nee!“, aber die von der Stütze schon ab ins Badezimmer, Zahnbürsten zählen, nä, bringt aber leider nichts, weil Kuddi hat keine Zahnbürste.“ (S. 17).
In schnellem Wechsel folgen dabei Beschreibungen, Darstellungen von Empfindungen, Innerer Monolog, Rückblenden und Wiedergabe von Dialogfetzen aufeinander. Die fragmentarische Struktur des Textes spiegelt zugleich die Zerrissenheit und Unzufriedenheit Steffens wieder, der weder in der Schule noch im Elternhaus Anerkennung findet.
Sprachliche Gestaltung der Tagträume
Die typographisch durch Fettdruck abgehobenen Tagträume heben sich sprachlich und stilistisch von den Alltagsbeschreibungen ab. Obwohl es Analogien zur Wortwahl und Ausdrucksweise der anderen Textteile gibt, werden in den Tagtraum-Passagen Begriffe verwendet, die nur hier vorkommen. Die hierbei verwendeten stilistischen Mittel, Wiederholung, Aufzählung, Metapher, Hyperbole, rhetorische Frage oder Alliteration, verleihen diesen Texten einen poetischen Charakter.
„Die Maschine donnert durch die Nacht. Schwarz, neue Triumph, ganz schwarz. Die Lederklamotten, auch, schwarz, ganz schwarz, nicht zu sehen in der Nacht, nur der Scheinwerfer, weißer Finger, Halogen, schneidet Schneisen: Mittelstreifen, Bäume rechts, Bäume links, Zweige kahl. Soll das Winter sein? Alles wie tot.
Aber die Maschine nicht, schräg in den Kurven, immer dem Licht hinterher. Autos, logisch auch, rote Rücklichter, schon vorbei. Einer ab in den Graben, gleich ist es Mitternacht.
Gleich ist es Mitternacht, und nur ich noch auf der Straße, ich und meine Maschine, schwarz, ganz schwarz, ich und meine Maschine allein“ (15).
Einblick in die Psyche der Hauptfigur
Die Tagträume bilden aber nicht nur stilistisch einen Kontrast zu den anderen, weitaus längeren Textteilen, sondern geben einen Einblick in die Psyche der Hauptfigur. Während Steffen sich sonst als Jugendlicher darstellt, der abgebrüht ist und sich weder durch Horrorvideos noch durch gefährliche Mutproben schrecken lässt, deuten die Tagträume an, dass er durchaus sensibel ist und sich nach einem Menschen sehnt, mit dem er sich aussprechen oder etwas unternehmen kann. Dass seine „Coolness“ eine Maske ist, hinter der er sich verbirgt, wird angesichts zweier Szenen besonders deutlich. Trotz des häufigen Konsums von Gewalt- und Splatterfilmen zeigt Steffen ein tiefes Mitgefühl. So ist er erschüttert, als er seinen bewunderten Bruder weinend vorfindet. Dieser trauert um den Tod eines Freundes, der beim S-Bahn-Surfen ums Leben gekommen ist. Eine weitere wichtige Episode ist der Angelausflug mit Schnulli und dessen Vater. Steffen lernt nicht nur eine neue Umgangsweise kennen, sondern hat mit dem selbst geangelten Fisch auch ein wichtiges Erfolgserlebnis, das aber weder von Kai noch von seiner Mutter gewürdigt wird. Der für das Abendessen bestimmte Fisch landet im Mülleimer, weil die Mutter sich davor ekelt und nur Fischstäbchen als Mahlzeit akzeptiert. Sein Erlebnis kann er nur seiner kleinen Schwester anvertrauen, die ihm zwar geduldig zuhört, aber es bleibt unklar, ob sie den Sachverhalt überhauptverstanden hat.
Darstellung einer Medienkindheit
Ich ganz cool konfrontiert den Leser mit einer von Medien dominierten Kindheit, wobei hierzu ausdrücklich nicht das Printmedium Buch, sondern AV-Medien wie das Fernsehen, Musikkassetten und Videofilme gehören. Steffens Medienrezeption und seine Verarbeitung des medial Vermittelten spielt in seinem Bericht eine wesentliche Rolle. Der Medienkonsum bestimmt den außerschulischen Alltag von Steffen, der sich sonst nur mit seinen Kumpels auf der Straße herumtreibt. Der permanent angeschaltete Fernseher prägt die Atmosphäre und unterminiert jede längere Unterhaltung. Steffen nennt explizit Filmgenres, Musikrichtungen (Heavy Metal), Musikgruppen (Scorpions) oder Filmtitel (Terminator, Ghost Busters), wobei sein Konsum sowohl Animationsfilme der Disney Studios, Westernserien („Rauchende Colts), Softpornos („Tutti Frutti“), Werbesendungen, Teleshop-Sendungen als auch Action- und Horrorfilme umfasst. Die durch diese Filme wahrgenommenen visuellen Muster und Dialoge beeinflussen nicht nur Steffens Alltagssprache, sondern werden in seinen Tagträumen verfremdet und umgemodelt, um seine Sehnsüchte und Wunschvorstellungen bildlich und sprachlich auszudrücken.
