Als mir Matrice, der falsche Arzt, die Hand geschüttelt hatte, hatte er mir nicht nur die Finger gequetscht, sondern auch tief in die Armbeuge geblickt. Da sind winzige Narben. Spuren. Sie stammen von mehreren Infusionen, die ich während einer langen Krankheit in meiner Kindheit bekommen hatte (die anderen verstecke ich), aber woher hätte er das wissen sollen?
Er grinste dreckig.
Allein wegen seines Grinsens hoffte ich schon, ihn lebenslänglich hinter Gitter zu bringen. Es war das Feixen eines Raubtiers, das potenzielle Beute vor sich sieht.
Aber er wusste nicht, mit wem er es zu tun bekam.
Ich leider schon.
Nachdem wir bestellt hatten, entschuldigte ich mich und humpelte mit meinem Stock und den schicken neuen Stiefeln zur Damentoilette. Glücklicherweise war’s ein Einsitzer – unmöglich, dass jemand mithörte. Ich schloss die Tür von innen und lehnte mich dagegen, holte ein paar Mal tief Luft. Dann drehte ich das Wasser in dem schicken, durchgestylten Becken auf.
Und rief Roger an.
»Hast du gehört, wen sie mitgebracht hat?«, fragte ich, als ich seine Stimme hörte. Ich versuchte, weder zu quietschen noch zu kreischen.
»Wer ist da?«, fragte er.
»Sehr witzig, du Arschloch. Ich sitze beim Lunch mit den beiden gefährlichsten Menschen der Welt!«
»Keine Sorge, es gibt gefährlichere Menschen auf der Welt als Do Matrix.«
»Verfluchte Scheiße!«
»Reg dich ab! Du weißt, dass wir dich beobachten lassen.«
»Wieder von der Drag Queen? Sehr beruhigend. Matrix erkennt den doch sofort.«
»Nein, von sehr unauffälligen jungen Kollegen. Ruf mich an, wenn die ihre Jobs nicht machen.«
»Was?«
»Du weißt schon, wenn sie den Kübel fallen lassen, mit dem sonst die Hilfskellner rumgehen, oder dich den Wein nicht erst probieren lassen, bevor sie dir ein Glas einschenken.«
»Himmelherr-… Roger, es ist ernst.«
»Hör mal, die wollen rauskriegen, was du weißt. Die können dich ja nicht vor den ganzen hohen Tieren da umbringen und sie bei ihren Geschäftsessen stören. Außerdem hören wir mit. Du hast Verstärkung. Spiel einfach wie abgesprochen mit, dann wird alles gut.«
»Na schön. In Ordnung.«
»Übrigens, das markierte Geld? Sehr zu meinem Erstaunen hat das Betrugsdezernat den Einsatz sogar rechtzeitig genehmigt. Jemand bringt die Scheine auf die Bank, bevor ihr da ankommt. Das ist schon mal super.«
Mein Spinnensinn ergänzte das blanke Entsetzen, das Rachmaninow auf meinem schaudernden Rücken spielte, um ein zusätzliches Prickeln.
»Was ist? Da ist doch noch was, oder?«
»Äh, nicht in dem Sinne. Ich kümmere mich schon darum.«
»Verkauf mich nicht für blöd, Roger!«
»Äh, na ja, ist nur … äh, anscheinend hatte Cummings Ermittlungen gegen Matrice angestrengt. Und plötzlich ging es über Funk kreuz und quer – unsere Undercover-Jungs sind mit seinen da in der Kirche übereinandergestolpert. Und auf der Straße. Wir sind im Büro vom OIC und klären das.«
»Du meinst, zurzeit herrscht das totale Oberchaos bei euch.«
»Wir arbeiten …«
»Und jemand lauscht am Ende der Leitung bei dir mit, deshalb versuchst du deinen Arsch zu retten.«
»Wir sind beide in einer Live-Übertragung, du Idiotin. Aber ich hab sie schon gewarnt, wegen deiner Ausdrucksweise. Und eigentlich sollte das kein Problem sein … unsere Jungs sind für dich da, egal was Cummings macht …«
»Oh Mann, verdammte Scheiße.« Ich schüttelte das Telefon, bis das Display aufleuchtete und ich den kleinen roten Punkt gefunden hatte, um es abzuwürgen. Fast hätte ich das Telefon ins Klo geworfen, aber weil darüber alles zu dem Team im Transporter um die Ecke übertragen wurde, hielt ich mich zurück.