Paratext: Cover der Originalausgabe
Die Lebenssituation Steffens wird kongenial in der Cover-Gestaltung der Originalausgabe aufgegriffen. Auf dem Titelbild, das von Jutta Bauer gestaltet wurde, sieht man in der Bildmitte einen Jungen, mit Pullover, Hose und Turnschuhen bekleidet, der hastig eine Straße überquert. Sein Kopf mit den nach oben gekämmten kurzen Haaren und sein Rumpf sind nach hinten gebeugt, seine Arme horizontal vom Körper weggestreckt, wobei er in der linken Hand eine große Angel hält. Die Körperhaltung und der Gesichtsausdruck des Jungen ergeben einen Kontrast zum Titel des Buches und veranschaulichen dessen Verunsicherung. Dem Jungen sind vier Dinge zugeordnet, die von vier Seiten auf ihn zuzukommen scheinen, ein weißes Haus, ein schwarzer Mercedes, ein Mann in schwarzem Anzug und mit Brille sowie ein großer grüner Fisch. Der Hintergrund ist durch eine Horizontlinie mittig geteilt. Die untere Hälfte, in einem schmutzigen Weißgrau mit gelben und schwarzen Flecken, kann als Straße interpretiert werden. Über dem Kopf des Jungen ist in Handlettering der Buchtitel in Großbuchstaben zu lesen, wobei das in der Farbe Gelb mit schwarzem Rand geschriebene Wort „Ich“ doppelt so groß ist wie die darunter stehenden, in Schwarz geschriebenen Begriffe „ganz“ und „cool“. Der cartoonhafte Zeichenstil mit den betonten schwarzen Konturen, den schrägen Linien, den nur im Ausschnitt wiedergegebenen Gegenständen am linken und rechten Rand ist erkennbar durch die Punkästhetik beeinflusst. Betont wird dieser Stil noch durch den breiten schwarzen Rand um das Coverbild. Die Gegenstände und Personen auf dem Cover verweisen auf wichtige Episoden des Romans: Mutjoggen, Schulalltag, Begegnung mit dem Vater und Angelausflug mit Schnulli.
Paratexte: Cover der Neuauflagen
Bei den Neuauflagen wurde entweder das Design des Originalcovers verändert oder ein neues Cover entworfen, so dass sich hinsichtlich dieses Paratextes nicht nur ein genereller Wandel in der Buchgestaltung im Verlauf von 15 Jahren feststellen lässt, sondern damit einhergehend auch eine Neudeutung der Zielgruppe. Die 2001 bei Oetinger erschienene Neuauflage hat zwar das Motiv von Jutta Bauer beibehalten, aber den Buchtitel und den Rahmen neu gestaltet. Die Gestaltung des ursprünglichen Buchcovers wurde dem konventionellen Schema der Oetinger-Reihe angepasst. Die 1997 bei dtv publizierte Taschenbuchausgabe weist ebenfalls ein von Jutta Bauer konzipiertes Cover auf, das vom Bildaufbau und der Farbgebung gesehen weitaus vereinfachter ist. In der Bildmitte ist ein Junge im Profil zu sehen. Seine Körperhaltung und der grimmige Blick sollen den Eindruck von Coolness vermitteln, deuten aber durch ihre Widersprüchlichkeit zugleich eine gewisse Unsicherheit an. Während diese drei gezeichneten Cover von der Gestaltung her weder eindeutig der Kinderliteratur für jüngere Leser noch der Jugendliteratur zuzuordnen sind, also eine Zwischenstellung einnehmen und damit auch das Anliegen der Autorin, ein Werk für diejenige Lesergruppe zu verfassen, die sich im Übergang von der Kindheit zur Jugend befindet, betonen, zielt das Cover der Broschur-Neuausgabe von 2009 erkennbar auf Jugendliche ab. Auf dem Cover ist eine Fotografie abgebildet, die das Gesicht eines Jugendlichen im Dreiviertel-Profil zeigt, dessen Haare vollständig von einer Wollmütze bedeckt sind. Auf seiner Schulter trägt er ein abgewetztes Skateboard. Hinter ihm befindet sich eine Ziegelmauer, auf die der Buchtitel in Graffiti-Manier geschrieben ist. Dieses Cover suggeriert, dass die Handlung in einem bestimmten Milieu und unter Jugendlichen spielt, die weitaus älter sind als 13 Jahre. In Boies Roman wird das Skate-board-Fahren allerdings nicht thematisiert. Die Hauptfigur Steffen äußert lediglich mehrfach den Wunsch, selbst ein Skateboard zu besitzen.
Rezeption
Boies Kinderroman, der 1993 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde, ist zwar nie ein Bestseller geworden, hat sich aber mittlerweile als Schullektüre etabliert. Bis heute ist in Deutschland kein weiterer Kinderroman erschienen, der hinsichtlich der sprachlichen und narratologischen Gestaltung auch annähernd so innovativ und radikal ist wie Ich ganz cool. Während sich vergleichbare Erzählstrategien und Sprachregister in der modernen Adoleszenzliteratur für junge Erwachsene finden lassen, bedient sich die Literatur für jüngere Leser/innen in der Mehrzahl weiterhin eher konventioneller Themen und narrativer Formen.