Die Wut hatte mir das Rückgrat gestärkt, aber ich kam mir trotzdem vor wie ein Star-Trek-Red-Shirt im Außeneinsatz. Ich drehte den Hahn an dem völlig bescheuert edel-designten Becken ab, hielt die stecknadelkopfgroße Kamera an meinem Schal zu, während ich die weniger aufwendig designte Toilette benutzte und die Spülung betätigte, mir die Hände in dem zwar stylischen, aber kaum benutzbaren Becken wusch und zum Trocknen durchs Haar fuhr, um meinen »frischgefickt« Gel-Look aufzupeppen.
Ich kam zurück an den Tisch, entschuldigte mich hauchend im Panda-Style und fand die Vorspeise bereits serviert: zweimal Ziegenkäse mit Ahornsirup und andere Kleinigkeiten, die mir von einem dreieckigen Teller im Zentrum der aus Bambus und Leinen geflochtenen Platzdecke entgegenstarrten.
»Ach, herrlich!«, sagte ich. »Eine gute Empfehlung, Panda! Ich liebe appetitlich angerichtete Speisen.« Ich versuchte das ausdruckslose, anklagende Starren in ein schützendes Beobachten zu verwandeln, aber weil das nicht funktionierte, nahm ich die kleine Gabel, schnitt einen Keil aus einem Auge, so dass das Gesicht zwinkerte, wandte mich an Dominic und sagte fröhlich: »Also! Sind Sie auch beteiligt an diesem wundervollen Wohnbauprojekt von Panda?«
»Nur in beratender Funktion. Panda hat mich gebeten, ihr in Hinblick auf Suchtkrankheiten Empfehlungen auszusprechen. Bevor ich meine Wellnesskliniken ins Leben rief, habe ich als Arzt mit Suchtkranken gearbeitet. Jetzt bin ich zu stark mit Verwaltungsangelegenheiten befasst, um noch aktiv zu praktizieren.«
Hübsch formuliert, dachte ich: Immer gut, nicht zugeben zu müssen, dass man die Zulassung entzogen bekam oder wie auch immer das bei Ärzten heißt. Du wirst so was von erledigt sein, du schmieriges Ekelpaket …
Keil aus dem anderen Käseauge geschnitten: Jetzt guckte es hinterhältig.
»Ich weiß, was Sie meinen. Seit meiner Erbschaft kommt es mir vor, als wäre ich nur noch mit der Verwaltung des ganzen Geldes beschäftigt, das ist ein Vollzeitjob. Sie wissen ja, die meisten halten Reichsein für ein Kinderspiel. Aber tatsächlich bringt es große Verantwortung mit sich.« Panda sah mich erwartungsvoll an, klebte an jedem meiner Worte. Sie lächelte herzlich, als hätte sie gerade eine neue Freundin gefunden. Sie war wirklich schön, auf entsetzlich geordnete Art, und ich erinnerte mich an Tammy’s Boys und Bi’s. Mir fiel wieder ein, dass sie von Jian und mir wusste. Offensichtlich ließ sie ihre weiblichen Reize bei mir spielen. Dachte sie. Aber da kannte sie mich schlecht.
»Wissen Sie, bis vor einem Jahr war ich Sozialarbeiterin. Ich war sehr eingebunden als Interessenvertreterin der Armen und anders Begabten, und Wohnungen waren immer ein großes Problem. Wenn die beklagenswerten Ereignisse der vergangenen Wochen ein Gutes hatten, dann dass ich auf M2F2 aufmerksam geworden bin. Und ich Sie bei der Veranstaltung neulich kennenlernen durfte – das war für mich wie eine Botschaft. Hier ist jemand, dem wirklich etwas daran liegt und der wirklich etwas mit Geld bewegt. Ich kann viel von Ihnen lernen.«
»Na ja, einiges davon ist Laszlos Geld«, sagte sie bescheiden. »Ich trage nur die Leitlinien bei? Aber wirklich, selbst jemand, der so vermögend ist wie Laszlo, man kann als Einzelperson gar nicht genug geben, um das Problem zu lösen – es sei denn, man ist Bill Gates. Es muss schon eine gemeinschaftliche Anstrengung sein. Privates und öffentliches Geld. Ein Zusammenwirken.« Demonstrativ verschränkte sie ihre Krallen.