Der Erfolg Cornelia Funkes
Seit der Jahrtausendwende hat das internationale Interesse an der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur wieder stetig zugenommen und dieses Interesse hängt auch mit dem unerwarteten Erfolg der phantastischen Romane Cornelia Funkes zusammen, angefangen mit Drachenreiter (1997) und Herr der Diebe (2000) und kulminierend in der Tintenwelt-Trilogie mit den drei Bänden Tintenherz (2003), Tintenblut (2005) und Tintentod (2007). Diese drei Bände wurden in mehr als 23 Sprachen übersetzt und entwickelten sich zu einem internationalen Bestseller. Der erste Band wurde 2008 verfilmt (Regie: Ian Softley), außerdem liegen Theaterstücke, Musicals und ein Brettspiel vor, die auf Funkes Romanvorlage basieren.
Entstehung
Ein Auslöser für die Geschichte über die Tintenwelt war Funkes Beobachtung, dass manche literarische Figuren so plastisch dargestellt würden, dass sie realistischer und lebensnaher wirkten als wirkliche Menschen. Daraus habe sich für sie die Frage ergeben, was passieren würde, wenn Figuren aus einem Buch heraustreten und in eine reale Welt eindringen würden. Diese Idee ist nicht ganz neu, denn sie wurde bereits in anderen phantastischen Kinderromanen aufgegriffen, so etwa in Patricia Lynchs irischem Klassiker The Turfcutter’s Donkey (Der König der Tinker, 1934; dt. 1993), Michael Endes Die Unendliche Geschichte (1979) und Jostein Gaarder Sofies verden (Sofies Welt, 1991; dt. 1993), wobei in diesen Werken die aus dem Buch entstiegenen Figuren relativ wenig Einfluss auf die Gestaltung der real-fiktionalen Welt ausüben. Während die Buchfiguren bei Lynch und Ende wieder in die Buchwelt zurückkehren, verhält es sich bei Gaarder anders: hier gelangen die entsprechenden Figuren, darunter auch die im Titel genannte Hauptperson Sofie, in eine Zwischenwelt, die von Märchengestalten und Figuren aus bekannten Kinderklassikern bevölkert ist. Eine Rückkehr in die Buchwelt ist ebenso wenig möglich wie ein Weiterleben in der „realen“ Welt. Funke geht bei der Konzeption ihrer Trilogie noch einen Schritt weiter, indem Figuren einerseits mehrmals zwischen Buch- und fiktiver Realwelt wechseln können, andererseits steht der Aspekt der Verantwortung des Künstlers bzw. Schriftstellers für sein Werk im Vordergrund. Das ist eine Thematik, die bei Ende und Gaarder bereits anklingt, bei Funke aber weitaus elaborierter dargelegt wird, so dass sich hierbei ein metafiktives Spiel ergibt, das um die Frage nach der Autorschaft und der Rolle des Lesers kreist.
Inhalt
Hauptfiguren des ersten Bandes, der 59 Kapitel umfasst, sind die zwölfjährige Meggie und ihr Vater Mortimer Folchart, genannt Mo, der als Buchbinder arbeitet. Die Handlung, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts spielt, wird von verschiedenen Erzählern vorgetragen, die von Kapitel zu Kapitel wechseln. Meggies Mutter Teresa, genannt Resa, ist angeblich bei einer Abenteuerreise verschollen. Die Handlung setzt mit dem Auftauchen eines Fremden namens Staubfinger ein, der Mo vor einem gewissen Capricorn warnt. Daraufhin fliehen Mo, Meggie und Staubfinger mit dem Buch „Tintenherz“ zu Meggies Tante Elinor. Dennoch werden sie von Capricorns Männern aufgespürt, die Mo entführen. Als Tausch gegen ihn bieten Meggie und Elinor das Buch an, werden aber von Staubfinger verraten und ebenfalls gefangen genommen. Mo offenbart nun Meggie seine ihr gegenüber bisher geheim gehaltene Gabe: er sei in der Lage, Figuren und Gegenstände aus Büchern herauszulesen, dafür würden aber Menschen aus der Realwelt in der Bücherwelt verschwinden. Aus „Tintenherz“ habe er einst Staubfinger, Capricorn und Basta herausgelesen, dafür seien im Gegenzug seine Frau und zwei Katzen im Buch verschwunden. Capricorn hat alle Exemplare von „Tintenherz“ – bis auf dasjenige im Besitz von Mo – vernichten lassen, damit er nicht in die Tintenwelt zurückgelesen werden kann. In der Nacht werden sie von Staubfinger befreit und entfliehen. Sie suchen Fenoglio, den Autor von „Tintenherz“ auf, der aber kein Exemplar des Buches mehr besitzt. Fenoglio und Meggie werden von Basta entdeckt und in Capricorns Dorf zurückgebracht. Zufällig entdeckt Meggie, dass sie über dieselbe Gabe wie ihr Vater verfügt. Als dies Capricorn zu Ohren kommt, verlangt er von Meggie, dass sie ihm einen „Schatten“ aus „Tintenherz“ herauslesen soll. Fenoglio weiß um die bösen Eigenschaften des Schattens (er tut alles, was ihm Capricorn befiehlt) und schreibt eine neue Version der entsprechenden Episode. Zugleich versucht Staubfinger, mithilfe der Magd Resa, die sich später als Meggies Mutter entpuppt, das letzte „Tintenherz“-Exemplar zu stehlen. Beide werden ertappt und eingekerkert. Meggie gelingt das Herauslesen des Schattens, der aber Capricorn und seine Männer tötet oder in die Flucht treibt. An seiner Stelle ist jedoch Fenoglio in der Tintenwelt verschwunden. Die Familie Folchart versammelt sich mit Staubfinger, Farid und anderen Tintenweltbewohnern im Haus von Elinor, um die von Capricorns Männern zerstörte wertvolle Bibliothek wiederaufzubauen.
Inhaltder Nachfolgebände
Ein Großteil der Handlung des zweiten und dritten Bandes spielt in der Tintenwelt, nachdem Meggie, Mo und zwei weitere Personen namens Darius und Orpheus sich und andere Figuren in die Tintenwelt gelesen haben. Sie erleben dort zahlreiche Abenteuer, wobei sich Staubfinger auf die Seite von Mo und Meggie stellt. Fenoglio entgleitet die Macht über die von ihm geschaffene Tintenwelt, die ein zunehmendes Eigenleben entwickelt, immer mehr. Nach vielen Verwicklungen entschließen sich alle, in der Tintenwelt zu bleiben. Der dritte Band schließt mit einer Prolepse: Meggie weiß durch Fenoglio, dass sie in einigen Jahren den Erfinder Doria (eine Figur aus einer unveröffentlichten Geschichte Fenoglios) heiraten wird, während ihr kleiner, in der Tintenwelt geborener Bruder plant, später in die fiktive Realwelt zurückzukehren.
Phantastischer Kinderroman
Bei der Tintenwelt-Trilogie handelt es sich um phantastische Romane, in denen sich zwei Welten gegenüberstehen, so dass ein „offenes“ Weltkonzept vorliegt (im Gegensatz zu den geschlossenen Welten, die viele High Fantasy-Romane wie J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings (Der Herr der Ringe, 1954/55; dt. 1983), aber auch einige phantastische Kinderromane, z.B. Tove Janssons Mumin-Bücher (1945ff.), auszeichnet). Die „primäre“ Welt stellt eine fiktive Welt dar, die der realen Welt gleicht und durch Naturgesetze bestimmt wird, während die „sekundäre“ Welt eine magische Welt repräsentiert, die von der primären Welt durch eine Grenze abgetrennt ist. Diese Grenze kann materiell durch eine Tür, einen Schrank oder andere Übergänge markiert sein, sie kann aber auch immateriell durch einen Traum oder einen Zeitsprung überschritten werden (Nikolajeva 1988). Die Funktion der Schwelle bzw. des Übergangs übernimmt in Funkes Roman das Buch bzw. die gedruckten Wörter in Kombination mit einem Vorleser, der die Begabung des Herauslesens besitzt. Auf diese Weise gelangen Figuren der Primärwelt in die Sekundärwelt und umgekehrt. In den Tintenwelt-Büchern gibt es sowohl lineare Bewegungen (eine Figur, etwa Capricorn, verlässt die Sekundärwelt, kehrt aber nicht mehr in diese zurück), zirkuläre Bewegungen (eine Figur reist von einer Welt in die andere und kehrt wieder in die erste Welt zurück; dies trifft u.a. auf Staubfinger und Basta zu) sowie schleifenförmige Bewegungen (eine Figur, wie etwa Teresa, pendelt mehrmals zwischen beiden Welten). Mit Farid gibt es darüber hinaus noch eine Figur, die zwei verschiedene sekundäre Welten betritt (1001 Nacht und Tintenwelt). Im dritten Band kommt mit der Unterwelt noch eine weitere phantastische Welt hinzu, die aber nur über die Tintenwelt betreten werden kann und folglich den Status einer tertiären Welt erlangt.
Das „Herauslesen“ als phantastische Eigenschaft
In die primäre Welt bricht das Phantastische in Form übernatürlicher Wesen („der Schatten“) oder Figuren aus der Sekundärwelt herein. Die wunderbare Fähigkeit, Figuren aus Büchern herauszulesen, besitzen der Buchbinder Mo, seine Tochter Meggie, der Vorleser Darius und Orpheus (der allerdings erst im 2. Band auftaucht), wobei beim Herauslesen einer Gestalt oft eine andere Figur aus der eigenen Welt in der Buchwelt verschwindet. Später gelingt es Darius, Resa aus der Tintenwelt herauszulesen, allerdings vollzieht er diese Aufgabe so stümperhaft, dass Resa stumm bleibt. Mo liest Unmengen von Gold aus Robert Louis Stevensons Kinderklassiker Treasure Island (Die Schatzinsel, 1883; dt. 1897), um die Geldgier von Capricorn zu befriedigen, und Meggie liest zunächst zwei Figuren aus klassischen Kinderbüchern heraus: die Fee Tinker Bell aus James Matthew Barries Peter Pan (1911; dt. 1948) und den Zinnsoldaten aus Hans Christian Andersens Märchen „Der tapfere Zinnsoldat“ (1835), bevor sie auf Geheiß Capricorns den unheimlichen Schatten aus „Tintenherz“ herausliest.