So wie es einem immer lieber ist, wenn man die Schlange sieht, statt dass sie sich im Unterholz versteckt, gefiel mir Panda besser, als sie ihre falsche Tussenintonation abstellte. Jetzt klang sie schlau genug für eine Hochstaplerin.
»Ich weiß, ich kann nicht so viel beisteuern, wie ich möchte, aber sofern es zu diesem Zusammenwirken kommt, werde ich mit dem, was ich geben kann, sehr viel Gutes bewirken. Mein Vermögen ist größtenteils noch testamentarisch gebunden! Das macht mich verrückt. Ich lebe aus meinem Tresorfach!«
»Wie um Himmels willen meinen Sie das?«
»Nun, wie sich herausstellt, haben meine Eltern ein Tresorfach auf meinen Namen eingerichtet. Bevor sie … starben … haben sie mir den Schlüssel und den Namen der Bank geschickt. In dem Fach befanden sich anderthalb Millionen Dollar in bar. Der Nachlassrichter entschied, dass es sich um ein Geschenk vor dem Tod handelte und ich das Geld verwenden darf, solange ich darauf warte, dass der Hauptteil des Vermögens notariell freigegeben wird. Was gut ist, weil ich in diesem bizarren kleinen Apartment herumgehumpelt bin. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schmutzig das Treppenhaus dort ist, ich meine, pittoresk ist ja schön und gut, hippe Innenstadt und so weiter, aber wirklich … na egal. Auf jeden Fall stehen mir bereits jetzt einige Mittel zur Verfügung, nur handelt es sich dabei um Bargeld.«
»Bargeld?« Panda klang, als hätte sie noch nie welches in den Fingern gehabt.
»Ich fürchte, ja. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit mir zur Bank fahren würden, na ja, also genau genommen ist es die Genossenschaftsbank, die den Sparern gehört, wissen Sie? Das ist mir lieber. Wenn Sie mitkommen, übergebe ich Ihnen meine erste Zuwendung. Aber ich brauche natürlich eine offizielle Bestätigung durch M2F2 für die Steuer.«
»Also, ich habe den Quittungsblock dabei. Ich bin ja die Schatzmeisterin. Zufällig haben wir auch ein Konto bei der Genossenschaftsbank. Die sind sehr viel sozialer orientiert. Wir können es einfach direkt dort einzahlen, und ich gebe Ihnen die Quittung. Wir hatten noch nie eine Bargeldspende, aber solange alles nachvollziehbar dokumentiert ist, bin ich sicher, wird das auch seine Ordnung haben.«
Und das nur bei der Ziegenkäsevorspeise. Die restliche Zeit über hörten wir uns an, welche Ideen der liebe Dr. Matrice für seine Entzugsklinik hatte, seine Theorien über Suchtkrankheiten, die er mehr oder weniger wörtlich aus Dr. Gabor Matés Buch In The Realm Of Hungry Ghosts übernommen hatte. Einschließlich der Beispiele, leicht falsch zitiert.
»Einer meiner Klienten hat mir erklärt, er habe täglich Waren im Wert von 500 Dollar stehlen müssen, um die 100 Dollar zur Finanzierung seiner Sucht aufzutreiben. Durch einen einzigen Klienten in einer Einrichtung spart die Gemeinde pro Jahr 182500 Dollar, nur weil er nicht mehr stiehlt, um an Drogen zu gelangen. Das sind 183000 in einem Schaltjahr!«
Ich lachte pflichtschuldigst. Klang besser bei Dr. Maté, der ein genialer Mann und bemerkenswerter Vorkämpfer ist und kein schmieriger Krimineller, der mit seinem Drogenimperium auf genau diese Süchtigen und ihre Diebstähle baut. Heuchelei rules!
Ich widmete mich der Gaumenreinigung mithilfe eines Salats aus Tomate, Avocado und Kapern, der die vorangegangene scharfe Suppe von der Crème Brûlée zum Abschluss trennte. Mein Gaumen hatte es dringend nötig. Wenn ich nach Hause kam, würde ich auf jeden Fall duschen und den ganzen Blödsinn einfach abwaschen.
Doctor Faketrice hielt die Klappe, während der Kellner kam und unsere Crème Brûlées mit seinem kleinen Hobbybrenner karamellisierte. Wusstet ihr, dass Brandverletzungen die bei Kellnern häufigsten Verletzungen sind? Flambée, brûlée – alles gefährlich.
Im Vergleich zu meinen Begleitern wirkte der kleine Brenner allerdings harmlos.