Alternierender Wechsel zwischen zwei Welten
Während die sekundäre Welt im ersten Band der Trilogie nicht detailliert beschrieben wird und auch nicht Setting der Romanhandlung ist, spielen die beiden nachfolgenden Bände alternierend in der primären Welt und in der Tintenwelt. Folglich kann der erste Band als implizite Form des Zwei-Welten-Modells beschrieben werden, weil die sekundäre Welt nur durch die daraus entsprungenen Figuren, die Beschreibung Resas und die Textauszüge, die von Meggie vorgelesen werden, vertreten ist. In die Tintenwelt erhält der Leser im ersten Band folglich nur Einblick durch Berichte von Figuren, die aus ihr stammen Die Primärwelt wird dagegen von den Figuren, die in der Sekundärwelt leben oder dorthin wechseln, zunehmend als Parallelwelt empfunden, die Züge einer phantastischen Welt annimmt. Als eigenständige Welt tritt die Tintenwelt erst ab dem zweiten Band zutage, wobei die Topographie durch detaillierte Schilderungen und beigefügte, von Cornelia Funke gezeichnete Karten vermittelt wird – während es keine Karte der Primärwelt gibt. Die Landschafts- und Kleinstadtbeschreibungen der primären Welt evozieren ein südliches Land, für das die Küstenregion Ligurien in Nordwestitalien Pate gestanden hat. Die phantastische Tintenwelt ähnelt einer vormodernen mittelalterlichen Welt, die von Fabelwesen (Kobolde, Feen, Drachen), Rittern, fahrenden Spielleuten und armen Bauern bevölkert ist, mit Anklängen an die englische Schauerromantik und die grotesk-unheimlichen Darstellungen in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen. Durch diese Anleihen entsteht eine hybride Kunstwelt, die als ein Amalgam verschiedener literarischer Traditionen (High Fantasy, Märchen, Romantik, Gothic Novel) aufzufassen ist. Während zu Beginn des zweiten Bandes in den Kapiteln noch alternierend von den Ereignissen in beiden Welten berichtet wird, nimmt die Anzahl der Kapitel, die in der Tintenwelt spielen, kontinuierlich zu. Dies hängt auch mit der wachsenden Anzahl der Figuren zusammen, die von der primären in die sekundäre Welt wechseln. Der dritte Band enthält dann auch nur noch vier (von 81) Kapitel, die in der primären Welt spielen, deren Geschehen ausschließlich aus der Perspektive Elinors berichtet wird. Mit ihr und Darius wechseln die letzten Figuren aus dem ersten Band in die Tintenwelt über, so dass am Ende der Trilogie die Tintenwelt im Fokus steht, während die primäre Welt jetzt als Spiegelung wahrgenommen wird, von der Figuren wie etwa Meggies neugeborener Bruder nur durch Erzählungen erfahren.
Darstellung einer weiblichen Initiation
Die Tintenwelt-Bücher stehen nicht nur in der Tradition der literarischen Phantastik, sondern können auch – in Anlehnung an Überlegungen von Peter Freese zum Initiationsroman in der amerikanischen Literatur – als Darstellung einer weiblichen Initiation gedeutet werden. In der Anthropologie wird die Initiation als Übergang von der Kindheit zur Adoleszenz und dem späteren Erwachsenendasein verstanden (Freese 1971). Diese Initiation, der in der Regel eher männliche Jugendliche unterzogen werden, ist mit bestimmten Ritualen (Absonderung von den Erwachsenen, Namenswechsel, Einweisung durch einen Mentor, Verleihung einer Gabe oder eines besonderen Gegenstandes, Kleiderwechsel, usw.) verknüpft und zerfällt in drei Phasen (Ausgang, Übergang, Eingang). Die Ausgangsphase wird häufig durch den Verlust von mindestens einem Elternteil bestimmt. Die Übergangsphase schildert den Wandel vom Kind bzw. Jugendlichen zum Erwachsenen, exemplifiziert in Initiationsprüfungen, die den Charakter von Abenteuern annehmen können. Die Eingangsphase ist oft mit einer Rückkehr an den Ausgangsort verbunden und stellt heraus, dass der Initiand zur Selbsterkenntnis gelangt ist und seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat. Die Entwicklung Meggies kann vor diesem Hintergrund als Initiation eines Mädchens interpretiert werden. Ihre einzelnen Abenteuer lassen sich als Initiationsprüfungen lesen, an deren Ende die Ablösung vom Vater und die Hinwendung zu Doria besteht. Ihr Wandel, der zugleich mit einer Reise einhergeht (Reise zu Elinor und in Capricorns Dorf, später Reise in Fenoglios Dorf und in die Tintenwelt, Abstieg in die Unterwelt als Symbol für den descensus ad inferos und Rückkehr in die Tintenwelt), kann als Weg von kindlicher Naivität und Unschuld zur Erfahrung, versinnbildlicht in der Ich-Erkenntnis (Individuationsprozess) und in der Einsicht in die komplexen gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Verhältnisse (Sozialisationsprozess), beschrieben werden. Der erste Schritt in diesem Initiationsprozess ist die Erkenntnis des Bösen und die Beobachtung der Fehlbarkeit der Erwachsenen. Daraus ergibt sich in einem weiteren Schritt die Entdeckung ihrer besonderen Gabe (Fähigkeit des Herauslesens), die Meggie – im Gegensatz zu Mo – in den Dienst der Mitmenschen stellen möchte. Fenoglio fungiert hierbei als ihr Mentor, der sie bei ihrem Vorhaben, in das Geschehen aktiv einzugreifen, unterstützt. Mit dem Verlust ihrer Naivität geht ihr Engagement für die Belange der Mitmenschen einher. Ein wichtiger Schritt ist schließlich die Begegnung mit dem Tod. Meggie muss sich mehrfach bewähren und durchläuft dabei mehrere Stufen, als deren letzte Etappe der Gang in die Unterwelt anzusehen ist. Meggie wird hierbei mit mannigfachen Gefahren konfrontiert. Sie reift dadurch zur jungen Frau (auch versinnbildlicht in der Abkehr von Farid und Hinwendung zu Doria). Auf diese Weise gelangt sie zur Selbst-Erkenntnis und entwickelt eine eigene Identität, die den Ablösungsprozess vom Vater begleitet. Der Initiation Meggies wird zudem eine politische Dimension verliehen, indem indirekt auf den Faschismus hingewiesen wird (Capricorns Kleidung und diktatorisches Verhalten weist zahlreiche Parallelen zu faschistischen Machtstrukturen auf). Initiation erscheint hier als die Emanzipation von totalitären Strukturen und der Befreiung von dem Machteinfluss von Führergestalten. So stellt sich Meggie trotz ihrer Angst der Konfrontation mit Capricorn. Sie überzeugt Fenoglio davon, die Geschichte von „Tintenherz“ umzuschreiben, um die verheerenden Folgen der Beschwörung des Schattens zu verhindern. Mit dem Herauslesen des Schattens übernimmt sie zugleich die Verantwortung für Resa und alle Dorfbewohner, im Vertrauen auf ihre Kräfte und die Fähigkeit Fenoglios, der Geschichte nachträglich eine andere Wendung zu geben.
Das Motiv des ewigen Kindes
Meggie stellt somit einen Gegenpol zu der Figur des ewigen Kindes, das nicht erwachsen werden und sich folglich auch nicht ändern will, dar. Dieses Kindheitsbild, das auf das Kindermärchen Das fremde Kind (1817) von E.T.A. Hoffmann zurückgeht, hat im 20. Jahrhundert in Peter Pan (1911; dt. 1948) von James Matthew Barrie seinen sinnfälligen Ausdruck gefunden. Peter Pan ist das Symbol des ewigen und unsterblichen Kindes, das mit seinen Gefährten im Niemandsland, zu dem nur Kinder Zutritt haben, lebt. Ausgestattet mit der Fähigkeit des Fliegens und der Gabe, die Sprache der Tiere und Elfen zu verstehen, befindet sich Peter Pan in einer immerwährenden Auseinandersetzung mit Piraten und Indianern, ohne dass es zu gravierenden Änderungen in seiner Weltsicht und Lebensweise kommt. Dass diese Kindheitsvorstellung, die der Entwicklung Meggies konträr gegenübersteht, subtextuell das Geschehen begleitet, ist auch daran ersichtlich, dass immer wieder Anspielungen auf Barries Roman eingefügt werden.
Postmodernes Erzählen
Nicht nur der Aspekt der Initiation, des Erzählerwechsels und der offene Schluss deuten darauf hin, dass Funke sich darum bemüht, Aspekte postmodernen Erzählens in ihre Trilogie aufzunehmen. Hierzu zählen Intertextualität, Metafiktionalität, Selbstreferenz und die Bedeutung der Paratexte, die den Haupttext rahmen, unterbrechen und kommentieren. Jeder Band hat eine vorangestellte Widmung und ein Motto, entweder in Form eines Gedichtes oder eines Zitates. Außerdem werden jedem Kapitel eine Überschrift und ein Motto, die durch Vignetten voneinander abgetrennt sind, vorangestellt. Hierbei handelt es sich in der Regel um Zitate aus bekannten Werken der Weltliteratur für Erwachsene und für Kinder, die sich auf den Haupttext beziehen und bestimmte Ereignisse vorausdeuten. Zu den Paratexten gehören auch die beiden Karten der Tintenwelt am Ende des zweiten und dritten Bandes sowie die gelegentlich in den Text eingefügten Illustrationen der Autorin, die immer am Ende eines Kapitels platziert sind. Im Anhang der drei Bände befindet sich ein Quellenverzeichnis aller in den Motti und Widmungen verwendeten Zitate. Die Widmung des ersten Bandes ist nicht nur eine deutliche Referenz auf Tolkiens Herr der Ringe-Trilogie, sondern greift durch die Anordnung der Zeilen in Form einer Sanduhr auf einen Topos des Barock zurück. Die Sanduhr als Symbol der Vergänglichkeit deutet darauf hin, dass die Todes-Thematik ein Leitmotiv der Trilogie darstellt (Bösewichter wie Capricorn und der Natternkönig werden getötet; Staubfinger opfert sich für Farid; Farid wird durch Orpheus wieder zum Leben erweckt; Mo und Meggie gehen in die Unterwelt; der Tod alias „Die große Wandlerin“ tritt als Figur im dritten Band auf usw.).
Selbstreferentialität
Viele Motti befassen sich mit dem Konzept der Selbstreferenz, sei es durch Begriffe wie „Buch“ oder „Lied“ oder die Thematisierung des Lesens und Reflektierens über die Bedeutung von Geschichten. Im Verlaufe der drei Bände nehmen die markierten intertextuellen Bezüge ab. Dies korreliert mit der wachsenden Entfremdung von Mo und Meggie. Während Mo unter dem neuen Namen „Eichelhäher“ sich auf die Seiten der Armen und Unterdrückten stellt, quasi eine Art Robin Hood in der Tintenwelt darstellt, emanzipiert sich Meggie von ihrem Vater und wird erwachsen.
Intertextualität
Die wichtigsten Prätexte, die in allen drei Bänden vorkommen, sind die Metamorphosen des Ovid, hier besonders der Mythos von Orpheus und Eurydike, und Peter Pan von James Matthew Barrie. Darüber hinaus werden u.a. Zitate aus Werken von Bertolt Brecht, George Eliot, Ted Hughes, Astrid Lindgren, Friedrich Nietzsche, Philip Pullman, Arthur Rimbaud, Friedrich Schiller, Isaac Bashevis Singer, Robert Louis Stevenson, Mark Twain, Oscar Wilde und Marcus Zusak eingefügt. Diese Zitate antizipieren oder kommentieren die Handlung, verweisen auf eine weitere Sinnebene des Geschehens und betten die Trilogie in einen bildungsbürgerlichen Kontext ein, der von den Lesern eine gewisse Vertrautheit mit den genannten Quellen und Kennerschaft voraussetzt. Darüber hinaus strebte Funke mit der Integration ihrer Lieblingsschriftsteller und -werke an, ihre Leser dazu anzuregen, die genannten Bücher als potentielle Lektüre ins Auge zu fassen. Neben diesen markierten intertextuellen Hinweisen finden sich in der Trilogie zahlreiche unmarkierte intertextuelle Textpassagen, die sich nur dem kundigen Leser erschließen. Ein signifikantes Beispiel ist der Schlusssatz der Abenteuerhandlung im dritten Band: „Und alles war gut“ (718). Dieser Satz ist eine deutliche Referenz an den letzten Band des Harry Potter-Zyklus Harry Potter and the Deathly Hallows (Harry Potter und die Heiligtümer des Todes (2007; dt. 2007), der mit der Aussage „All was well“ („Alles war gut“) endet. Zugleich bezieht sich diese Formulierung auf die biblische Schöpfungsgeschichte, wenn im ersten Buch Mose ausgesagt wird, dass Gott feststellt, dass „es [d.i. die Schöpfung] gut war“.
Mythos von Orpheus und Eurydike
Obwohl zahlreiche antike Mythen in den Text verwoben sind, spielt der Mythos von Orpheus und Eurydike die zentrale Rolle (Heber 2010). Eine Figur namens Orpheus tritt im Roman auf, die nicht nur über die Gabe des Hinauslesens von Figuren verfügt, sondern neben Fenoglio auch als Autor von „Tintenherz“ fungiert. Vom ersten Band an lassen sich immer wieder Analogien zum Orpheus-Mythos ermitteln, wobei die Rolle der antiken Figuren Orpheus und Eurydike von Mo und Resa übernommen wird. Die enge Verknüpfung wird auch durch die Kürzel „Mo“ angedeutet: diese Buchstaben verweisen auf den Mythos Orpheus, die Metamorphosen Ovids und den Kurznamen von Mortimer, so dass auch durch dieses Wortspiel betont wird, dass Mo der wahre Orpheus ist. Im Gegensatz zu dem Adepten Orpheus greift er tatkräftig in das Geschehen ein und rettet damit die Tintenwelt. Der intertextuelle Bezug enthüllt sich bei genauerer Lektüre: Mythos und Tintenwelt-Trilogie handeln von der Macht der Dichtung und Liebe. Zugleich wird die Einsicht vermittelt, dass man den Tod nicht durch Worte bezwingen kann und dass es nicht möglich ist, Verstorbene aus dem Totenreich zurückzuholen (Heber 2010). Darüber hinaus zeigen sich Analogien zu den Metamorphosen des Ovid durch die Doppelbesetzung von Rollen (Fenoglio und Orpheus als Autoren von „Tintenherz“, Mo und Darius als Vorleser aus der primären Welt usw.), aber auch durch den Wandel einzelner Figuren, der sich u.a. im Namenswechsel andeutet. So heißt Mortimer in der primären Welt „Mo“, in der sekundären Welt wird er wegen seiner Fähigkeit zunächst „Zauberzunge“ genannt, später erhält er den Namen „Eichelhäher“, als er sich dem Widerstand gegen den Natternkönig anschließt.
Bedeutung der Metalepse
Durch den ständigen Verweis auf das Buch „Tintenherz“, aus dem Figuren herausgelesen werden, und seinen Autor Fenoglio, der zugleich Figur in Funkes gleichnamigen Roman ist, wird eine Metalepse geschaffen. Der Leser hält selbst ein Buch mit dem Titel „Tintenherz“ in Händen und erfährt von dem geheimnisvollen Buch „Tintenherz“, aus dem Figuren in die primäre Welt wechseln können. Auch die Beschreibung des roten Einbandes und des Layouts weist gewisse Analogien zur Buchedition auf. Die grotesken Initialen, mit denen die Kapitel in dem beschriebenen Buch anfangen, sind allerdings in der beim Verlag Dressler erschienenen Edition alle auf dem Buchcover abgedruckt, während die Kapitelinitialen aus fett gedruckten Buchstaben, gerahmt von grotesken Figuren, bestehen. Durch diese Selbstreferenz entsteht ein komplexes Netz aus intertextuellen und intratextuellen Anspielungen, die den Leser zugleich anregen, über die Entstehung einer Geschichte zu reflektieren. Der Topos vom „Buch im Buch“ trägt durch die wechselseitigen Spiegelungen und Parallelismen zur Selbstreferentialität und zum metafiktiven Charakter der Tintenwelt-Trilogie bei. Des Weiteren wird mit den Buchtiteln darauf hingewiesen, dass die dargestellte Welt auf einer Fiktion, die mithilfe von Tinte auf Papier niedergeschrieben wurde, beruht. Die Metapher der „Tinte“ durchzieht das gesamte Werk, wobei den drei Begriffen „Herz“, „Blut“ und „Tod“ auch innerliterarisch eine wichtige Bedeutung zugeschrieben wird. Im dritten Band gelingt es Mo, den Tyrannen Natternkopf dadurch zu besiegen, dass er in ein leeres Buch, Symbol der Seelenlosigkeit des Herrschers und zugleich Zeichen seiner Unsterblichkeit, diese drei Worte mit Tinte hineinschreibt. Die Faszination des Bösen, symbolisiert in Capricorn und Natternkopf, ist ein weiteres Leitmotiv der Trilogie. Beide Figuren bauen einen Machtapparat auf und vertreten eine Ideologie, die deutliche Analogien zum Faschismus aufweist. Sie terrorisieren ihre Umgebung und erzeugen ein Klima von Angst und Schrecken. Die Bedrohlichkeit von Capricorn wird nicht nur durch seine schwarze Kleidung, seine heisere Stimme und seine grausamen Taten, sondern auch durch die Furcht vor dem „Schatten“, der allein Capricorn gehorcht, forciert. Diese Konstellation kann einerseits als Hinweis auf das Verhältnis von Tengil und Katla in Astrid Lindgrens Bröderna Lejonhjärta (Die Brüder Löwenherz, 1974; dt. 1974), andererseits als Anspielung auf den Schatten, der die Hauptfigur Ged bedroht, aus Ursula Le Guins A Wizard of Earthsea (Der Zauberer von Erdsee, 1968; dt. 1986) verstanden werden, zumal beide Werke in der Tintenwelt-Trilogie zitiert werden.
Der Autor als Schöpfer
Obwohl Fenoglio zunächst stolz auf sein Produkt und die von ihm erdachten Figuren ist, entgleitet ihm die Macht über diese immer mehr. Bereits im ersten Band unternimmt er zwar den Versuch, den Gang der Geschichte in Zusammenarbeit mit Meggie zu ändern, allerdings zeigen die vorgenommenen Änderungen nicht immer die gewünschte Wirkung. Fenoglio ist zwar Erfinder der Tintenwelt, jedoch als Teil von ihr nicht mehr in der Lage, den Verlauf der Ereignisse vollständig zu lenken. In der Tintenwelt, wo er sich als Dichter und „Tintenweber“ betätigt, verfällt er aufgrund dieser Einsicht in Depressionen und spürt seine Ohnmacht angesichts der Bestrebungen der Figuren, sich von ihm als ihrem Schöpfer loszusagen und ein Eigenleben zu entwickeln. Durch Orpheus erhält er noch einen Konkurrenten, denn dieser ist bestrebt, das Werk Fenoglios in seinem Sinne umzuschreiben, so dass das Buch „Tintenherz“ nunmehr von zwei Autoren fortgeschrieben und verändert wird. Diese metafiktionalen Einschübe sind mit der Frage verbunden, ob man eine Handlung in der Zukunft ändern kann, wenn man die Möglichkeit besitzt, in die Vergangenheit bzw. Gegenwart einzugreifen. Diese Rolle maßt sich Fenoglio an, als er Teile seines Romans umschreibt, um den Gang der Handlung in der Primärwelt zu beeinflussen. Allerdings entsprechen die sich daraus ergebenden Änderungen nicht den erwarteten Ergebnissen und demonstrieren demzufolge, dass Menschen, in diesem Falle Künstler, nicht die Allmacht besitzen, über das Verhalten und Innenleben anderer Menschen, selbst wenn diese zunächst nur erdacht sind, zu verfügen. Insofern können die entsprechenden Passagen als Aussagen über die Verantwortung des Künstlers und die weltverändernde Funktion von Kunst gedeutet werden. Durch die Lektüre bzw. das Vorlesen erhalten die Figuren individuelle Züge, die ihnen nicht vom Autor als ihrem Schöpfer zugedacht waren, die ihnen aber von den Lesern als Rezipienten zugeordnet werden. Mit diesem Gedankenspiel verweist Funke auf das Phänomen, dass eine literarische Figur im Prozess der Lektüre einem Wandel unterliegt und dass sie von verschiedenen Lesern auch unterschiedlich wahrgenommen werden kann.
Die Tintenwelt-Trilogie als Crossover Literatur
Funkes Erfolg lässt sich nicht allein mit Verweis auf den Boom phantastischer Literatur im Gefolge der Harry Potter-Bände (1998ff.) von Joanne K. Rowling erklären. Das Besondere an der Tintenwelt-Trilogie besteht darin, dass die Autorin nicht nur ein Werk verfasst hat, das sich in der Tradition der Crossover Literatur sowohl an Kinder als auch Erwachsene richtet, sondern auch mit narrativen Strategien arbeitet, die man als Charakteristika postmodernen Erzählens ansieht. Hierzu gehören Intertextualität, Bedeutung der Paratexte, Metafiktion, Selbstreferentialitat, offenes Ende durch Prolepse sowie der Topos vom „Buch im Buch“, der eine Metaebene schafft. Dadurch weist die Trilogie eine Vielschichtigkeit auf, die zu immer neuen Deutungen und Re-Lektüren einlädt.